Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2025 3 Aug.

„roll out“

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 5 Comments

 
 

a u d i o

 

[vier spuren nacheinander, nicht lange überlegt: wahwah, bassline, akzent-gitarre and finally the melody. auch beim titel das erstbeste, was mir in den sinn kommt. ich lass‘ es ein paar tage liegen (wie einen brotteig) und wenn’s mir dann gefällt, wird es (eventuell) gepostet]

 
 

 
 

Wohin balancieren wir? Die Medienwissenschaftler werden es uns nicht sagen, die sind zu beschäftigt mit ihren konträren Ansätzen über die Rolle der Post-post-Medien in der späten Postmoderne und der postmodernen Consumer. Irgendwie scheinen immer beide Parteien recht zu haben – das war früher auch einfacher.

Die Medienwissenschaftler Georg Seeßlen und Markus Metz äussern sich über die gegenwärtige Medienlandschaft in ihrem umfangreichen Werk Blödmaschinen – es geht um Medienprodukte, die Kommunikation, Urteilskraft und intellektuelle Betrachtung einschränken, einfache Narrative erschaffen und auf Stereotype eindampfen, um Aufmerksamkeit, Konsum oder Zusammenschluss zu erzeugen. Neoliberale Gesellschaftsstrukturen begünstigen diese Prozesse. Nun kommt einem das Ganze auch ein bisschen bekannt vor – die Gesellschaftstheorie der 60er Jahre beschäftigte sich ebenso mit Verdummungs- und Gleichschaltungsmechanismen von Presse und Fernsehen – der Rundfunk geriet damals bereits sehr ins Hintertreffen und beschäftigte sich eher mit Erhaltung von herkömmlicher Kultur. Das ist also im Prinzip nicht neu, wird von den Autoren aber ausgeweitet auf Popkultur, social media, digitale Plattformen, Blogs und Chatrooms und sicher noch einiges mehr, das mir jetzt nicht einfällt.

„Blödmaschinen“ erzeugen kollektive und individuelle Erregung, Like-Ökonomie (Ich werde wahrgenommen, also bin ich – kurz gesagt: Ich poste, also bin ich!), Algorithmenlogik (Ich bin die Summe dessen, was ich gepostet habe!) und kollektive Zoobesuche (Reality-TV; so blöd wie die da bin ich noch lange nicht!). Das geht nicht nur in die Verdummung, sondern in die Identität, es entsteht ein neues Konstrukt des „postenden“ Menschen (eine Art digitaler Avatar – oder sagen wir „homo posting“) im Netz, das durchaus eine Verwirrung erzeugen mag, wer man jetzt eigentlich noch ist. Das geht schon tiefer als die Machenschaften der Springerpresse, die sich auf Meinungsmanipulation beschränkte – was schon schlimm genug war. Auf diesen meines Erachtens qualitativen Sprung gehen die Autoren leider nicht ein, sie verbleiben auf der Ebene der mentalen Manipulation, wobei heutzutage das Ganze schon eine Entwicklung in psychiatrische Zustandsbilder nehmen kann.

Dem Rechnung tragen sie aber dann doch mit der Entwicklung einer Theorie der Regression ins Paranoide (was strenggenommen keine Regression ist sondern ein Projektionsvorgang beziehungsweise eine Umpolung unserer Wahrnehmung), erläutern das am Beispiel von Verschwörungstheorien, QAnon- und Querdenker-Bewegung und dergleichen, was wir inzwischen allzu gut kennen, Denksysteme, die durch Entwicklung neuer Kausalitäten (Hinter allem stecken die Reptiloide!) die Welt erklärbar machen und dadurch eine Scheingeborgenheit bieten.

Der Medienwissenschaftler Henry Jenkins teilt den Pessimismus Seeßlens & Co nun wieder nicht. Die Generation Tiktok sei kreativ, finde neue Algorithmen, remixe Narrative, sei imstande, sich sekundenschnell zu vernetzen, sehe die Kulturindustrie als ein Medium zur Bedeutungserschaffung, neuen Kämpfen und Teilhabe – die Macht ist nicht nur bei der Maschine, sondern auch beim User, man kann auch einen flashmob für sinnvolle politische Organisationen kreieren. Vernetzung ist die neue Waffe der GenZler, die alle Codes im Netz kennen. Seeßlen und Metz glauben hingegen nicht an die Schwarmintelligenz der Usergeneration und würden höchstens erwidern, dass sie diese dann zu antisemitischen Aufmärschen nutzen würden. Und dass die Maschinen nicht an mündigen Bürgern interessiert wären, sondern lediglich an Reichweite. Und Kohle natürlich, für die, die immer schon welche zu machen verstanden und sich auch hier wieder mit reinhängen.

Was die Medienkritiker betrifft – vermutlich haben beide recht (und beziehen sich nur auf unterschiedliche Zielgruppen) und vermutlich ist es auch gut, dass der ganze Komplex polarisierend diskutiert wird in einer Zeit, in der die Schere zwischen intelligent und doof immer mehr auseinanderzugehen scheint. Schade, dass Medienexperten offenbar immer auf dem jeweils anderen Auge blind sind. Als Grundlagenliteratur sind die Bücher auf jedenfall empfehlenswert.

