on life, music etc beyond mainstream
2024 9 Sep.
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Eigene Musik | 1 Comment
„I can give it, but can you take it?“ war die Replik eines Gurus auf die Frage eines Schülers, ob man Erleuchtung übertragen könne. Wäre dies nicht eine Situation, wie sie auf vielerlei Wechselbeziehungen zuträfe? Die Regeln von Produktion und Rezeption. Es brauchte seine Zeit, bis ich wieder drin war im Ritual des Albumhörens nach ein paar Tagen Pause. Zunächst dachte ich, das Equipment sei kaputt – nein, etwas Geduld ist erforderlich. Auch wenn man ins kalte Wasser geht, benetzt man ja zunächst die Haut. Anlässlich einer Hifi-Recherche im vergangenen Winter meinte ein Fachhändler auf YouTube, beim Kauf von Boxen solle man sich vor Spontankäufen hüten, denn das Hörvermögen sei von der Tagesform abhängig. Aha – noch andere Faktoren sind also maßgeblich als nur die Dicke des Geldbeutels! Na klar, die Sinne spielen stets ihr eigenes Spiel. Daher vielleicht die Schwellenangst: kann ich das überhaupt verdauen, was mir dargeboten wird? Von der Schwelle nun zum Rückstau: Mir fiel oft auf, wenn ich die Gitarre zur Hand nehme, dass ich stets verdutzt bin von der Schönheit des Klanges und der Faszination, eigene Töne hervorzubringen zu können. Ich bin sofort im fragenden Dialog mit der Klangwelt, je einfacher, je besser. Ein E-Moll Akkord, bewusst gespielt, eröffnet einen Kosmos. Dann jedoch wird’s heikel: man will zuviel, schliesst den Rekorder an, dazu Effektgeräte, Spur wird auf Spur gelegt, man ist berauscht. Der Backlash aber: alles schon gehabt, mediokres Zeugs, baden in Klischees. Nee, dann lieber einen Mollakkord anschlagen, Schuster bleib bei deinen Leisten, das kurze Hier und Jetzt. Ein John McLaughlin wirst du eh nicht mehr. Und doch, die Klangwelt folgt mir wie ein Schatten. „Ich bin, weil ich Gitarre spiele“ – das sagte schon Descartes, wenn ich mich nicht irre. Oder war’s Karl May?
Der Mann ist die Show – unter anderem zu bewundern im aktuellen Dresden-Tatort. Ein Typ, von dem man den Anschein hat, dass er permanent übergriffig wird, vor allem (aber nicht nur) gegenüber Frauen. Seine beiden Kommissar-Kolleginnen haben es nicht einfach mit ihrem Chef, dem Paradebeispiel für die Generation des alten weissen Mannes mit längst abgelaufener Halbwertszeit und Sugar-Daddy Attitüde. Beim Verhör schreit er unvermittelt, stets dem cholerischen Ausbruch innig verbunden, so wie dem Kutscher permanent die Pferde durchgehen, eine junge Schülerin an, dabei mit dem Gesicht ganz nah dran: „Ja, merken Sie denn nicht, junges Frollein, dass wir hier auf Ihrer Seite sind!“ Er bekommt dann auch schnell den Platzverweis: „Chef, Sie gehen am besten mal raus und wir machen das hier weiter.“ Keiner kann so akurat den Lodenmantel an den Haken hängen, dabei die Untergebenen zur Drecksarbeit delegieren, derweil er sich ja um „die Presse“ oder andere höhere Aufgaben kümmern muss. Seit langem kennt man den aus Funk und Fernsehen bekannten deutschen Schauspieler, genial in der Darstellung des Unsympathen. Ich sah in mal in einer Talkshow und war verwundert, dass er privat das Gegenteil zu sein scheint, was er in seinen Rollen darstellt: ein mitfühlender und sensibler Typ, der wahrscheinlich Rockmusik hört, Yoga macht und sich vegetarisch ernährt. Besteht nicht auch darin der Reiz des Schauspielerberufs, dass man seine Schattenseiten kennenlernt und darstellen kann: der Jekyll & Hyde Effekt? Jede Wette, dass es dem Brambach einen Mords-Spass macht, was er spielt. Als Zuschauer jedenfalls kommt unsereins auf seine Kosten: her mit den Dresden-Tatorts!
