Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

 

 

2011 – 1)  Kate Bush: 50 Words for Snow / 2)  Bill Callahan: Apocalypse / 3)  Brian Eno and the words of Rick Holland: Drums Between The Bells / 4) PJ Harvey: Let England Shake 5) David Sylvian: Died In The Wool – Manafon Variations

2012 – 1) Scott Walker: Bish Bosh / 2) Thomas Köner: Novaya Zemlya / 3) Swans: The Seer 4)  Burnt Friedman & Jaki Liebezeit: Secret Rhythms 4 5) Eivind Aarset w/ Jan Bang: Dream Logic (und Heiner Goebbels: Stifters Dinge)

2013 – 1) Bill Callahan: Dream River / 2) Dysnomia: Dawn of Midi / 3) Carla Bley: Trios / 4) Boards of Canada: Tomorrow‘s Harvest / 5) These New Puritans: Field of Reeds

2014 – 1) Damon Albarn: Everyday Robots / 2) Eno & Hyde: Someday World & High Life (just handling it as a double album)3) Scott Walker & Sunn O))): Soused / 4) Sun Kil Moon: Benji / 5) Anouar Brahem: Souvenance

2015 – 1)  Joanna Newsom: Divers / 2) The Mountain Goats: Beat The Champ /  3) David Torn: Only Sky / 4) Matana Roberts: Always / 5) Laurie Anderson: Heart Of A Dog

2016 – 1) Brian Eno: The Ship / 2) David Bowie: Blackstar / 3) Leonard Cohen: You Want It Darker / 4) Matmos: Ultimate Care II / 5) Jon Balke: Warp

 

It is an old tradition to look at a year in regards to each one‘s favourite albums. Some take it cool here, and invent their private revelations without following the calendar‘s accuracy. Like Martina or Lajla. Being in the mood of closing curtains these days (never close a curtain without a window in mind!), I went into full memory mode, looked at my old lists, and gave them a fresh pre-Christmas 2021 up-date. Now, going through every single year this blog has been flying under the radar of Facebook, Instagram and all (to retain a sense of privacy), and always keen on time traveling, I will surprise the readers here with an unexpected twist. Part 2 (to be posted on this blog in the first half of  January, probably) will have a decent showdown with, seriously, my favourite five albums of 2022. I made some phone calls, followed by further calls, mails, faxes, glances, talks, jokes, threats, laughs, puns, orders, zooms, downloads, covers – in the end it was easy, that glimpse into the future.

2021 23 Dez.

Weihnachten 🎄

von | Kategorie: Blog | Tags: , , | | Comments off

 

Wer vom Lande kommt, ellenlange nachmittagliche Spaziergänge unternahm mit den Hunden, die über die Felder jagten, dann zum Fünfuhrtee einkehrte mit Kandis, Klönschnak und Gebäck, der wird sie kennen: die Grenzsteine, die den öffentlichen Weg zum Besitzgrund des Bauern hin markierten – meist ein Findling, klein und doch bedeutsam. Solche Markierungen haben sich über die Jahre auch im Geiste angesammelt, in Form von Büchern, Bildern und Zitaten. Max Frisch, der ja vor seiner Schriftstellerei als Architekt tätig gewesen war, meinte, die Arbeit auf dem Bau als Handwerker oder Bauarbeiter sei eines der letzten verbliebenen Abenteuer in der modernen Zeit. Das hatte mich immer irgendwie geadelt, da selbst in jener „Wildnis“ tätig, jahrelang. In einem seiner Bücher (War es Montauk?) interviewte er einen Malermeister, dem zu keiner gestellten Frage etwas einfiel. „Mit welcher Farbe streichen sie am liebsten?“ „Weiß nicht.“ „Wie finden sie ihre Arbeit?“ „Normal.“ Wieviel lieber sind mir Leute, die was zu erzählen haben und nicht alles „normal“ finden – beispielsweise digitale Technik, die es ermöglicht, dass man online auch die Kunst der Dialoge entdecken kann: das faszinierte Verfolgen von Gesprächen, die sich kunstvoll entwickeln. Eine meiner Lieblingssendungen in diesem Bereich ist die Sternstunde Philosophie des Schweizer Fernsehens. Zu den kompetenten Gesprächskünstlern gehören Barbara Bleusch, Wolfram Ellenberger und Ives Bossart. Letzterer traf sich mit Nik Bärtsch, dem Pianisten und Bandleader der Gruppe Ronin, dessen Musik zuweilen ja als Zen-Funk betitelt wird. Der erzählt dort viel: von Weihnachtsritualen mit seinen Kindern, wie er einmal in der U-Bahn angegriffen wurde, von seiner Leidenschaft des Kampfsports, die Inspiration durch das Kurosawa-Epos Ran. Auch der Philosoph Byung-Chul Han wird erwähnt und Bärtsch liefert eine plausible Kritik: er selbst sei nicht so defensiv eingestellt – man müsse sich aufs Machen fokussieren und etwas „anbieten“. Was Han, der ja gute Literatur anbietet, nicht schmälert, aber eingrenzt. Dieses Gespräch hier wärmstens zu empfehlen, sehe ich geradezu als meine Pflicht.