 
 

                 

 
 

Ich bin Dein Mensch (D, 2021) von Maria Schrader

 
 

 
 

Im Zeitalter von Algorithmen und Chatbots ist ein Film über virtuelle Helfer mit physischem Erscheinungsbild, vulgo Roboter, Bots, kybernetische Organismen oder Androiden genannt, natürlich überfällig. Unter Maria Schraders Regie sind sie diesmal auch nicht mit Töten beschäftigt, sondern mit Dienen und Lieben – das ist von der Themenwahl hoch einzuschätzen und macht neugierig. Leider fehlt es Schrader bei diesem löblichen Vorhaben offenbar an einer zündenden Idee und so serviert sie uns einen etwas dünnen Aufguss mit einer emotional ausgehungerten Wissenschaftlerin, die einen attraktiven Roboter auf seine Eignung als Partnerersatz testen soll und dabei einen Konflikt zwischen ihrem Neokortex und ihrer Amygdala auslöst – welche Hirnstruktur am Ende dominiert, soll hier nicht verraten werden. Warum eine Expertin für Keilschrift-Lyrik auch als Expertin für Roboterbegutachtung brauchbar sein soll, erschliesst sich im Drehbuch nicht. Eine Psychotherapeutin wäre besser gewesen – da könnte ich mir einige pfiffige Dialoge vorstellen – und dazu Lesbe oder radikale Feministin. Oder weiss der Teufel, der mich anscheinend gerade wieder reitet.

Der Bot heisst Tom und erfüllt alle Frauenwünsche, vom Champagnerfrühstück, Brötchenholen, Saubermachen, im Freundeskreis reüssieren und bella figura abgeben, Rumbatanzen und im Bett Freude bereiten – every inch a gentleman – nur den feurigen Rumbatänzer will man ihm nicht so recht abkaufen – Rumba funktioniert nicht gentlemanlike, da muss ein wohldosierter Schuss männlicher Zugriffsfreudigkeit mit in den Cocktail. Patrick Swayze mit seinen Bizepsen lässt grüssen, der lehrte uns einst, was erotisches Tanzen bedeutet, da kann der schmächtige Tom einpacken. Der mag ja gut aussehen, aber viel Testosteron traut man ihm nicht zu und als es endlich zur Sache geht erlebt man – nun ja, Roboterliebe. Wer’s mag …

 
 

 
 

Dass da ein reichlich angeranztes Frauenbild zwanglos mithineinverwoben wird, dürfte klar sein. Fetziger wäre es gewesen, wenn die Protagonistin mit Hilfe ihres Bots vielleicht eine Doktorarbeit schreiben würde, sich ärgern würde, weil er immer gescheiter ist … oder … oder zwei Bots zur intellektuellen challenge aufeinanderhetzt … nur mal so angedacht. Aber nee, es muss die schwer angestaubte Nummer mit dem Champagnerfrühstück sein; naja, Maria Schrader ist ja auch nicht mehr die Jüngste und daher noch der klassischen Beziehungsdrama-Ära verhaftet. Und ein Beziehungsdrama wird hier geboten beziehungsweiseder Konflikt der etwas sauertöpfischen Wissenschaftlerin, die Emotionen für ihren Tom entwickelt, obwohl sie sie nicht entwickeln will und andererseits in einem beeindruckenden Monolog erkennt, dass sie kein wirkliches Gegenüber hat, ständig auf sich selbst zurückgeworfen wird und letztlich immer mit sich selbst kommuniziert, und damit die tiefere Bedeutung von Tom nicht nur als Wunscherfüller, sondern als Projektionsträger erkannt hat; doof ist sie wenigstens nicht. Einer der starken Momente des Films. Liebe ist hier eine wohlfeile Illusion und reichlich Verdrängung ist angesagt, damit das Modell funktioniert. In Toms Makellosigkeit entdeckt Alma ihren eigenen Schatten in Form der Angst, nicht liebenswert zu sein, wenn man nicht perfekt ist. Trotz dieser Schwächen ist der Film ein Fundus von geschickter Seelenauslotung, Wünschen, Trieben, narzisstischen Kränkungen und nicht gelebter Trauer und beschäftigt sich mit den zentralen Fragen, was den Menschen zum Menschen macht und was wir in der Liebe suchen und vor allem über Projektions- und Übertragungsmechanismen. Zudem lebt man bei Tom in der Situation des permanenten Betrugs: Wo man glaubt Empathie erleben zu dürfen, rumpelt man auf einen Algorithmus. Und dummerweise ist der perfekte und beherrschte Tom auch ein ständiger Spiegel für die eigene Unperfektheit, was die bindungs- und näheängstliche Alma besonders trifft, zudem ist er schlimmer als jede Schwiegermutter, weil er immer weiss, was sie braucht, noch bevor sie es selbst merkt, das nervt auch die geduldigste Keilschriftenleseratte.