„Was kostet den Kopf?“ lautete der Titel einer Jubiläums-Festschrift zu Ehren des Soziologen Dietmar Kamper, dessen Bücher ich einst sammelte wie andere Leute Schallplatten und eigenmächtig zum Kultstatus erhob. Nun, die Zeiten ändern sich, aber der Terror der Bilder und die parasitäre Bemächtigung des Körpers durch den Geist, auf die ja auch der vom Bürgertum vielgescholtene Osho alias Bhagwan Shree Rajnesh einst hinwies, ist immer noch am wirken, stärker als je zuvor. Allerdings, in psychotherapeutischen Kreisen inzwischen bekannt, besteht eine konstruktive Wechselwirkung: der Körper formt den Geist (bottom-up) und der Geist den Körper (top-down). Die Eingangsfrage des geschätzten Soziologen, der ja auch Leistungssportler war in frühen Tagen, zielt wohl eher auf Letzteres und tatsächlich wies er immer wieder darauf hin, auf welch perfide Weise der Körper zugunsten des Geistes das Nachsehen hat. Deshalb werde ich auch nicht müde, meinen Lieblingswitz wiederholt zu zitieren, in dem Jemand einen verlorenen Schlüssel unter der Laterne sucht, obwohl er ihn im dunklen Gebüsch weiter abseits verloren hat. Aber dort sind weder Licht noch Ratio. So ist der Kopf, hat er einmal feste Vorstellungen gefasst, nur schwerlich davon abzubringen. Ich habe es mir mittlerweile abgewöhnt, die Glaubenssätze anderer Menschen anzugreifen, diesem Minenfeld weiche ich aus, soweit es gelingt, behalte meinen Widerspruch für mich. Denn paart sich Sturheit mit Narzissmus, heisst es: die Flucht ergreifen.
2024 27 Juli
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: TV Serien | 11 Comments
Under the Bridge gehört zu den TV-Serien, die durch eine ruhige Erzählart brillieren. Und deshalb freut es mich, doch noch hineingefunden zu haben nach anfänglichen Widerständen – im Gegensatz zu der vielgelobten Serie The Bear. Was bitteschön soll sehenswert sein an einer aufgeheizten Küchenatmosphäre, in der sich alle permanent anschreien? And so I dropped it with a kick. Nee – unter, über und rund um die Brücke läuft’s anders. Einige Teenies aus der amerikanischen Unterschicht wollen Mafia spielen, dabei kommt es zum Tod (unter der Brücke) eines Mädchens, deren Eltern indischer Abstammung zu den Zeugen Jehovas gehören. Die Tochter nimmt Reissaus aus dieser ebenso gottesfürchtigen wie lebensfeindlichen Welt (das eine schliesst das andere oftmals nicht aus, im Gegenteil). Doch ihre Buddy-Bitches erweisen sich als fataler Rettungsanker. Die Serie lehnt an einen Roman an, dessen Autorin in der Serie eine Frau spielt, die in ihr Heimatdorf zurückkehrt, um genau diesen Roman zu schreiben (the trick of the tail). Sie ist noch immer in lesbischer Liebe ihrer Jugendfreundin zugetan, die als Cop mit der Aufklärung des Todesfalls zu tun hat. Beide sind darin verwickelt. Die Spannung der Serie bleibt erträglich – umso besser, denn der Geist kann sich entspannt der Entwicklung von Handlung und Charakteren hingeben. Vielfach ruhige Bilder, Rückblenden, Gespräche, kein unnötiges Puschen mit Reiz-Effekten. Schöne Bilder: I love Amerika, but yet was never there. Jaja, die Drehorte, gern geht man auf televisionäre Reisen. Der Soundtrack ist so gut (beispielsweise auf der Schulabschlussfeier), dass man sich an alte Verliebtheiten zurückerinnert und dabei jeweils den Monoschalter auf Stereo stellt. Auch eine Art Switch (while watching the bitches): es leben die Kontraste.