 

2021 22 Dez.

Demnächst in diesem Theater:

von | Kategorie: Blog | | Comments off

Radio nach Mitternacht – ein Interview von Martina Weber 

 


Ricky Lee Jones: Showbiz Kids

Angelo Badalamenti: Twin Peaks Theme

 

„Natürlich, Angelo Badalamentis berühmte Melodie von Twin Peaks. Ich sehe Agent Cooper vor mir, wie er einen Doughnut bestellt und mit seinen, auf ein Diktaphon gesprochenen Gedanken, Licht ins Dunkel einer Mordgeschichte bringen will. Die Erste Staffel lief vor etwas mehr als drei Jahrzehnten im Fernsehen, und „30 Jahre Klanghorizonte“ ist der Obertitel der folgenden fünf Stunden, und dazu begrüsst sie Michael Engelbrecht.

Sie hören Klanghorizonte-Evergreens, Raritäten, Entdeckungen – wir springen zwischen Jahrzehnten hin und her. Der Auftakt – ein Song von Steely Dan, SHOWBIZ KIDS, wunderbar interpretiert von Rickie Lee Jones.

Die einzelnen „Mixtapes“ für diese Stunden zusammenzustellen, das war für mich wie das Stöbern in alten und neuen Fotosammlungen: zuweilen ergibt sich aus Einzelstücken, wie bei einem Puzzle, eine sinnliche Form, die im Idealfall auch noch Sinn macht.

Die Reise hat schon begonnen. Hier Jon Balkes ECM-Produktion WARP aus dem Jahre 2016. Das Piano lässt die Geräusche der Welt hinein.“ 

 

Der erste und einzige Preis, der zu gewinnen ist: vier CD‘s im Bündel, und zwar Bernard Hermanns Filmmusik zu „Taxi Driver“, Mark Hollis‘ Soloalbum, Harold Budds „Jane 1-11“, sowie „Skylarking“ von XTC. Es gibt nur eine Frage und keine Zulassungsbeschränkung unter den Teilnehmern: wie heisst die Platte, die sich da auf meinem Plattenspieler dreht? Jede Person darf nur einmal raten, in den „comments“ (keine Mails an mich privat), und nur einen Tip abgeben. Ich glaube nicht, dass dieses Rätsel den Abend übersteht. „Don‘t stay on the roads. The wilderness is delightful, too.

 

Die Auflösung (1):

 

 

Now this will always stick in memory. Once upon a time, in March 1982, the month of its release, ON LAND found its way to my little house in deep Bavaria, on a hillside, a quite desolate no-man’s land for a townie, but fitting well to the haunting atmospheres of the album. It has been a companion of awe and wonder ever since then, and I really installed the ambient speaker system in my living room Eno has described within the liner notes. Though it was definitely a tiny, ugly and cheap third speaker, I loved that experience.

Now we live in different times, and surround systems are no longer that expensive. Thus a 5:1-mix would be easy going, and, for a record like ON LAND, a perfect option. But here we go, with the half-speed vinyl remaster that in fact sounds beautiful, opening up even more depths. At least that’s what I’m feeling, I’m surely not painstakingly comparing it with old pressings. And everybody who has the 2005 cd remaster can happily live forever with that one.

Brian had worked on the album quite a while during his New York years, and I was living literally at the end of a world, with great music (Jazz by Post had been my favourite dealer), hot love, drama, Neil Young in concert, weekend travels to Schwabing, my first Go-Betweens record, Cortazar books, my salad days of volleyball,  and no happy endings. But it was worth the trip, at least that‘s what I keep telling myself. Scary Monsters were all around, but somehow I  managed to remain in light. (m.e.)