 
 

 
 

Am Ende dann ein seltsamer Twist: Tom fällt etwas aus der Rolle, als ihm seine Herrin mitteilt, dass das Experiment beendet ist und fragt mit verlorenem Gesichtsausdruck, wo er denn jetzt hinsolle (was ja keine Frage ist – zurück zum Hersteller natürlich, oder halt auf den Schrottplatz …). Ein Patzer im Drehbuch oder eine absichtlich eingebaute Beziehungsverwerfung? Zum erstenmal ist Tom ratlos, der sonst auf jede verbale und nichtverbale Aktion zu antworten wusste, wirkt wie ein verirrtes Kind. Auf Alma verfehlt dies ihre Wirkung jedenfalls nicht, sie sieht ihre Einsamkeit und Unverortetheit darin gespiegelt, zum erstenmal wird die Bindung zwischen den beiden plastischer – Alma reagiert bezogen und fast mütterlich. Und offenbar kann der untadelige Tom auch noch hellsehen, denn am Ende trifft man sich an einem weit entfernten Ort wieder, ohne verabredet zu sein – am Ort einer gemeinsamen selbstkonstruierten Vergangenheit, die erstellt wurde damit das Paar auf die Frage „Wo habt Ihr Euch kennengelernt?“ etwas zu entgegnen weiss. Dort wartet der Android geduldig auf einer Tischtennisplatte (ein Symbol für gelingende Kommunikation – oder eine Methapher für aggressives Hin- und Herballern), bis seine Chefin kommt, die nun zu einer Liebesbeziehung offensichtlich bereit ist. Ein seltsames und vieldeutiges Ende, das sich nicht zu einer „guten Gestalt“ runden will … aber das muss ja nicht schlecht sein. Kann man an einer Illusion gesunden?

Ein Film, der sich über weite Strecken nicht entscheiden kann, ob er Romanze, Komödie, Psychodrama, Sci-Fi oder philosophisches Lehrstück mit hoher Floskeldichte sein soll und in allen diesen Genres ein bisschen herumplätschert, der trotz eines einfachen Strickmusters, gelegentlicher Holperer und mässig inspirierender und etwas blutleerer Hauptdarsteller, zwischen denen es auch am Ende nicht richtig funken will, imstande ist durchaus interessantes Kopfkino mit allerlei psychologischen und existenziellen Fragestellungen auszulösen – die Diskussion ist bei dergleichen meist interessanter als der Film, das lernt jeder Filmfreak mit den Jahren auch zu schätzen. Sartre meinte auch dass man von den „guten schlechten Filmen“ mehr lerne und vermied die schlechten Guten, die hielt er für Zeitverschwendung – da bin ich durchaus der Meinung des grossen Alten.

Als Kontrastprogramm danach noch Der Geschmack von Rost und Knochen angesehen: Ein seltsamer Titel und ein Zitieren von etwas das übrigbleibt, wenn Organisches und Nichtorganisches vergangen ist. Eine Blaupause des oben Beschriebenen und ein Film über Verkrüppelungen an Körper und Seele, in denen die Menschen nicht an den Wohltaten des Lebens und der Menschen, denen sie begegnen, sondern an den Reibungen und Herausforderungen gesunden. Wer sich in Bezug auf Frauenwünsche besser amüsieren will, dem empfehle ich Der Auftragslover (F, 2010), hier werde die Wasfrauenwollen-Klischees so charmant und pointiert auf die Spitze getrieben, dass es wirklich witzig wird – die Franzosen können das halt einfach besser, die haben der Liebe den deutschen Bierernst gründlich ausgetrieben. Und Romain Duris, der Bursche mit dem leichten charmanten Überbiss, tanzt fast so gut Samba wie Patrick Swayze. Rumba sowieso.

Schon Freud war ja an der Frage „Was will das Weib?“ verzweifelt, dabei hatte er 5 davon im Hause (Dienstboten nicht mitgerechnet), die er nur hätte fragen müssen. Oder wahlweise halt dann einen Franzosen oder gleich Patrick Swayze. Aber ein wahrer Macho will ja nicht auf die Frau angewiesen sein, sondern alles alleine herauskriegen – aus diesem Grund blieb ein grosses Werk in diesem Bereich sehr lückenhaft und seine Analysen weiblicher Patienten teilweise schon Fälle für die heutigen Ethikkommissionen.

Und so bleibt am Ende der grosse Menschheitswunsch bestehen: Als inneres Objekt – wertgeschätzt und geliebt oder zumindest wichtig – im anderen abgebildet zu sein, diesen psychischen Raum bietet nur ein Mensch und kein Roboter, bei dem man dann analog zwischen digitalen Nullen und Einsen herumsitzt  – und dem das auch noch völlig wurscht ist.

 

 
 

Die Saat des heiligen Feigenbaums (D, F, 2024) von Mohammad Rasulof

 

Regisseur stammt aus dem Iran, wurde aufgrund regimekritischer Filme schon einige Male zu Haftstrafen verurteilt, nach der Premiere des genannten Filmes wurde erneut eine Haftstrafe verhängt, der er sich durch Flucht entzog. Sein Aufenthaltsort wird geheim gehalten.

Die Rezeption des Filmes begann für mich mit einer Verwirrung. Im Vorfeld hatte ich Rezensionen gelesen, in der der Plot als die Geschichte eines unter dem Druck des Systems zunehmend paranoid werdenden Teheraner Beamten und Familienvaters interpretiert wurde. Der Chatbot argumentierte auch in diese Richtung – beim Betrachten des Filmes kamen meine Mitgucker und ich selbst zu einem anderen Interpretationsansatz; diese Divergenz kann ich mir nur dadurch erklären, dass in totalitären Regimen die Trennlinie zwischen Normalität und Paranoia ohnehin sehr unscharf gezogen ist und der Aussenstehende zu anderen Bewertungen kommt als der im besagten System Grossgewordene. Wer da nicht paranoid wird, muss ein grosses Verdrängungspotential mobilisieren können und der Zuschauer hat erstmal Mühe, sich zu orientieren – immerhin gibt es beunruhigende Zeichen zu Anfang des Filmes: Der Protagonist blickt in den Spiegel und sieht dort einen verhüllten Kapuzenmann. Man ist also schon etwas psychiatrisch eingestimmt und ich musste mich erst mental umprogrammieren.

