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Category: Musik vor 2011

2011 22 Apr.

Steve Tibbetts: Natural Causes

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1 – Werke von Steve Tibbetts erscheinen in gehörigen Abständen; der Mann hat es nicht eilig. NATURAL CAUSES heisst der jüngste Streich, und in seiner In-Sich-Gekehrtheit erinnert er von ferne (zumindest im meditativen Gestus) an NORTHERN SONG, sein Debut auf dem Label ECM. Was Marc Anderson (Perkussion, Steel Drum, Gongs) und Steve Tibbetts (Gitarren, Piano, Kalmba, Bouzouki)zu Wege bringen, entstand damals ohne Overdubs in einem norwegischen Tonstudio an zweieinhalb Tagen – jetzt haben sie die vertraute Studiotechnologie in St. Paul benutzt, um in feinen Schichtungen musikalische Essenzen zu destillieren. Immer wieder schimmert da ein fernes Asien durch, selbst, wenn die Klänge einer Bouzouki, Kalimba und Steel Drum eher mit anderen Erdregionen assoziiert werden. Tibbetts hat lange Erfahrungen gesammelt, vor Ort.

2 – Rückblende: man nenne dies nicht Fusion Music und auch nicht Crossover. Die Musik des 1954 in Madison, Wisconsin, geborenen Steve Tibbetts erzählt vom Reisen. Mit sechs Jahren hatte Steve begonnen, die Ukulele zu erforschen, und griff zur akustischen Gitarre, sobald seine Hände sie fassen konnten. Später spielte er in Rockbands und richtete sich im Laufe der Zeit in St. Paul, Minnesota, ein eigenes Studio ein, das bald zum zweiten Instrument wurde – Klangmanipulationen gehörten zum Handwerk eines Musikers, der in seiner Jugend mal über Wochen Tomorrow Never Knows von den Beatles und Ege Bamyasi von Can hörte.

Der Globetrotter aus Passion hielt Abstand zu jedem drohenden Mainstream, vermied die mechanische Griffbrettartistik mancher Kollegen und kämpfte gegen den üblichen Etikettenschwindel: „Folkmusik vom Mars“ nannte ein Journalist sein Klanggebräu. Seine erste große Reise führte nur nach Oslo: Unter der Klangregie Manfred Eichers entstand die karge, leicht pulsierende Gelassenheitskunst von Northern Song. Seitdem mischte der Gitarrist die Höhen- und Breitengrade seiner Musik nach den Gesetzen des freien Falls von Mikadostäbchen und produzierte brillante Werke, mit Titeln wie Safe Journey (1984), Big Map Idea (1990) oder The Fall Of Us All (1994) – eine konstante Verletzung des Orientierungssinnes. Manchmal sind da Geräuschspuren der Fernstraßen um Minneapolis zu hören, der Rocky Mountains oder eines Mönchschors aus Tibet.

Fetzen eines fremden Alltags fanden sich Anfang der Nuller Jahre auch auf seiner CD A Man About A Horse, wenn beim Sampeln Natur- und Tierlaute zusammen mit den bronzenen Sounds von Gongs gespeichert werden (ECM 1814). Fasziniert ist Tibbetts von der Kebyar-Schule der Gamelan-Musik, ihren explosiven Attacken, kühnen Synkopen und verwickelten Läufen aus Blockakkorden. Bali, Indonesien und Nepal wurden bald zum ständigen Reiseziel. Er hört zu, wenn ein Einheimischer von den Geistern der Bäume spricht, und lässt sich vom endlosen Klingklang indonesischer Puppenspiele in den Schlaf wiegen. Kehrt Steve Tibbetts von seinen Reisen zurück, arbeitet er mit frei schwebenden Erinnerungen, nicht mit akustischen Abziehbildern. Asien wird hier zu einer Welt, von der ein später Jimi Hendrix geträumt haben könnte. Komplexe Texturen, die, allem Gitarrenfeuer, aller Perkussionsdichte und Basswucht zum Trotz, eine seltsam beglückende Klarheit verströmen – als könnte man der Musik beim Luftholen zuhören!