 

 

Die Auflösung (2)

 

 

2021 22 Dez.

Gedicht 1

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 3 Comments

 

Lana Turner has collapsed

by Frank O‘ Hara

 

Lana Turner has collapsed!

I was trotting along and suddenly

it startet raining and snowing

and you said it was hailing

but hailing hits you on the head

hard so it was really snowing and

raining and I was in such a hurry

to meet you but the traffic

was acting exactly like the sky

and suddenly I see a headline

LANA TURNER HAS COLLAPSED!

there is no snow in Hollywood

there is no rain in California

I have been to lots of parties

and acted perfectly disgraceful

but I never actually collapsed

oh Lana Turner we love you get up

 

2021 21 Dez.

Lieblingsmusik 2021

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 15 Comments

Kleine Vorrede: Tatsächlich gab bzw. gibt es 2021 eigentlich kein Album, das mich so überwältigend begeistert hat wie meine jeweiligen Vorjahres-Favoriten, also (bislang) kein „Fünf Sterne“-Album. Daher ist Low als  „Nummer 1“-Album zumindest ein klein wenig irreführend; da ich keine einzelne herausragende 2021-Lieblingsplatte habe – aber alle meine „Top 10“-Alben finde ich im Grunde genommen gleich gut und gleich markant als „Meine Lieblingsmusik 2021“. Brandi Carlile habe ich durch ihr Duett auf Elton Johns neuem Album entdeckt, und ihr neues Album hat ein wunderbares Siebziger-Jahre-Flair, passt ganz wunderbar als classic songwriting auf halber Strecke zwischen Elton John und Joni Mitchell. Die beiden in diesem Jahr entdeckten Alben, die mich mehr als alle anderen zu „fünf Sternen“ verleiten, sind zum einen Deradoorians Find The Sun, das genau genommen schon 2020 erschien, ich aber damals nicht gehört habe, und die auf zwei Vinyl-Scheiben veröffentlichten 6 Stücke von (Sam) Barker, dessen Album Utility 2019 eines meiner Favoriten war; auch hier stammt der erste Teil dieser beiden EPs genau genommen aus dem Vorjahr, wurde nur 2021 gemeinsam mit dem zweiten Teil noch einmal veröffentlicht. 

Besonders verweisen möchte ich auch noch auf die drei sehr guten Alben von/mit Moor Mother (Brass, Black Encyclopedia of the Air, Irreversible Entanglements), auf  Dawn Richards sehr spannende LP Second Line und vor allem auch auf das neue Talking-Heads- äh Parquet-Courts-Album Sympathy for Life. Aus dem deutschsprachigen Bereich habe ich 2021 wohl nur eine Band häufiger gehört: International Music, angeregt durch Jan „Tocotronic“ Müllers monatlichen „Reflektor“-Podcast, in dem er in die (Diskografie-)Tiefe gehende Gespräche mit unterschiedlichen Musiker*innen und Bands aus dem deutschsprachigen Raum präsentiert. Das erste Album von International Music, Die besten Jahre, (seit) 2019 eines der meistgelobten deutschen Rockalben, habe ich mir daraufhin mit Verspätung gekauft, zusammen mit dem Nachfolger Ententraum – beides vielseitige, eigenwillige Doppelalben deutschsprachiger Rockmusik. 

Bei ECM gab es 2021 erstaunlich wenige Alben, die mich dauerhaft gefesselt haben. Vijay Iyers neues Trio hat mich live sehr überzeugt, so dass ich das Album Uneasy danach noch einmal mit frischen Ohren hörte; und tatsächlich ist hier das Album (für ECM-Verhältnisse) ungewöhnlich nah am Live-Erlebnis, so dass ich es vielleicht als Favorit wählen würde. Auf Ayumi Tanakas CD und die neue Aufnahme von Kim Kashkashian mit dem Parker Quartet bin ich sehr gespannt (von den beiden verspreche ich mir sehr viel), habe die aber bis jetzt noch nicht, wie überhaupt eine Mehrzahl der ECM-CDs der zweiten Jahreshälfte. Am besten/nachhaltigsten gefällt mir neben Uneasy wohl Sinikkas Langelands Wolf Rune. Neu erworben habe ich gerade letzte Woche eine ambitionierte gemeinsame neue 5-CD-Box von den ECM-Urgesteinen Dave Liebman und Richie Beirach, Empathy; allerdings noch nicht durchdrungen. Gleiches gilt für das auf Jochens Tipp hin gekaufte neue, abendfüllende Album von Dave HollandAnother Land.