Der Film erweist sich also nicht als psychopathologische Studie, sondern als dramatischer Politkrimi mit sich steigernder Spannung und dem Dauerthema der Nahostländer: Den schweren Generationenkonflikten beziehungsweise dem Quantensprung der jüngeren Generationen vom Mittelalter in die späte Postmoderne – der in den westlichen Ländern in der Nachkriegszeit stattfand, aber nie diese Dramatik entwickelte, da dort keine so archaische Religiosität gelebt wurde – zumindest nicht mehr nach der letzten Hexenverbrennung – und die Säkularisierung früher stattfand; da setzte man dann doch zögerlich ein Bein auf die Erde und ins Zeitalter der Aufklärung, auch wenn’s zum Teil ein kühles Fussbad gab – aber alles besser als dieses Scheiterhaufengelodere.

Da entstehen in Old-Style-Familien in Nahost nicht nur die bekannten Generationenreibungen, sondern da muss man schon von Im- und Explosionen sprechen; somit ist die Entwicklung der Geschehnisse in einer soliden Teheraner Familie der gehobenen Mittelschicht wie eine Art Atompilz, der sich zerstörerisch – unaufhaltsam vergrössert und ausbreitet, bis ein Weiterleben in seinem Dunstkreis überhaupt nicht mehr vorstellbar und möglich ist, weil einem am Ende nur noch alles um die Ohren fliegt. Das Ende ist grausam, auch wenn es sich nur um den Mikrokosmos einer Familie handelt – aber eben der ist exemplarisch.

Der Familienvater-Jurist und Beamter in einem theokratischen Staatssystem – wird nach seiner Beförderung gezwungen, Todesurteile zu genehmigen, ohne den jeweiligen Fall geprüft zu haben – in den meisten Fällen scheint es sich um Regimegegner zu handeln. Die Mutter ist konservativ-regulierend und dem muslimischen Wertekanon verhaftet, die Töchter im bei Teenagern üblichen moderaten Revolutionsmodus mit Wünschen nach Nagellack, blauen Haaren und Märchenprinz und ganz wohlgemut in ihrem pubertären Transitraum agierend.

 
 

 
 

Die schwere Verletzung einer Freundin, der auf einer Demonstration mit der Schrotflinte ins Gesicht geschossen wurde, katapultiert die Mädchen in eine andere Bewusstseinsebene. Die ältere Tochter findet die Dienstpistole des Vaters und nimmt sie heimlich an sich im zunehmenden Bewusstsein einer Gefährdung andersdenkender Frauen und als Misstrauensvotum gegen den Vater, der bei Verlust der Dienstpistole mit schwerer Bestrafung rechnen muss – und als Symbol für Macht und Stärke, mit dem sie sich sicherer fühlen mag – die Interpretationsmöglichkeiten sind sehr vielfältig, wenn man einmal ans Ausloten der Vater-Tochter-Beziehungen geht, die anders verlaufende ödipale Entwicklung im muslimischen Kulturkreis mit dem wesentlich stärkeren Schutz- und Besitzanspruch des Vaters und das Funktionalisieren der Tochter als Selbstobjekt (das bei Heirat verschachert wird) zum Verständnis mit einbezieht. Papas kostbarer Schatz, der sich aber unterwerfen muss, damit er ein Schatz bleibt und nicht ausgestossen wird – welches Selbstbild kann ein Mädchen hier aufbauen? Ein weites düsteres Feld mit vielfältigen Möglichkeiten zu ungesunden Spaltungen und unscharf formulierten Identitäten, die die weitere Unterordnung gewährleisten. Kinder- und Jugendlichentherapeuten können ein Lied davon singen, das sie die Behandlung muslimischer Mädchen gelehrt hat. Für den Vater zieht sich eine Schlinge zu – das Volk beginnt ihn zu hassen, die Dienstherren misstrauen ihm zusehends, er beginnt ein detektivisches Forschen im Familienkreis nach der verschwundenen Waffe, die Töchter leugnen deren Besitz – eine hübsche Allegorie auf die Potenz der iranischen Frau, die sie sich nicht wieder wegnehmen lassen will. Der Vater, im Konflikt zwischen eigenen Befreiungswünschen (die ihm seine Töchter spiegeln) und seiner Identifikation mit dem System, dem er dient – aufgerieben dekompensiert und setzt seine Familie gefangen, um ein „Geständnis“ zu erpressen. Keine Paranoia, aber eine katastrophische Dekompensation und ein Struktureinbruch in einem Zustand der Aussichtslosigkeit und des Verratenwordenseins durch die Menschen, die ihm die liebsten sind.