3 – Zurück zu NATURAL CAUSES. Hier klingt kaum etwas nach der tantrischen Ekstase von THE FALL OF US ALL oder A MAN ABOUT A HORSE. Hier bricht sich eine (so seltsam das klingen mag) vibrierende, durchdringende Ruhe Bahn, in vornehmlich akustischen Texturen. Lebendige Pulsschläge einer Musik, die eine fantastische Balance findet zwischen Stille und Klang und Rhythmus (abseits der Klischees, die hier immer gleich etwas Heiliges und Spirituelles ins Feld führen!). Was inspirierte Steve Tibbetts diesmal? Nun, es war (u.a.) das an die menschliche Stimme erinnernde Sarangi-Spiel eines virtuosen indischen Musikers. Tibbetts weiß, wie wenig Sinn es macht, solche asiatischen Klänge naiv oder haarklein in amerikanische Kontexte zu überführen – die fremde Welt darf ihre Fremdheit nicht einbüßen. Das Resultat ist ein Gewebe aus Orient und Okzident, wie man es selten zu hören bekommt. Aber auch solche Kunst führt ins Private, verweilt nicht bei abstrakten Landkartenideen. Zu der Zeit, als Tibbetts und Anderson an der Musik arbeiteten, war Steves Schwester schwer erkrankt, und die Famile spürte die Gegenwart des Todes. Man lebte in der Vorstelllung, eine geliebte Person bald zu Grabe tragen zu müssen. Und auch dieser Schmerz hat Eingang in diese leise intensive Musik gefunden. Nun, die Dinge nahmen eine Wendung zum Guten, aber etwas von dieser Zeit hat sich in den Zwischentönen niedergelassen, eine Art ungezwungene Einkehr und Nachdenklichkeit.

Wer die Stimme der brasilianischen Sängerin CéU mag, sich aber von den Niederungen der Pop-, HipHop- und Dub-gebundenen Songs zeitweilig lösen möchte – und sei es auch nur für einen Kurzurlaub -, der findet in den himmlischen Sphären freierer Musikformen ein ebenso frisches, vitales und bodenständiges Äquivalent.

Hier ist es Jen Shyu on vocals, die der esoterischen Musikmathematik des Altsaxophonisten Coleman und seinen „Five Elements“ ein sechstes Element hinzufügt. Die Emotionalität ihres virtuosen (Scat-)Gesanges macht diese Musik zugänglich und zu einem ausgesprochenen Hörvergnügen. Erinnerungen an Flora Purim kommen auf – oder an Gunter Hampels „Galaxy Dream Band“ mit Jeanne Lee. Auch Assoziationen etwa zu Theo Bleckmann und Ben Monder werden geweckt, zu den Buddies Greg Osby und Gary Thomas sowieso.

Die Aufnahmequalität und der Klang dieses Albums sind brilliant. Hier wird ein neuzeitlicher Standard erfüllt, der auch Highend-Herzen höher schlagen lässt. Es sind dies die famosen Begleitmusiker (Jonathan Finlayson on trumpet; Tim Albright on trombone), die ihren Beitrag dazu leisten, neben den ausgetüftelten Kompositionen (oder ist das etwa schon Programmiersprache?). Besonders auffällig und hörenswert ist das knackige Rhythmus-gefüge von Drums (Tyshawn Sorey) und Bass (Thomas Morgan).

Der allseits gefeierte Pianist Vijay Iyer, seinerzeit Weg- und Bandgenosse Colemans, sieht den M-Base Veteranen auf Augenhöhe mit dem großen Coltrane. Die Musik ist allerdings sehr verschieden: einerseits spirituelle Emotion pur, andererseits konstruktivistische, vitale Coolness. Das ergänzt sich gut.