 

 

Alben:

 

01. Deradoorian: Find The Sun

01. Barker: 001/002

01. Low: Hey What

02. Little Simz: Sometimes I might be Introvert  

03. Microcorps: XMIT

04. Vladislav Delay: Rakka II

05. Dry Cleaning: New Long Leg

06. Self Esteem: Prioritise Pleasure*

07. Wadada Leo Smith, Jack DeJohnette & Vijay IyerA Love Sonnet for Billie Holiday

08. The Weather Station: Ignorance 

09. Suuns: The Witness 

10. Anthony Joseph: The Rich Are Only Defeated When Running for Their Lives 

11. Eivind Aarset 4tet: Phantasmagoria 

12. Brandi Carlile: In These Silent Days  

13. Anna B Savage: A Common Turn 

14. Black Country, New Road: For The First Time

15. Idles: Crawler

16. Allison Russell: Outside Child

17. Valerie June: The Moon and Stars

18. L’Rain: Fatigue

19. Lucinda Williams: Bob’s Back Pages: A Night Of Bob Dylan Songs

20. Rival Consoles: Overflow

bonus album: I’ll Be Your Mirror – A Tribute to The Velvet Underground & Nico

 

*Prioritise Pleasure is a richly compelling album. It’s also a big, glorious pop record, the sort that Taylor hinted at back in the days of her former band Slow Club’s Complete Surrender. Yet it’s also a vitally important album: a record that could be a feminist manifesto all on its own. It fuses the pop genius of the likes of Rihanna or Taylor Swift with the searing rage of early ‘90s Riot Grrrl. And you’re never entirely sure where it’s going, it has that thrilling quality of nearly coming off the rails at any second, before pulling back and correcting course just in time. […]

Prioritise Pleasure is an album that should win end of year polls, Brit Awards and Mercury nominations. But, more importantly than that, it’s an album to inspire your daughters and educate your sons with. It’s the album of Rebecca Taylor’s career, and surely quite comfortably the best record that will be released in 2021. (zitiert von MusicOMH, außerdem: Album of the Year at The Guardian)

 

außer Konkurrenz:

 

Can: Live in Stuttgart 1975

Bruce Springsteen & E Street Band: The Legendary 1979 No Nukes Concerts

Nick Cave and the Bad Seeds: B-Sides & Rarities Part II

Mika Vainio: Last Live 

Bob Dylan: Springtime in New York (1980-1985)

 

 

Filme, Serien, Mehrteiler:

 

01. The Father (dir. Florian Zeller)

02. Nomadland (dir. Chloé Zhao)

03. Annette (dir. Leos Carax)

04. Bir Başkadır (dir. Berkun Oya, Netflix)

05. Höllental (R: Marie Wilke, ZDF)

06. Der Rausch (dir. Thomas Vinterberg)

07. En Thérapie (dir. Eric Toledano & Olivier Nakache, arte)

08. Fabian oder Der Gang vor die Hunde (R: Dominik Graf)

09. Ammonite (dir. Francis Lee)

10. Sex Education – Season 3 (Laurie Nunn, Ben Taylor etc. / Netflix)

11. Minari (dir. Lee Isaac Chung)

12. Sörensen hat Angst (R: Bjarne Mädel, NDR)

13. Hinter den Schlagzeilen(R: Daniel Sager)

14. Titane (dir. Julia Ducournau)

15. Das Haus am Hang (dir. Yukihiro Morigaki, arte)

[Ein paar aktuelle Filme stehen für die kommenden Tage noch auf der Tagesordnung; Liste kann sich also u.U. noch verbessern.]