 
 

 

 
 

Ebenso allegorisch das Ende: Beim Showdown zwischen Vater und Tochter auf den Ruinen eines antiken Höhlendorfes versinkt der Vater im Schutt der Vergangenheit, bevor es zu einem Schusswechsel kommt. Der Film endet mit einem starken Bild, das sich einbrennt beziehungsweise einem Rückgriff auf einen Mythos: Dem Toten wächst die Hand aus dem Grab – in verschiedenen Kulturen interpretiert als Hinweis, dass ihm Unrecht geschehen ist, öfter aber dass er selbst Schuld auf sich geladen hat, beispielsweise ein Dieb war – eine Hand, die Übles getan hat, vergeht nicht, sondern bleibt als überdauerndes Mahnmal einer Schande. Ein Bild das beim Decodieren wieder ins Mittelalter zurückverweist und ein starkes visuelles Symbol für ein Filmende: Ein schuldig Gewordener, dem Unrecht getan wurde – ein Anklang an die Figuren des griechischen Dramas, in dem die Schuld nicht auf persönliche Verfehlungen zurückzuführen, sondern unausweichlich ins Leben eingewoben ist und nur wartet, dass sie zubeissen kann und Ödipus dazu bringt, das zu tun, was er um jeden Preis vermeiden wollte. Unentrinnbar und sich allen moralischen Massstäben entziehend. Kein guter Anfang für die Menschheit …

Was bedeutet der Titel? Der Feigenbaum (das „heilig“ verweist hier bereits auf die religiöse Symbolik und die Metaphorik – Botaniker würden hier eher von der sogenannten „Würgefeige“ sprechen, die gibt’s wirklich) kontaminiert über Vogelkot einen beliebigen Baum, bildet Luftwurzeln, die bis zum Boden wachsen und die Nahrungszufuhr gewährleisten, schliesslich den Wirtsbaum umschlingen und ersticken – zurück bleibt ein stabil wirkender neuer Baum, der aber nicht verwurzelt ist – ein weiteres Bild für die tödliche Umarmung autoritärer patriarchaler Systeme und ihrer Traditionen, die sich einreden, dass sie etwas stützen und bewahren, während sie es in Wirklichkeit unter Zurücklassen massiver Kollateralschäden zerstören. Und sich dabei noch für fest in Gott verwurzelt halten.

 

2025 29 Juni

Casta Diva im Pyjama – a Swan Song

von | Kategorie: Blog | | Comments off

 
 

Zunächst: Ich bin kein Opernfan, höre gelegentlich einen von den Top Ten (Nessun Dorma, den Gefangenenchor, Casta Diva … bitte selbst individuell vervollständigen), dank eines opernbegeisterten Ehemannes und aufgrund der Bekanntschaft mit der Schwester des Wagner-Stars Waltraud Meier kam ich ein paarmal in die Münchner und Wiener Oper und hab’s dort geschafft, den Barbier von Sevilla komplett zu verpennen bzw bei der Walküre in Wien mir auf dem Holzstuhl einen schmerzenden Hintern zu holen. Ein beeindruckendes Erlebnis ist es schon, Frau Meier als Aida zu erleben und dann auf einer Party ihrer Schwester beim Scharadenspielen von ihr beim Absingen des Kufsteinliedes stimmlich unterstützt zu werden. Die Meier-Sisters sozusagen – leider war keine Kamera dabei. Fühle mich also nicht wirklich befugt, über die Callas zu schreiben, insbesondere da mich Angelina Jolie und ihre Filme jetzt auch nie wirklich interessierten.

Der Film Maria ist kein Biopic, er fokussiert auf die letzten sieben Tage im Leben der Diva, gezeichnet von Esstörung und Medikamentenabhängigkeit und ihrem Gram über das Verschwinden ihrer Stimmkraft, schliesslich ihr früher Tod mitten in den hellen Fünfzigern. Die meiste Zeit sieht man Maria durch die Prachtstrassen und Parks von Paris streifen oder in ihren fürstlich ausgestatteten Räumen residieren, nur betreut von ihrem Butler und ihrer Köchin – offenbar die einzigen, die ihr geblieben sind und sie liebevoll versorgen, an langen Abenden auch mit ihr Karten spielen.

Gelegentliche Gesangsproben zeigen immer wieder, dass die Stimmkraft schwindet (diese Passagen hat man Angelina selbst singen lassen, die dafür vorher ein halbes Jahr Gesangsunterricht nahm, ansonsten hat man die Originalstimme der Callas unterlegt), die Sehnsucht nach Ruhm und Grösse, nach Applaus und Verehrung dagegen bleibt. Onassis hat sie verlassen und Jackie Kennedy geheiratet.

Angelina mit ihrem Schwanenhals schreitet – nein, sie gleitet wie ein Trauerschwan in einer morbiden Grandezza durch die Strassen – das allein hat schon was, sie scheint in ständiger Bewegung, einem fortwährenden Fliessen, es gibt nichts, woran sie sich halten kann und der Zuschauer weiss sehr wohl, wohin die Fahrt letztlich gehen soll, die Segel sind schon gesetzt.

 
 

 
 

Dazwischen immer wieder eingeblendet Szenen früherer Auftritte und ihr Glänzen und Leuchten. Nun singt sie vor ihrer Haushälterin in der Küche. Trotz aller Mühe der Schauspielerin ist das Drehbuch leider in der Darstellung der Gefühlssphäre sehr on-the-nose: direkt, wenig subtil, Gefühle werden ausgesprochen und erklärt, anstatt den Zuschauer filmtechnisch abzuholen, mit hinein zu nehmen und ihn ohne viel Worte alles erleben zu lassen. Und zu erleben gibt es viel: Würde, Trauer, Vergänglichkeit, Narzissmus bis hin zum Grössenwahn, aber auch liebevolle Bodenständigkeit und Freundschaft, als sie sich vom sterbenden Onassis verabschiedet.