2011 20 Apr.

David Sylvian: Sleepwalkers

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Zunächst enttäuscht, dass „nur“ eine Kompilation größtenteils bekannter Titel vor-angekündigt wurde, entpuppt sich diese doch als lohnenswert. Und das liegt nicht nur an der bezaubernd unheimlichen Coverart der Künstlerin Kristamas Klousch. Die Zusammenstellung klingt in sich auch homogen. Immer wieder erstaunlich: die permanente Verbesserung der Soundqualität (Aufnahmetechnik/Remixing/Remastering) und das feine Gespür des Herrn Sylvian für Klänge und Ästhetik. Un cadavre exquisit? Non, mais plutôt: guter (alter) Wein in edleren Schläuchen. À votre santé !

Dissapointed first, for „only“ a compilation of mainly yet published songs was advertised, it though turned out to be worthy – and this is not only because of the charming, scary coverart of Ms. Kristamas Klousch. This compilation sounds homogeneous as a whole. Time and again astonishing: the permanent improvement of soundscape qualities, as there are recording techniques (remixing/remastering) and the sampling – and last but not least Mr. Sylvian´s fine sense for sound and aestethics at all. Un cadavre exquisit? Non, mais plutôt: good (old) wine in even more precious wineskins. À votre santé !

2011 10 Apr.

Joanna Newsom: Have One On Me

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Wer erinnert sich nicht an die erste Begegnung mit Joanna Newsoms Stimme!?
Ein wenig schrill und kindlich-naiv klang sie auf ihrem Debut THE MILK-EYED MENDER (2004). Kurze Songs mit Harfe, die verzücken, aber auch irritieren konnten. Fasziniert war man von der emotionalen Direktheit dieser Musik, und bald suchten Kritiker dafür nach den richtigen Wörtern und Referenzen. Auf einmal schien da wieder ein seltenes helltönendes Original (wie Björk, und davor Kate Bush) neue Räume zu erkunden. Die Independant-Szene hatte eine neue, schräg singende Heldin mit Pippi Langstrumpf-Flair, aber insgeheim fragte man sich schon, ob der Zauber beim nächsten Mal noch wirken würde.

YS (2006) ließ alle Befürchtungen zerbröseln. Auf einmal begegneten uns phantastisch ausufernde Lieder, jenseits der Regeln für Strophe und Refrain. Mit den ausgefeilten Produktionstechniken von Jim O Rourke und Steve Albini sowie raumgreifenden Violinen und Violas von Altmeister Van Dyke Parks entstand ein überragendes Werk. Als vielen dämmerte, daß YS rasch Klassiker-Status erlangen würde, stand die Frage im Raum,
ob das denn nun der Gipfel war, und ob allmählich alle Exzentrik einer sanfteren Gang-
und Sangesart weichen würde.

HAVE ONE ON ME ist nicht nur ein simpler Trinkspruch (und eine sexuelle Anspielung),
es ist auch die Fortsetzung des Zaubers mit neuen, nie ganz greifbaren Rezepturen,
in einem Werk, in dem Momente der Trunkenheit in allen möglichen Formen (Sex, Liebe, Umnachtung etc.) reich gesät sind. Es gibt in diesem Dreifach-Album die kurzen, nur von der Harfe begleiteten Lieder (auf einigen Songs wechselt sie zum Klavier); es gibt die langen Songgebilde, die zwar beim ersten Hören geradliniger daherkommen als beim Vorgänger, aber dann doch eigenartige Wendungen und Kurven einschlagen.