 

Alte Neu- und Wiederentdeckungen (chronologisch, ohne Wertung):

 

01. Masayoshi Sukita: David Bowie by Sukita

02. Peter Gabriel: (viertes Soloalbum + englische „TV-Doku“ von 1982)

03. Stereolab: Electrically Possessed (Switched On Vol.4)

04. Gallo Family Vineyards //  Dark Horse Zinfandel California

05. Margaret (written and directed by Kenneth Lonergan, Extended Cut)

06. Steven Wilson: Insurgentes (2008)

07. The Raveonettes: Pretty In Black (2005)

08. Annette Peacock: X-Dreams (1978)

09. Einstürzende Neubauten: ½ Mensch (1985)

10. Nina Simone: The Montreux Years (1968-1990)

11. John Scofield Trio: Out Like A Light (1981/83)

12. Kris Davis: Capricorn Cumber (2013) / Safe your Breath (2015)

13. Schlippenbach Trio: Bauhaus Dessau (Intakt Records 2009)

 

2021 21 Dez.

Literarisches Wimmelbild

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 2 Comments

Wimmelbilder kennt man: Zeichnungen, die umso mehr Details offenbaren, je länger man draufschaut. Wimmelbilder sind auch das Prinzip der meisten Film- oder TV-Serien: „Star Wars“, „Batman“ oder „Succession“ führen zu immer detaillierteren Blickwinkeln auf Charaktere oder Sachverhalte. In der Literatur kennt man das Wimmelbildprinzip von Fortsetzungsromanen, sei es Enid Blytons „Abenteuer“-Serie oder sei es der immer weiter ins Detail gehende Blick auf die Figuren im Tolkienschen Kosmos. Letzthin hat Christoph Dallach weitgehend kommentarlos alle möglichen — auch inkompatiblen oder einander widersprechenden — Musikerstatements unter dem Rubrum „Krautrock“ so zusammengefügt, dass sie doch eine kompakte Einheit bilden. Keine Meldung in den Fernsehnachrichten mehr, die nicht so gebaut ist, dass für morgen eine Fortsetzung möglich ist. Das Prinzip ist das der Selbstähnlichkeit des Apfelmännchens — der Versuch, die Ordnung im Chaos zu sehen. Man wird durch ständig neue Ausschnittvergrößerungen aus Ausschnittvergrößerungen im Rahmen einer ständigen Wiederkehr des Immergleichen geführt.

Seit inzwischen nun auch bereits einiger Zeit findet man dieses Bauprinzip um bestimmte Jahreszahlen herum, die irgendeine „Schlüsselbedeutung“ haben. Heinz Schilling schrieb über das Jahr 1517, Adam Zamoyski über 1815, Uwe Wittstock über den Januar 1933; Florian Illies hat das schon vor etlichen Jahren gemacht, als er die „Generation Golf“ erfand. 2012 schrieb er ein Buch über das Jahr 1913 — Tag für Tag, und auch das war ein Versuch, die diversen Ereignisse eines Jahres unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln. Und wenn man ein so exzellenter Schreiber ist wie Illies, dann wird aus einem solchen Flickenteppich wirklich eine lesenswerte Einheit. (Das Nachklappwerk „1913 — Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ von 2018 war dagegen eher von der Sorte „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“.)

Und jetzt gibt es „Liebe in Zeiten des Hasses“. Hier geht es darum, in kurzen Abschnitten Schicksale, Lebenswege und Beziehungschaos etlicher durchweg bekannter Persönlichkeiten zwischen 1929 und 1939 thematisch zu vereinen, wobei das Buch im Prinzip nur eine Teilung kennt: Vor 1933 und nach 1933.

Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob das Buch eigentlich auch dann interessant wäre, wenn es darin nicht um wohlbekannte Größen wie Klaus und Erika Mann, Walter Benjamin, Gustaf Gründgens, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Bert Brecht samt Hofstaat, Hermann Hesse und viele, viele weitere ginge, sondern um Lieschen Müller und ihren kleinen, für die Weltgeschichte unbedeutenden Beziehungsstress. Könnte es sein, dass man hier einem wunderbar geschriebenen Namedropping auf den Leim geht? Ist das nicht die gehobene Variante der bunten Klatschblätter, die man beim Friseur liest? Zumal man sich beim Lesen zunehmend fragt, woher der werte Autor das alles eigentlich so genau wissen will und sich der Eindruck einstellt, dass da wohl oft nur zwei und zwei zusammengezählt worden ist. Dass eine unglaubliche Recherchearbeit in diesem Buch steckt, ist klar, die verwendete Literatur wird im Anhang auch genannt (und lädt in vielen Fällen zum Weiterlesen ein). Aber man weiß natürlich, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien und Tagebüchern, jedenfalls, wenn letztere von vornherein im Hinblick auf ihr Publikwerden nach dem Ableben ihres Verfassers entstanden sind.