Eine der Szenen beeindruckt: Der Butler muss trotz eines Rückenleidens Marias Flügel ständig im Hause herumschieben und umplazieren – ein Bild für die Zwangshandlung eines Menschen, der seinen Platz nicht findet, nicht mehr weiss wohin mit sich und Projektionsträger braucht um Affekte bewältigen zu können. Schmerzliche Erkenntnisse suchen sie heim: Die Menschen wollten nicht mich, sondern meine Stimme! – beim Zuschauer unwillkürlich den Gedanken evozierend: Ja, Mädel, was hast Du denn erwartet? Kunstinteressierte funktionalisieren, ein Künstler, der der Kunst nicht mehr fähig ist, wird der Welt schnell gleichgültig. Was soll sie damit? Da Künstler oft Grössenphantasien entwickeln und in einer narzisstischen Zeitlosigkeit dahinleben, gibt es im Alter dann die bekannten bösen Abstürze, sobald es der Realität gelingt, die Verleugnungsschranken zielsicher zu unterlaufen. Spätestens dann, wenn man bei der Eröffnung von Möbelhäusern und Betriebsfeiern singen muss, wie es bei der leichten Muse oft der Fall ist. Da ist Freund Alkohol und der Suizid nicht weit. Das ist auch hier Thema – Maria gelingt es nicht, sich ein neues Lebensmodell aufzubauen, es gelingt ihr auch nicht zu trauern – die Voraussetzung wäre dabei, das Vergangene als vergangen anzuerkennen – sie lebt in einem Zustand von Schockstarre und Fassungslosigkeit. Eines Tages findet man sie tot in ihrem Bett, wie auch immer sie das bewerkstelligt haben mag. In den letzten Szenen mischen sich ihre Todesphantasien in das Geschehen. Insgesamt ein eher als Psychostudie angelegter Film, der auf den Einsatz raffinierterer filmischer Mittel verzichtet, das emotionale Mitgehen hält sich in Grenzen, man bleibt interessiert, aber distanziert. Die Hauptdarstellerin versteht es aber, den Zuschauer trotz dieser Mängel gut durch den Film zu tragen, obwohl sie eine wesentlich kühlere Aura verbreitet als die Callas – aber die war ja auch Griechin, dieses mediterrane Flair, das Feuer im Blick, das Schmelzende kann man nicht erzeugen, wenn man es nicht hat – Angie ist dazu zu sehr das smarte all-american girl und der Dauerschmollmund stört auch ein bisschen.

 
 

 
 

But well done, Angie! Brad wird dich jetzt sicher wieder haben wollen. Den nimmste aber nicht mehr, oder? Keine Brangelina-Symbiose mehr  … hat sich eh nicht bewährt.

 

2025 21 Juni

The Brahms Projekt

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 1 Comment

 
 

Wenn die Begeisterung Funken schlägt, dann ist das mehr als ein saturiertes Kopfnicken oder ein ordnendes Einreihen in private Bestenlisten. Denn es trägt dich fort, nimmt dich mit wie zu besten Zeiten. Wer erinnert sich nicht gerne an das jugendliche Abfeiern von Musik: diesen einen Song noch, diese eine Platte hören, als sei es eine Droge. Was The Brahms-Project um den amerikanischen Gitarristen Kurt Rosenwinkel betrifft, kann ich schwerlich an mich halten. Vor ein paar Tagen entdeckt, noch nicht gänzlich rezipiert (wer leert schon eine Flasche guten Wein in einem Zug!), weiss ich jetzt schon: dies Album wird ein Langzeit-Wegbegleiter werden. Es könnte sich nämlich einreihen in meine Liste der Argumente, warum ich überhaupt Jazz höre und nicht vielmehr etwas anderes oder gar nichts. Kurt Rosenwinkel, den mir einst ein Buddy anempfahl (und wir feierten gemeinsam neben Methenys Still Life Talking auch Rosenwinkels Deep Song) ist selbst ein Buddy-Typ und wie Kumpel-Pat ein sympathischer Zeitgenosse. Hier und auf dem vorgängigen Chopin-Projekt hat der Gitarrist mit dem filigranen Schlagzeuger Jorge Rossy, dem Pianisten Jean-Paul Brodbeck (der die Arrangements schrieb) und dem kraftvoll-versierten Bassisten Lukas Traxel kongeniale Mitstreiter gefunden. Lange nicht habe ich einen so homogenen Quartett-Sound vernommen: wie aus einem Guss. Rosenwinkel hat sich in jüngster Zeit auch in brasilianische Gefilden herumgetrieben und ein bisschen klingt das auch, als wenn der gute Brahms aus seiner Kiste spränge und verzückt zu Jazz-Akkorden Samba tanzte. Jugendlich, frisch, powerful, zündend. Ein Stoff, der weiterträgt, aus dem die Inspirationen sind. So wundert es nicht, dass ich ein Stück kaum zuende höre, die Gitarre in den Amp einstöpsele und versuche, genau auf dieser Welle mitzusurfen, was natürlich nicht gelingt. Betroffen sehen wir, dass uns die Technik fehlt und vieles andere mehr. Bei solchen Musikern habe ich oft den Eindruck, dass sie auf dem Niveau von Lufthansa-Piloten und Herzchirurgen agieren. Wie kann man solche Notenketten präzise auswendig spielen? Miles Davis nannte es „Athletik des Bebop“ und distanzierte sich davon auf cool-gekonnte Weise. Und doch: ein wenig von der Zauberzirkus-Magie spielt immer noch mit in diesen Tagen.