Ganz dem Strom hingegeben hörte ich in den vergangenen Wochen fast täglich ein Musikalbum. Es hatte sich ein Ritual eingebürgert: abgedunkelter Raum, entspannte Rückenlage, konzentrierter Abflug. Hochauflösende Übertragungsraten machen einen Musikgenuss in Hifi-Qualität möglich, bieten zudem problemlosen und kostengünstigen Zugang zu aktuellen Neuveröffentlichungen, aber auch zu bislang Unentdecktem aus früheren Tagen. Dabei fiel die Wahl zumeist auf das, was im weitesten Sinne als „Jazz“ zu bezeichnen wäre und immer wieder kam dabei die Frage auf: „Warum höre ich überhaupt Jazz und nicht vielmehr Anderes?“ So wie Philosoph Leibniz einst fragte, warum überhaupt Etwas sei und nicht vielmehr Nichts. Man bemüht sich ja, authentisch zu sein und sich nichts vorzumachen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass mein Erleben von Musik immer in Einflussnahme und im anregenden Austausch mit anderen stattfand, denn ich bin kein Autist. Ich erinnere mich an J in Studententagen: stolz präsentierte ich eine Doppel-CD der Kenny Wheeler Bigband als sensationelle Entdeckung, die seiner Meinung nach mit dem Globe Unity Orchestra und den Bands von Sun Ra, Gunter Hampel, Carla Bley und anderen Kalibern nicht ernsthaft konkurrieren konnte. Vernichtendes Urteil: „Du inszenierst ständig etwas, an das du selbst nicht glaubst“. Nun hatte Kenny Wheeler, um aufgeregten Entrüstungen gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen, ganz gewiss seine eigene Qualität, doch darum geht es nicht. Nochmals: „Mag ich wirklich Jazz – und wenn ja: warum?“ Schliesslich ist unsereins ja nicht in New Orleans geboren. Die Spur führt, wie so oft, in Erinnerungen aus Kindheits- und Jugendtagen wie etwa diese: Völlig geflasht von Abbey Road ruft mich der vollbärtige Nachbar, eine Wiese mit der Sense mähend, zu sich herüber: „Was hörst du für Musik?“ Die Beatles! „Vergiss die Beatles, Charlie Parker musst du hören!“ Wie begrüssten wir doch, auf dem abgelegenen Lande aufgewachsen unter einem Bauernvolk, das jeden halbwegs Intellektuellen als spinnerten „Spökenkieker“ misstraute, stets die libertären Einflüsse von Lebenskünstlern aus familiärem Freundeskreis und Nachbarschaft. Auch der etwas ältere Schlagzeuger unserer Band brachte mich schnell auf den rechten Weg, schenkte mir zum vierzehnten Geburtstag neben einer umfangreichen Wichsvorlagen-Sammlung das Album Nefertiti von Miles Davis. „Damitte ma wat Richtiges hörst!“ Obwohl mir die Musik damals zu cool erschien, sprach mich das Cover an, zumal ich mich mit dem dort scheu blickenden schwarzen Trompeter gut identifizieren konnte. Da war die Radiomoderatorin Anne R, befreundet mit dem Charlie-Parker-Nachbarn, die neben John Coltrane, Soft Machine, dem Mahavishnu Orchestra und Flora Purim auch einen gewissen Paul „Mo-zi-en“ lobend früh ins Hörfeld rückte. Im Regal thront ein dickes Jazzbuch von Joachim-Ernst Behrendt, das zu meiner Eingangsfrage sicherlich Antworten parat hätte, eine habe ich aber selbst: man muss ihn hören, hören, hören. Zur Malerei und Bildenden Kunst sehe ich eine Gemeinsamkeit, die mich tief anspricht: es ist die stetige Grenzüberschreitung auf der Suche nach dem Neuen und Offenen, dabei immer in Verbindung bleibend mit geschichtlichen Ursprüngen. So kann man Musik, wie der Kritiker Alex Ross schrieb, auf vielfältige Weise rezipieren: rein sinnlich, intellektuell oder im (historischen) Kontext. Auf die Frage, warum es Menschen gäbe, die Jazz nicht mögen, meinte der Gitarrist Kurt Rosenwinkel: „Maybe they don’t give it a chance.“ Obama proklamierte dagegen vollen Herzens: Jazz, we can.