Ernster wird das Buch im zweiten Teil. Da nämlich geht es nicht mehr vorrangig um scheiternde oder glückende Liebesbeziehungen, sondern nun werden diese zunehmend in den Kontext von Verfolgung, Exil und den nicht seltenen tödlichen Konsequenzen gestellt, und das ist dann eine andere Dimension. Da steht man vor den Trümmern so mancher Existenz. Und es wird einem klar, was für ein riesiger Unterschied es ist, ob man ein Land freiwillig verlässt oder ob das Wissen um das sonst mögliche Kaltgestelltwerden, den Knastaufenthalt oder gar den Tod dahintersteht.

Ein kleines Manko: Gelegentlich wird in diesem Buch auf veraltete Quellen zurückgegriffen. Der Tod Kurt Tucholskys etwa wird hier noch immer ausführlich als Selbstmord dargestellt; tatsächlich ist sich die neuere Forschung da aber gar nicht mehr so sicher — wahrscheinlich war es doch eher der Unfallklassiker „Schlaftabletten und Alkohol“. Erich Kästners tägliche Postkarten an seine Frau Mutter werden hier als klassische „Muttersöhnchen“-Beziehung geschildert. Dass das eine enge Beziehung war, darf man wohl annehmen, aber der Kästner-Biograf Klaus Kordon hat schon vor einigen Jahren eine nicht weniger einleuchtende These aufgestellt: dass nämlich Kästners Postkarten vorrangig den Zweck hatten, sich die Mutter vom Hals zu halten, indem er sie mit Informationen überflutete. — Aber das sind Petitessen.

Und irgendwie ahnt man auch schon, welcher Zeitraum als nächstes Wimmelbild kommen könnte. Und man ahnt, dass man wieder kopfüber hineinfallen wird.

2021 20 Dez.

Launiger Briefwechsel am Ende einer Migräne

von | Kategorie: Blog | | Comments off

 

 

Sehr geehrter Herr Dr.  Lenz,

ich möchte einige Dinge richtigstellen, als Antwort auf ihren  Brief vom 6.12.:

Es ist falsch, wenn  sie implizit behaupten, ich würde unter keinen  Migräneattacken leiden. Es ist, durch den Erfolg der Triptane, und eine gründliche Exploration, nachgewiesen, dass ich tatsächlich unter einer Form von Migräne leide.  Mein Fall wird zudem wohl dokumentiert im Rahmen einer europaweiten Datenerhebung / Forschungsstudie.

Es ist falsch, wenn sie behaupten – so jedenfalls stellt es sich mir dar -, dass in meinem Fall Triptane kontraindiziert seien. Sie bestehen auf einer in der Schmerzambulanz erstellten Diagnose, die nicht korrekt ist.

Es ist falsch, dass sie unterstellen, „dass auch diese Substanzen bei entsprechend disponierten Patienten ein nicht unerhebliches Missbrauchsrisiko bergen.“ Ein Triptan verursacht keinerlei High, ausser, die Freude, den Schmerz in ziemlich kurzer Zeit loszuwerden. Und da ich von einem Schmerztherapeuten (und meiner neuen Hausärztin) bestens informiert wurde, besteht auch keine Gefahr für einen anderen, durch Triptane verursachten, Dauerkopfschmerz. Ich halte mich streng an die Vorgaben der Triptan-Benutzung, und bei in der in den letzten  Monaten  auftretenden Frequenz von Migräne-Attacke  (ca. alle 14 Tage im Schnitt) bin ich deutlich im „sicherem Bereich“.

Es ist falsch, mein Verhalten als „auffällig“ zu bezeichnen, weil ich von Anfang an darauf gedrängt habe, mir invasiv Dipidolor zu geben bei einer Attacke. Denn, aufgepasst, zweimal im Laufe dieser Schmerzgeschichte hatte die invasive Verabreichung von 7.5 mg Dipidolor (in zwei Krankenhäusern) den Schmerz beseitigt (und mir wurde nur diese zwei Male Dipidolor invasiv verabreicht ((subkutan stellte sich kein Effekt ein)) – klar, dass ich darin einen Schlüssel zur zumindest symptomatischen Therapie sah. 