 

 
 

 Bulldog (D, 2022) v. André Szardenings

 

Ich nenne dergleichen einen Chamäleonfilm (ein besseres Wort fällt mir derzeit noch nicht ein): Filme, die in der Diskussion den Eindruck entstehen lassen, jeder Teilnehmer habe einen völlig anderen Film gesehen und völlig Unterschiedliches erlebt. Offenbar verstehen es manche Machwerke besonders gut, auf unterschiedlichen Rezeptionskanälen in unser Gehirn zu kriechen und dort Unterschiedliches zu triggern.

Der Titel gibt zunächst Rätsel auf: Ist mit Bulldog der Hund gemeint oder eine landwirtschaftliche Fortbewegungsmaschine? Beides vermag einen zu überwältigen, wenn man es nicht zu handhaben versteht, da schlummert Gewaltpotential versus Ohnmacht in einem einzigen Objekt. Eine Bulldogge ist ein aufmerksames Tier, ein guter Wachhund – und hiermit wäre die Hauptaufgabe des jungen Bruno umrissen: Ein ständiges Bewachen seiner Teenage-Mom, nur 15 Jahre älter als er und nicht fähig, Verantwortung zu übernehmen und eine Existenz für sich und ihr Kind aufzubauen. In der Ersteinstellung erlebt sie man beide als jugendliches herumalberndes Paar, inzestuös, zu nah für eine Mutter-Sohn-Beziehung; sie schlafen auch eng umschlungen in einem Bett. Beide arbeiten als Reinigungskräfte in einer mallorquinischen Ferienanlage, die allerdings völlig leer ist. Die Mutter droht ihre Arbeit aufgrund von Unzuverlässigkeit zu verlieren, Bruno muss ständig dafür sorgen, dass sie ihre Pflichten erfüllt, zerrt sie morgens aus dem Bett, kontrolliert ihren Alkoholkonsum; als der Hinauswurf droht, bietet er sich dem Chef für sexuelle Dienstleistungen an, damit sie beide weiterarbeiten können.

 
 

 
 

Die Rezensenten loben die lebensvolle, flirrende Atmosphäre eines prächtigen Sommers auf Mallorca – seltsam … eine völlig leere, lediglich zikadenumschrillte Ferienanlage in bedrückendem Schweigen, in der lediglich ein kleines Mädchen in anrührender Verlorenheit unverortet herumirrt – ein Bild für dieses oder jenes, in jedem Fall den inneren Zustand der Hauptfiguren verdeutlichend – wirkt nicht einladend. Gleichzeitig verweist die ständig ins Bild gesetzte Sommerpracht als Kontrapunkt auf den inneren Reifezustand Brunos, für den es noch nicht einmal Frühling werden darf. Schliesslich verliebt sich Brunos Mutter in eine andere Frau – Hannah, die rasch in den Bungalow als Eifersuchtsobjekt, aber auch katalysierende Dritte einzieht und Brunos Platz im Bett der Mutter einnimmt.

Der Film fokussiert sich dabei weniger auf die Aussenwelt, sondern stark auf Nähe, Bewegungen, Blicke und Körper – ihr inzestuöse Verschmelzung, ihr Versteifen und ihre Verspannung, ihr wie zufälliges Hineingeworfensein in Räume, die ihnen kein Zuhause bieten, die sie reinigen müssen aber nicht selbst bewohnen dürfen. Bruno wirkt nur gelockert, wenn er mit der Mutter im Bett schläft, ausserhalb ist er verspannt und ständig aufmerksam – er hat etwas zu bewachen und zu beschützen, das er nicht verlassen darf. Die zunehmende Verantwortungsübernahme für das ebenso unversorgte kleine Mädchen deutet an, dass er den Weg eines parentifizierten Kindes weitergehen will. Ein Ausweg deutet sich an in den Auseinandersetzungen mit Hannah, die ihm Reibungsflächen bietet, bei denen er sich selbst zu spüren lernt und die eine langsame Lösung aus der mütterlichen Symbiose ermöglichen könnte. Das Ende bleibt trotzdem offen – Bruno steht starr und zögert, dem Auto zu folgen, mit dem die Mutter wegfahren will – in ein weiteres Leben ohne Halt und Verantwortung.

Ein verstörender Film für den, der um die Folgen solcher Abhängigkeiten weiss – ausbeutbare und dependente Menschen und ihre oft verfehlten und nicht den eigenen Interessen gewidmeten Leben.

 

2025 10 Juni

Das verbarrikadierte Zen

von | Kategorie: Blog | | 6 Comments

 

 
 

„Glückliche Menschen kaufen nicht.“ (Gerald Hüther, Neurobiologe)

Wir hatten eine Woche lang meditiert damals, im stillen Retreat, jeder für sich, trafen uns nur zu den Mahlzeiten, allerdings schweigend. Umso reger hernach die Diskussionen und der Erfahrungsaustausch mit der Möglichkeit, den gewitzten Sufi-Lehrer zu befragen. Ein Problem tauchte fast bei allen auf: die Wunschproduktion und Zielvorstellung, bestimmte Dinge besitzen zu wollen. Dieses Begehren machte den Geist unruhig. Sein Rat: die Sachen fortan nur als nützliche Gebrauchsgegenstände zu benutzen, ohne repräsentativen Kult- oder Selbstdarstellungswert. Nun gut, so funktioniert Kapitalismus aber nicht. Logisch, oder mit Naomi Klein: No Logo.