Die Lieder beginnen oft spartanisch, und dann wird ihnen gutes altes Cinemascope eingehaucht. Der Gitarrist und Tambura-Spieler Ryan Francesconi arrangierte viele Parts mit Holzbläsern und Streichern. Einiges hört sich exotisch an, neben der Tambura etwa
die Kaval, die ebenfalls aus dem Osten Europas kommt. Auch die Kora, eine 21-saitige Harfe aus Mali, darf zum Duett mit Newsoms europäischer Harfe aufspielen (außer Frage steht, daß Joanna Newsom die archaische Koramusik eines Toumani Diabate sehr schätzt und diese in ihrem Studium nicht minder intensiv studierte wie die weltoffene Klassische Musik eines Claude Debussy – subtil fließen hier Klangspuren des Impressionisten ein). Solche Duftnoten anderer Kulturen hinterlassen häufig einen schalen Nachgeschmack –
bei dieser Jägerin alter spirits und vibes passen sie bestens zu den Roots-haltigen Banjo-Sounds und anderen Schwingungen eines lang vergangenen Amerika!

Und die Themen der Songs? Die Texte von Ms. Newsom können durchaus mal Schwindel erzeugen (manch kryptische Bilder entziehen sich einer schnellen Deutung), dann wieder ist der Wortwitz scharfzüngig, und die gute alte Tante Liebeslied um einige hinreißende Zeilen bereichert! – I regret how i said to you, Honey, just open your heart, when I have got trouble even opening a honey jar. Vieles dreht sich ums Verbandeln und Entbandeln,
um die Balance von In-Sich-Ruhen und Außer-Sich-Sein. Dazu gesellt sich ein On-The Road-Gefühl, das Sich-Treiben-Lassen, das Zurückkommen zu den Wurzeln.

Manches davon macht sich eine wunderlich alte Sprache zunutze, die den Straßenstaub gar nicht erst abschütteln muß. HAVE ONE ON ME mischt Autobiographisches, Fiktives und Mythisches in einer Perfektion, die an einen gewissen Herrn Dylan erinnert. Kein Wunder, daß sie zu ihren Lieblingsautoren Carson McCullers und William Faulkner zählt (nehmen Sie sich mal bei Lust und Laune die Neuübersetzung von Faulkners LICHT IM AUGUST vor,
oder John Steinbecks FRÜCHTE DES ZORNS, und Sie erfahren mehr darüber, welche Quellen die Lady auf HAVE ONE ON ME u.a. anzapft, als von diesem ganzen Elfenquatsch, der ihr angedichtet wird!)

Songweise wirkt das so, als habe Joanna Newsom vor sich hin fabuliert, an entlegenen Orten, in Bildern, die Traumszenen beschwören und sich auf manche Dunkelheit einlassen. Das Herz bleibt ein einsamer Jäger. (Kleine Fußnote nebenher – Newsom war eine Zeitlang zusammen mit Bill Callahan (aka Smog); da muß sie auch Muse gewesen sein, denn manche von YS abstrahlende Streicherklänge inspirierten sein letztjähriges Klasse-Album I WISH WE WERE AN EAGLE. Und auch die Alben von Smog sind ja, man denke an die Highlights,
RED APPLE FALLS und KNOCK KNOCK, wundervoll knorrige Zeugnisse des Driftens und
Nie-Ankommens und Zurücksehnens – Sie kennen dieses Platten nicht? Bitte nachholen!).

Die Stimme ist über die Jahre anders geworden, hat sich entwickelt, findet – buchstäblich – etwas tiefer gelegte Räume (kurze Kiekser gibts trotzdem noch). Erste Kritiken ziehen (was die Anmutung des Gesangs und die Schwingungen leicht gospeliger Momente angeht), Vergleiche zu Nina Simone, Laura Nyro und Joni Mitchell (da wäre beim ersten Album keiner drauf gekommen!). Bei HAVE ONE ON ME bleibt alles in Bewegung, in allerfeinsten Texturen. Auch wenn der Kelch einiger Lieder hier und da überfließt (have one on me, Joanna, cheers), ist das Werk erstaunlich formbewußt. Durchgearbeitet. Durchdacht. Der Zauber nimmt stets neue Formen an, und eine Formel dafür ist, zum Glück, nicht abrufbar!

Michael Engelbrecht


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