Die Diagnose, zu der man bei  meinem Kopfschmerz gelangte (in der Schmerzambulanz) ist, ist de facto falsch. Ein Schmerztherapeut, der offensichtlich eine grössere Fachkompetenz besitzt, verschrieb mir ein Triptan, wofür ich im nachhinein unendlich dankbar bin, denn eine gut vierjähriges Martyrium hat damit ein Ende gefunden.

Erstaunlich, dass sie, Dr. Lenz,  diesen Heilerfolg  in ihrem Schreiben völlig ausblenden (das ist keine Placebo-Geschichte) –  aus meinem Text ist doch unzweifelhaft zu erkennen, dass die Triptane bei mit das angezeigte Mittel sind – und ich unter einer Form von Migräne leide. Stichwort: trigemino-autonome Kopfschmerzen. 

Zur von ihnen angesprochenen „fehlenden Compliance“: ich habe nach Rücksprache mit einem anderen Arzt und Studium des Beipackzettels die Medikation auf 4 mg Temgesic erhöht, um dadurch den Schmerz zu beseitigen. Nicht, um ein stärkeres High zu erleben. Die Wirkung war nicht wie erhofft. Ein wenig schienen Opioide den Schmerz gelegentlich zu verkürzen (zusammen mit Paracetamol) – aber auf Dauer ändert sich nichts Wesentliches: die Migräneattacken traten  mit der Zeit  häufiger auf. Ich sah keine Sinn in der Fortsetzung der Behandlung in ihrer Schmerzambulanz. Ich setzte auf Chiropraktik, Physio, Liebscher und Bracht, Akupunktur – meine Situatiom wurde immer dramatischer, eben weil sich die Frequenz der Attacken verkürzte. 

Auch folegndes muss ich richtigstellen. Ich habe den drei Schmerztherapeut*innnen in der Schmerzambulanz im Laufe der diversen Sitzungen mitgeteilt, dass der Schmerz zuweilen auch im Hinterkopf links beginnt und zum Nacken runterwandert. 

Mit ihrer Darstellung, Dr. Lenz, scheinen sie, so kommt es mir vor, meine Glaubwürdigkeit herabzusetzen, und eindeutige Fehler in der Differentialdiagnostik zu kaschieren. Ich habe immer gesagt, dass dieser Schmerz, nach einer oft mehrstündigen Anflutphase,  sich vier Stunden lang mahe am Unerträglichen bewegt, und dann in kürzester Zeit „abstürzt“, „sich in Luft auflöst“. Das ist  schon ein Indiz für eine Migräne. Atypisch oder nicht.

Zum Positiven verändert hat sich meine Situation erst, als meine neue Hausärztin mit einem Spezialisten für Kopfschmerzen Kontakt aufnahm. Das ist keine zwei, drei Monate her.

LOROTRIPTAN: darauf hätten die Schmerztherapeuten wirklich mal kommen müssen. Denn als jemand mit  multipler Schmerzmittelallergie (ich vertrage nur Paracetamol und Opioide – Triptane hatte ich bislang nie gekommen, sie sind  aber in keiner Weise vergleichbar mit den für mich lebensbedrohlichen Mitteln wie Ibuprofen,  Aspirin, Duclocphenac, Novalgin etc.) blieb eigentlich nur noch ein Versuch mit Triptanen übrig – UND DIESER ANSATZ WAR BEI MIR EINE ECHTE UND KEINESWEGS ABSEITIGE OPTION (es gibt atypische Migränesymptome). 

Ich bin erstaunt und irritiert, dass sie in ihrem Schreiben auf einer Diagnose beharren, die sich durch meine ausführliche Darstellung, und nach meiner bestmöglichen Einschätzung, als FALSCH erwiesen hat.

Ich finde es im übrigens deplatziert, mich als nicht somderlich vertrauenswürdigen Patienten darzustellen.

In anderen Worten: wären mir Triptane verschrieben worden, hätten sich die gut vier Jahre meiner Schmerz-Odyssee um knapp die Hälfte verkürzt! Dass sie zudem noch die gefährlichen Nebenwirkungen dieser Medikamente betonen, ist ebenfalls nicht angemessen.