2024 10 Juni
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 6 Comments
Ein Titel wie bestellt, weil doch Schlaf und Träume so wichtig sind für eine gesunde Gehirn- und Erinnerungsleistung und neben anderen wichtigen Faktoren auch dazu beitragen können, dass wir selbst in höherem Alter noch neue Synapsen bilden können – zudem Vorbedingung, um überhaupt kreative Entscheidungen zu treffen. Sie sind ja auch grossartige Geschichtenerzähler und man wundert sich oft, in welchen Schichten da so gegraben wird und was zutage kommt. Vom Zentrum der Träume geradewegs zum Thema dieses Textes: Der Pianist John Escreet hat im Zusammenspiel mit dem Saxofonisten Mark Turner, dem Bassisten Eric Revis und dem Drummer Damion Reid ein enorm kraftvolles Album vorgelegt. Mir gefällt der markige Anschlag: das volle Pfund. Die Unisono-Passagen von Saxofon und Klavier sind ein Hochgenuss. Das ganze Album bietet diese geniale Spannbreite zwischen Jazzrock (obwohl dies kein Jazzrock ist) und dem freieren Spiel eines Cecil Taylor etwa. Diese Art Musik ist auch ein triftiger Grund, warum ich überhaupt Jazz höre (davon wird hier noch zu schreiben sein). Was mich freut, ist die momentane Neugier, sowohl auf Neuerscheinungen als auch auf das Wiederhören von Bekanntem. Denn man hört eigentlich auch immer anders, wenn man sich selbst verändert. Ein gutes Qualitätsmerkmal ist ja das Vorhaben, etwas noch einmal hören zu wollen (und bei TV-Serien den Staffellauf zu wiederholen). Zum Epicenter der Träume kehre ich garantiert zurück. „Richtig geile Mucke“, wie wir in Hannover sagen (nicht nur die Stadt im Grünen, sondern auch der Grünen, wie der gestrige Wahlausgang zeigt).
2024 3 Juni
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Sylvie Courvoisier | 1 Comment
Ein jeder solle nach seiner Fasson selig werden, meinte der Alte Fritz. Gestern wieder so ein seliger Hörmoment, ganz nach meiner Fasson. Ein Album zum Sich Wundern, Genießen und Wegdriften. Eine schwebend nebulöse Grundstimmung herrscht vor, sozusagen als Grundierung, in die dann „allerhögscht (Jogi Löw) erdige, verdichtete Klangcluster hineindrängen. Der Gitarrist Christian Fennesz sorgt für beides. Im Zusammenklang seiner fuzzytones mit den klaren, kräftigen Piano-Tinkturen von Sylvie Courvoisier ergeben sich erstaunliche Effekte. Wieder so eine Musik, die Lust macht, selbst zu spielen. Das mag auch daran liegen, dass es hier weniger um Virtuosität geht (die vielzitierte „Athletik des Bebob“) als vielmehr um das Erzeugen von Atmosphären. Aber auch afrikanisch angehauchte, obercoole und, sorry: richtig geile Groove-Ansätze schleichen sich ein. Chimaera heisst das Album und um sicher zu gehen, dass ich hier nichts Falsches sage, googele ich vorsichtshalber mal „Chimäre“. Aha, also doch etwas ganz anderes als das gedachte „schemenhaft“. Beides passt, denn gemeint ist ein Organismus, der aus unterschiedlichen Geweben aufgebaut ist. Zwei Trompeten sind dabei, wunderlich genug, doch es macht Sinn. Eine davon spielt Wadada Leo Smith. Die rhythmsection kommt aus dem Umfeld von John Zorn: die erstklassigen Drew Gress am Bass und Kenny Wollesen am Schlagzeug. Eine klare Hörempfehlung! In meiner schemenhaft visualisierten Jahresbestenliste jetzt schon auf den vorderen Plätzen angesiedelt.
Mit dem Buch Das erschöpfte Gehirn fing mein Interesse für neuronale Vorgänge Feuer, fand ich neurowissenschaftliche Auslassungen zuvor doch immer seltsam nichtssagend, redundant und schwer greifbar. Kommt nämlich zu diesen schwer fassbaren Vorgängen auch eine affirmative Grundhaltung des Positiven Denkens hinzu, schaltet mein Interesse ganz schnell auf Stand-By: den Schlafmodus. Das Buch des renommierten Genforschers Michael Nehls hingegen liest sich spannend und wirkt nachhaltig, da es auch eine Menge Zeit- und Gesellschaftskritik enthält. Der Arzt beschreibt beispielsweise, wie wichtig ausreichend Schlaf sei zur Regeneration, Kreativität und Lernfähigkeit. Dass auch Bewegung, gesunde Ernährung und die Versorgung mit essentiellen Mikronährstoffen, die fälschlicherweise immer als „Nahrungsergänzungsmittel“ bezeichnet oder diffamiert werden, dazugehören, versteht sich von selbst. „Du musst dein Leben ändern“ – so betitelte der Philosoph Peter Sloterdijk ein Buch, in dem es um die Wichtigkeit von Übungen („Disziplin“) geht. So what? Inwieweit wirken Informationen und Wissen auf mein alltägliches Leben? Entstehen neue Handlungsmuster? Ein ganz wichtiger Aspekt ist hier der Unterschied zwischen dem automatischen Modus und dem Lernen neuer Handlungsweisen. Daniel Kahnemann bekam den Nobelpreis für seine Erkenntnisse über langsames und schnelles Denken. Handeln in tief verankerten Automatismen nennt man den Zombiemodus. Der ist durchaus gewünscht, denn nicht in jeder Kaffeetasse, die aus dem Schrank fällt, erblicken wir den Angriff eines Säbelzahntigers. Nach fünfzehn Jahren Abstinenz fahre ich nun wieder Auto und bin verblüfft, wie tief einst erlernte Handlungsmuster sitzen. Eine längst verloren geglaubte Welt taucht wieder auf. Partizipiert man hier nicht, fühlt man sich schnell als Aussenseiter im urbanen Raum einer automobilen Dominanz (und auf dem Lande wahrscheinlich ziemlich abgehängt). Als ich einst nach zehn Jahren Spielpause die Gitarre wieder zur Hand nahm, stellte ich fest, dass ich immer noch gut spielen kann. Höre ich ein Musikalbum nach mehreren Jahrzehnten, weiss ich sofort: das kennst du schon! Wo sind solche Erinnerungen abgespeichert? In tiefen archäologischen Schichten, in den Verschaltungen von Synapsen, so vermute ich. Jeder Mensch kann sich tatsächlich fragen: wie kommt das Neue in meine Welt? Wie lerne ich neue Handlungsmuster? Und zwar in realtime und nicht per gutgemeintem Vorsatz! Ohne Wagnis ist das nicht zu machen, da schlafen wir bald ein. Ist leider so. Kurz nach dem Abi war Georg Danzer mein favorisierter Songbarde, ich war sogar auf einem Live-Konzert in der Bremer Stadthalle. Im besten Wienerisch sang der: „Schloaf net ein und bleib wach!“ Kleine Korrektur nach fünf Jahrzehnten: Schlaf gut ein, dann bleibst du wach.
