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2024 21 Mai

Der Sprung in den anderen

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 11 Comments

 

 

Wer oder was blickt uns hier an?

Ein Ziegenbock? Der Teufel? Ein Hybridwesen – weder der einen noch der anderen Welt so ganz angehörig? Und wie wirkt der Blick auf uns? Wie der Blick eines Menschen, der sich noch an einen Vorsprung klammert, während die Beine schon den Halt über dem Abgrund verloren haben. Der noch nicht weiss, ob er sich festhalten will oder lieber loslässt, aber mit den Augen eine letzte Botschaft hinterlassen will. Eine kaum erträgliche Intensität, die fast schmerzt. Was würde er als letztes noch sagen wollen? Soll der Blick festhalten, wenn die Hände schon losgelassen haben? Er scheint sich in die Augen des anderen bohren zu wollen. Erst wenn ich gesehen werde, weiss ich dass ich bin. Erst wenn ich in einem anderen lebendig werde, weiss ich dass ich lebendig bin. Ein Fluch, den anderen so sehr zu brauchen.

Ein Blick wie ein Sprung in den anderen.

 

 

 

Quelle: Anonymer Maler, um 1926. Prinzhorn Sammlung „Bildnerei der Geisteskranken“, Heidelberg

 

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11 Comments

  1. Uli Koch:

    Viele Bilder der Prinzhorn Sammlung haben eine ganz besondere Magie, die durch ihre Intensität und Unmittelbarkeit den Betrachter direkt hineinzieht in eine Welt des Unheimlichen, ja oft Beklemmenden, das sich tief in den Hirnwindungen von Menschen befindet, die krankheitsbedingt ein ganz besonderes, oft sehr ungewöhnliches Verhältnis zur restlichen Welt haben. Und gerade durch die gemalten Augen schauen sie uns wie durch einen Spiegel geisterhaft an und teilen uns etwas von ihrer Sicht, aber auch ihrer Verzweiflung und Verwunderung mit. Schön, dass Du sie uns in Erinnerung rufst.

  2. Ursula Mayr:

    Ich werd heuer mal hinfahren und mir das ganze in Lebensgrösse ansehen.

  3. Lajla:

    „Aus dem psychiatrischen Museum zu Bern“ ist ein früherer Post von mir.

    Ich wandelte damals dort auf Robert Walsers Spuren. Der Besuch war erschütternd. Dort werden u.a. die Foltergeräte gezeigt, mit denen man psychisch Kranke behandelte. Auch ihr künstlerisches Schaffen ist dort zu betrachten. Ich denke, dass die Malerei keine eindeutige Diagnose einer psychischen Erkrankung zulässt, die Fotografie dagegen schon eher.

  4. Ursula Mayr:

    Du meinst die Portraitfotografie …?

  5. Jochen:

    Walsers symbiotische Beziehung zu seiner (depressiven) Mutter soll für sein Schaffen konstitutiv gewesen sein, lese ich gerade. Schau, schau …

  6. Ursula Mayr:

    Jedenfalls geht er mit Frauen sehr verehrend um.

  7. Lajla:

    Genau, Portraitfotografie.

    Kafkas Mutter und Großmutter waren auch schwer depressiv. Gibt es eine Erklärung für die Produktivität eines Künstlers aus depressivem familiärem Umfeld?

  8. Ursula Mayr:

    Nicht wirklich, denn die Sache ist nicht umkehrbar, depressive Mütter erzeugen nicht automatisch einen Künstler. Babys mit depressiven Müttern entwickeln aber spezifische Abwehrmechanismen, um den fehlenden emotionalen Rapport zur versteinerten Mutter zu ersetzen – entweder durch Gebrauch des eigenen Körpers zur Selbststimulation (Kopfschlagen, Onanie, Daumenlutschen, Schaukeln) oder durch eine sich früh entwickelnde Phantasietätigkeit, mit der sie sich ein real abwesendes Liebesobjekt phantasmisch wieder zurückholen.

    Wichtig ist die Dosierung, ist das Kind zuviel alleingelassen brechen diese Hilfskonstrukte zusammen und es wird selbst depressiv. Wird das Kind überbetüttelt und bekommt sofort jeden Wunsch erfüllt, entwickeln sich diese Strukturen nicht, da entstehen keine Strategien um Missempfindung zu bewältigen, keine Frustrationstoleranz, keine den Mangel kompensierende Phantasietätigkeit und damit auch Symbolisierungsfähigkeit, die wollen jetzt alles gleich und sofort und möglichst viel davon und werden gleich wütend und unkontrolliert, können das Leben nicht bewältigen und suchen das Glück z. B. im Rausch. Heutzutage ein oft anzutreffendes Bild bei Jugendlichen.

    Zum Künstlertum prädestiniert das nicht, eher das Gegenteil – wenn noch der Funke Genie dazukommt … der ist aber schwer erklärbar.

  9. Ursula Mayr:

    Lies mal „Die Verwandlung“ unter der Prämisse, es könnte sich um ein emotional verlassenes Kind handeln, das die Situation altersentsprechend mental nicht einordnen kann und sich wie ein ekelerregendes Insekt fühlt.

  10. Jochen:

    Von Kafka gab es kürzlich diese anrührende TV-Serie zu sehen, die mir sein Leben näherbrachte. Der Schriftsteller hatte eine depressive Mutter und einen cholerischen Vater, der seinen Sohn verachtete. Kennt jemand noch Wolfgang Menges Ekel Alfred?

    Oft war ja die familiäre Situation die eines patriarchalen Paschas als Familienoberhaupt und Ernährers. Die Mütter waren gefügig und unemanzipiert, manchmal auch wie die Söhne musisch veranlagt. Die Väter vertraten dagegen das „Realitätsprinzip“.

    Gemeinsam litt man unter der rigiden und nicht selten auch zur Gewalt neigenden Dominanz des Vaters. Solidarität unter Opfern.

  11. Ursula Mayr:

    Ekel Alfred guck ich heut noch gern … funktionierte gut in seiner Zeit …

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