Auch ein brillianter Essay von Elke Brüns berichtet davon, warum die Lage schwieriger ist: Dinge – warum wir sie brauchen und warum wir uns von ihnen trennen müssen. Die Problematik zeigt sich, wenn wir erben, den Kleiderschrank sortieren oder einfach nur den Keller entrümpeln wollen. Vorsicht ist angesagt: nicht dass wir etwa als „Überlebende“ in triumphaler Geste Sachen in den Orkus schicken, die man besser noch behalten hätte. Hinsichtlich von Büchern beispielsweise zeigt sich, dass diese ja nicht nur ein Gegenstand sind, sondern eine geglückte oder verunglückte Beziehung mit dem Autor repräsentieren.

 

„Auch wenn Marie Kondo einen leichten Ausweg bietet: die nur halbgelesenen Bücher wirken wie ein Scheitern der Interaktion von Autor:in und Leser:in. Mit den besten Absichten im Text getroffen und trotzdem hat’s nicht gefunkt. Kondo feudelt hier vielleicht doch etwas zu oberflächlich durch, denn welcher Raum wird hier eigentlich wovon gereinigt?“ (EB, Dinge)

 

Dies nur als ein Beispiel der zahlreich delikaten Gedankengänge von Elke Brüns. Eines steht jetzt schon fest: sollte ich erfolgreich mein Buchregal dereinst auf einen Meter Breite schrumpfen lassen (so wie dies jüngst eine Bekannte tat im Gewahrsein ihrer Endlichkeit), das schmale Buch dieser Autorin fände darin Platz, würde sozusagen überleben: als Zeugnis einer geglückten Lesebeziehung.

 

 

 
 

 
 

 
 
 

 Touched (D 2023) von Claudia Rorarius

 

Wer Probleme mit überbordender weiblicher oder andernfalls behinderter Körperlichkeit hat, sollte sich den Film nicht ansehen – oder eben vielleicht gerade deswegen doch.

Die junge, stark übergewichtige Krankenschwester Maria pflegt den querschnittsgelähmten Alex, der auch seine Arme nur eingeschränkt gebrauchen kann und bettlägerig ist und verliebt sich in ihn. Alex ist nicht verliebt, aber ausgehungert nach Berührungen, die über das rein Funktionelle hinausgehen. Was folgt ist eine Annäherung – dabei aber nicht die erwartete Romanze, sondern ein vorsichtiges Näherkommen, immer wieder unterbrochen von Aggression und sadistischen Impulsen, gespeist aus Angst vor Zurückweisung und einer überwältigenden Scham über den eigenen Körper. Alex beschimpft Maria wegen ihrer Pfunde, dann bekommt er Besuch von einer alten Freundin – ein romantischer Funken deutet sich an, in diesem Moment besteht Maria darauf, ihm die Einlagen zu wechseln. Man erspart sich schlechthin nichts und hinter aller Aggression wird immer wieder die Not sichtbar, den eigenen Körper nicht positiv besetzen, zeigen und für Genuss mit einem Partner nutzen zu können. Maria ist in der Beziehung die Gebende, Alex muss aufgrund seiner Einschränkungen passiv befriedigt werden, er verschafft ihr aber Gefühlsregungen, indem er sie quält – hier kann er aktiv sein und berühren – wenn auch schmerzhaft. Maria scheint das zu spüren und zu verstehen. Ein Film, der bis in die tiefste Magengrube fährt.

Am Ende steigen die beiden Figuren aus ihren Rollen: Es sind Isold Halldórudóttir, ein isländisches Model und Aktivistin der Body-Positivity-Bewegung und Stavros Zaveiris, ein auch im realen Leben querschnittsgelähmter griechischer Schauspieler und Tänzer – und sie tanzen zusammen.

Rollstuhlfahrer sind übrigens hervorragende Tänzer, es ist nur ratsam, ihnen auf der Tanzfläche nicht zu nahe zu kommen, wenn man keine blauen Schienbeine haben will.  Sie verschmelzen mit ihrem Rollstuhl, stehen gekippt auf den Hinterrädern, die sie nun als Beine nutzen und drehen gern schwindelerregende Pirouetten mit raschen Richtungswechseln und man steht starr vor Staunen und wartet nur noch darauf, dass sie unter Hinterlassen eines Kondensschweifs abheben. Hier ist es anders: Ein stiller, anrührender und anmutiger Pas de Deux, der alles zeigt, was sich vorher unter Wut und Zorn verborgen hat und die Rolle des Körpers in einer Beziehung umdefiniert in der Form eines Es-geht-doch. Und das ist ja eine fundamentale Frage, die in unserer schönheitstrunkenen Gesellschaft viele bewegt, die sich für hässlich halten. Das ist auch eine Befreiung am Ende eines Filmes, der zwischen Wucht und Zerbrechlichkeit oszilliert und erst am Ende zur Ruhe kommt.

 

2025 9 Juni

„fingerprint“

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