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2024 5 Feb

Zeitdiebe und Stundenblumen

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  | 4 Comments

Während das letzte Blatt von Momos eigener Stundenblume abfiel, begann mit einem Mal eine Art Sturm. Wolken von Stundenblumen wirbelten um sie her und an ihr vorüber. Es war ein warmer Frühlingssturm, aber ein Sturm aus lauter befreiter Zeit.

Michael Ende

 

An einem stürmischen Februarmorgen verstarb kürzlich der Sozialphilosoph Oskar Negt, ein Kind der Stadt Hannover. Er kam mir einmal auf dem Bürgersteig der Bödekerstrasse entgegen und machte schon von weitem Eindruck: klein von Statur, wirkte er dennoch gross, trug eine Welt in sich. Aufrecht zugewandt, mit offenem Gesicht, nickte er mir leicht zu, wie einer, der es gewohnt ist, dass man ihn kennt. Dennoch fühlte ich mich seltsam geehrt, beflügelt. Ich erinnere mich an sein Gespräch mit Alexander Kluge, fand es bemerkenswert und gut, dass ein Sozialist auch seinen Heidegger parat hat. Sein Buch Arbeit und menschliche Würde hatte ich mehrmals vergeblich zu lesen begonnen: es ist komplex und anspruchsvoll, voller geschichtlicher Bezüge. Aber das Kapitel „Der Zwangszusammenhang von entfremdeter Arbeit, Freizeit und Faulheit“ ist sehr konkret. Man könnte es als einen argumentatorischen Gegenpol zu den beständigen Polemiken gegen faule Arbeitslose lesen, wie sie immer wieder herrschaftsträchtig instrumentalisiert werden von all den Sarrazins, Lindners und Merzen. Aber auch von Gerhard Schröder, einem Freund Oskar Negts aus alten Tagen, der ja bekanntlich meinte, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen. Sollte etwa der verbrecherische Putin essen, Genosse Gerd, der abertausendfach blutjunge Männer im Angriffskrieg verheizt? Denk nochmal drüber nach – ansonsten mach dich vom Acker! Im letzten Kapitel seines Buches bezieht sich Oskar Negt auf Michael Endes Buch Momo. Zeitdiebe gibt es in vielen Formen: Werbung, Propaganda, idolisierende Identifikationen, Fliessbandarbeit und all jene Jobs, in der sich Menschen im Dienste des Profits aufreiben, um dann letztlich durch Maschinen, Robotik und künstliche Intelligenz ersetzt zu werden. Oskar Negt hatte einst bei Adorno studiert. Man sollte nicht davon ablassen zu fragen, was denn das Falsche sei im sogenannten wahren Leben. „Kritisches Denken“ könnte man das nennen, es geht mit der Neugier einher und dem Verdacht, dass nicht alles genauso abläuft, wie es einem vorgegaukelt wird. Jede Philosophie beginnt mit dem Stellen einer Frage, im Grossen wie im Kleinen. Wie gesagt, Oskar Negt war gross.

 

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4 Comments

  1. Olaf Westfeld:

    Bin gerade dabei, eine Theaterversion von Momo zu lesen und hoffe Schüler*innen dazu zu motivieren, es auf die Bühne zu bringen.

    Oskar Negt ist mir in der Eilenriede häufig begegnet, mit seinem Hund. Ich vermute, dass er Nähe Lister Platz wohnte – passt ja zur Bödekerstraße. Und ja genau, treffend formuliert: er war es gewohnt, gekannt zu werden, so kam es mir auch vor.

  2. Jochen:

    Yep – nähe Lister Platz war’s.

    Momo ist zeitlos.

  3. Olaf Westfeld:

    Nochmal treffend: zeitlos passt bei Momo wirklich genau. Ich hoffe, die Jugendlichen sehen das ähnlich, einigen scheint es nicht „cool“ genug zu sein.

  4. Jochen:

    Die zeitaktuelle work-life-balance mit der Weigerung, sich grenzenlos Lebenszeit abkaufen zu lassen, das ist doch Momo pur :)


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