Und, noch deutlicher: ich möchte ein Gespräch mit einem der zuständigem  Ärzte*innen, gerne auch in ihrer Anwesenheit. Denn: STATT AUF EINER M. E. FALSCHEN DIAGNOSE ZU BEHARREN ,  KÖNNTE ANDEREN PATIENTEN*INNEN BESSER GEHOLFEN WERDEN IN IHRER SCHMERZAMBULANZ, WENN DIE DORT TÄTIGEN ÄRZTE*INNEN IN ZUKUNFT ATYPISCHE FORMEN VON MIGRÄNE MIT IN IHRE DIAGNOSTIK MITEINBEZIEHEN. 

Sie blenden in ihrem Antwortschreiben vom 6. Dezember einfach einige wesentliche Dinge und Sachverhalte aus, und das allein ist der Grund, warum ich mir in diesem Schreiben nun eine gehörige Portion Redundanz leiste. Mir ist natürlich klar, dass sie deutlich Partei ergreifen. Dass sie dies allerdings auf der Basis einer  nicht länger aufrecht zu haltenden Diagnose machen, ist schon bedenklich. Und wie sie versuchen, mich als Person in ein zwielichtiges Licht zu rücken, ist  schon „schräg“. Und im Grunde eine Unverschämtheit.

Aus allen diesen Gründen wirft meine  Behandlung in ihrem Haus durchaus gerechtfertigte Fragen auf, und verlangt doch nach einer fairen Klärung.

 

Mit besten Grüssen,

Michael Engelbrecht

Ich hatte die Schallplatte mit den Gesängen der Buckelwale bei Zweitausendeins gekauft, himmelblaues Cover, und fühlte mich avantgardistisch damit. Das Wort „Feldaufnahmen“ kannte ich noch nicht. Ich hörte den Begriff zum ersten Mal in Michaels Sendung und dachte, es sei eine Erfindung von ihm. Eine Radiosendung mit Michael hörte ich zum ersten Mal, weil ich rein zufällig an einem Samstag Nachmittag im Juli 1995 das Radio anschaltete, zu „Radio Unfrisiert“. Man konnte Hintergrundmaterial anfordern und erhielt zusammenkopierte Playlisten und Rezensionsauszüge, und das Gefühl, zu einem besonderen Kreis zu gehören. Schätze, die ich sorgsam aufbewahre. Die Spur verlor sich. Im Herbst 1998 entdeckte ich den Deutschlandfunk und Michaels Namen im Programmheft. Seither habe ich keine Ausgabe der „Klanghorizonte“ verpasst, – nur eine, als ich vergaß, den Wecker, den ich auf 4 Uhr gestellt hatte, auf „on“ zu stellen. Es gab nur einen Grund, warum ich das nicht bereut habe: Es brachte mich auf die Autorenliste dieses Blogs. Für mich waren die „Klanghorizonte“ immer mehr als eine Musiksendung mit einer verdammt coolen, schrägen und grenzüberschreitenden Auswahl, viel mehr. Es schimmerte, aus großer Entfernung, ein Lebensentwurf darin, was nicht nur an der Musik lag, sondern vor allem an den außergewöhnlichen und sprachlich verdichteten Moderationen. Als ich Michaels Stimme zum ersten Mal bei „Radio Unfrisiert“ hörte, dachte ich, was ist das nur für ein Typ, er verkörpert seine Sendung vollkommen und wirkt geradezu unverschämt frei. Ich habe mich von dieser Musik ernährt, Kassetten immer wieder zurückgespult, Playlisten erstellt, Mixtapes verschenkt, Teile der Moderation transkribiert. Ich wollte ein Teil von etwas sein, ohne genau zu wissen, wovon. Ich wollte die Aura dessen, was „die Sendung“, wie ich sie immer nannte (als ob es keine andere gäbe, und es gab keine andere), ausmachte, in meine Gedichte aufnehmen, das kristallisierte sich für mich heraus. „Dass so eine Musik existiert, macht Hoffnung“, sagte Michael bei der Moderation des Tracks Mittelfinger aus dem Album Geisterfaust von Bohren und Der Club of Gore. Eben eine Kassettenhülle aufgeschlagen und das Zitat gefunden. Es gäbe so viele davon. Auch wenn der Genuss der Livesendung unübertroffen war: Ich werde meine Aufnahmen wieder und wieder hören und mich nach einer Lieblingsformulierung von Michael durch die Musik an andere Orte transportieren lassen.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz