Ganz dem Strom hingegeben hörte ich in den vergangenen Wochen fast täglich ein Musikalbum. Es hatte sich ein Ritual eingebürgert: abgedunkelter Raum, entspannte Rückenlage, konzentrierter Abflug. Hochauflösende Übertragungsraten machen einen Musikgenuss in Hifi-Qualität möglich, bieten zudem problemlosen und kostengünstigen Zugang zu aktuellen Neuveröffentlichungen, aber auch zu bislang Unentdecktem aus früheren Tagen. Dabei fiel die Wahl zumeist auf das, was im weitesten Sinne als „Jazz“ zu bezeichnen wäre und immer wieder kam dabei die Frage auf: „Warum höre ich überhaupt Jazz und nicht vielmehr Anderes?“ So wie Philosoph Leibniz einst fragte, warum überhaupt Etwas sei und nicht vielmehr Nichts. Man bemüht sich ja, authentisch zu sein und sich nichts vorzumachen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass mein Erleben von Musik immer in Einflussnahme und im anregenden Austausch mit anderen stattfand, denn ich bin kein Autist. Ich erinnere mich an J in Studententagen: stolz präsentierte ich eine Doppel-CD der Kenny Wheeler Bigband als sensationelle Entdeckung, die seiner Meinung nach mit dem Globe Unity Orchestra und den Bands von Sun Ra, Gunter Hampel, Carla Bley und anderen Kalibern nicht ernsthaft konkurrieren konnte. Vernichtendes Urteil: „Du inszenierst ständig etwas, an das du selbst nicht glaubst“. Nun hatte Kenny Wheeler, um aufgeregten Entrüstungen gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen, ganz gewiss seine eigene Qualität, doch darum geht es nicht. Nochmals: „Mag ich wirklich Jazz – und wenn ja: warum?“ Schliesslich ist unsereins ja nicht in New Orleans geboren. Die Spur führt, wie so oft, in Erinnerungen aus Kindheits- und Jugendtagen wie etwa diese: Völlig geflasht von Abbey Road ruft mich der vollbärtige Nachbar, eine Wiese mit der Sense mähend, zu sich herüber: „Was hörst du für Musik?“ Die Beatles! „Vergiss die Beatles, Charlie Parker musst du hören!“ Wie begrüssten wir doch, auf dem abgelegenen Lande aufgewachsen unter einem Bauernvolk, das jeden halbwegs Intellektuellen als spinnerten „Spökenkieker“ misstraute, stets die libertären Einflüsse von Lebenskünstlern aus familiärem Freundeskreis und Nachbarschaft. Auch der etwas ältere Schlagzeuger unserer Band brachte mich schnell auf den rechten Weg, schenkte mir zum vierzehnten Geburtstag neben einer umfangreichen Wichsvorlagen-Sammlung das Album Nefertiti von Miles Davis. „Damitte ma wat Richtiges hörst!“ Obwohl mir die Musik damals zu cool erschien, sprach mich das Cover an, zumal ich mich mit dem dort scheu blickenden schwarzen Trompeter gut identifizieren konnte. Da war die Radiomoderatorin Anne R, befreundet mit dem Charlie-Parker-Nachbarn, die neben John Coltrane, Soft Machine, dem Mahavishnu Orchestra und Flora Purim auch einen gewissen Paul „Mo-zi-en“ lobend früh ins Hörfeld rückte. Im Regal thront ein dickes Jazzbuch von Joachim-Ernst Behrendt, das zu meiner Eingangsfrage sicherlich Antworten parat hätte, eine habe ich aber selbst: man muss ihn hören, hören, hören. Zur Malerei und Bildenden Kunst sehe ich eine Gemeinsamkeit, die mich tief anspricht: es ist die stetige Grenzüberschreitung auf der Suche nach dem Neuen und Offenen, dabei immer in Verbindung bleibend mit geschichtlichen Ursprüngen. So kann man Musik, wie der Kritiker Alex Ross schrieb, auf vielfältige Weise rezipieren: rein sinnlich, intellektuell oder im (historischen) Kontext. Auf die Frage, warum es Menschen gäbe, die Jazz nicht mögen, meinte der Gitarrist Kurt Rosenwinkel: „Maybe they don’t give it a chance.“ Obama proklamierte dagegen vollen Herzens: Jazz, we can.