Voller Erwartung lege ich die für zweihundert Euro günstig erworbene Edelvinylscheibe eines bekannten Jazzpianisten auf meinen Plattenteller, öffne dazu einen Jahrzehnte alten Vino Tintoretto und „fresse dazu Marzipan“ (Wilhelm Genazino). Okay, ganz so stilvoll ist es nicht und der Pianoplayer kommt per Streaming rüber: willkommen in den Niederungen der Alltagsbanalitäten. Erstaunlicherweise stelle ich da fest, dass das virtuose Spieluhrgeklimpere mir ein Gefühl von Langeweile und Gefangensein vermittelt. Ich suche nach frischen Impulsen, die aufmunternd sind. Bei der Gelegenheit ein Loblied auf das Streaming generell: es gibt ja mittlerweile hochauflösende Streamer, die sich mit der Hifi-Anlage koppeln lassen und sogenannte Smartphone-Qualität bei weitem übertreffen. Der Pilgergeist vergangener Tage beim Durchstöbern der Plattenläden hatte seinen Reiz, doch diese technisch-digitale Möglichkeit unmittelbarer Verfügbarkeit bietet neue Muster der Rezeption, die sich durch Rituale zudem gut strukturieren lassen. Beispielsweise kann man den Werdegang eines Künstlers sich stückweise erschliessen. Sind es beim Wandern die Ortskenntnisse, so sind hier Namenskenntnisse erforderlich. Was will ich hören, welche Spur verfolgen? Gebe ich etwa „Tyshawn Sorey“ in die Suchleiste ein, werde ich eigentlich immer fündig. Solche Musiker haben mein Urvertrauen: wo sie dabei sind, ist es gut. Erstmals auffällig wurde mir der Schlagzeuger und Pianist auf einem Album von Steve Coleman, wo er im Zusammenspiel mit dem Bassisten Thomas Morgan einen enorm kraftvollen Grundbeat hinzauberte. Auf dem Album Archaisms II nun findet sich eine wunderbare Melange aus Jazz, Weltmusikschnipseln, Zen-Geist, Perkussion (Reminiszenzen an Nana Vasconcelos), Neuer Musik, die in ihrem eruptiven Gestus an Wolfgang Rihm erinnert, ohne jenes elitäre Milieu der Klassik zu evozieren, das mir gehörig auf den Geist geht (hab’s nicht so mit Wagner, Bruckner läuft auch eher nebenher). Eine Entdeckung auch: die italienische Pianistin Simona Premazzi. Sparsam lyrische und liedhafte Elemente verweben sich mit einer gehörigen Portion aus kinetischem, freiem Spiel. Die tonnenschwere Wucht des Flügels, man darf sie spüren. Deshalb mag ich auch den Pianisten Vijay Iyer. „Jetzt bloss nicht lyrisch werden!“ mag man rufen. Bleib dabei und sei das freie Ei. „Jetzt bloss nicht albern werden!“ ermahne ich mich selbst und kriege knapp die Kurve, das Themenfeld nicht zu verlassen. Von Melissa Aldana wollte ich nämlich noch erzählen: ich hörte nun alle ihre Alben in den letzten Tagen. Wäre es nur ihre aparte Erscheinung, die mich an eine grosse Jugendliebe erinnert, käme erneut das Vergangenheitsselige ins Spiel. Nein, ihre teilweise sehr zurückgenommenen Töne werden sanft ins Hier und Jetzt geflüstert. Sie täuschen, denn hinter diesem Understatement verbirgt sich Wunderkindcharakter. It runs in the family: Die chilenische Musikerin spielt das Tenorsaxophon ihres Grossvaters und im Alter von sechs Jahren bat sie ihren Vater, ebenfalls ein Saxofonist, ihr ein Charlie Parker Solo zu transkribieren. Das sind so die Stories am Rande, sie garnieren ein Interesse, das zentral bleibt: die Lust am Hören von neuer Musik.