„We met in the summer and walked ‚til the fall
And breathless we talked, it was tongues.
Despite what they’ll say, it wasn’t youth, we’d hit the truth“– Aztec Camera, Walk Out To Winter
Diese drei kleinen Begebenheiten fielen mir ein, als ich vorhin Seite 1 des Doppelalbums „A Light For Attracting Attention“ von „The Smile“ auflegte, und nach einem sehr interessanten Email-Pingpong, in den letzten 24 Stunden, zwischen Henning und mir. Henning lebt in Amsterdam in einer pulsierenden Musikszene, und ist mehr an diesen Orten des Live-Musizierens unterwegs als daheim allein mit seiner Hifi-Anlage. Ich hingegen gehe viel sparsamer mit Konzert- und Festivalbesuchen um (sehe mich auch als Journalist in der Rolle eines Einzelgängers, all meiner Kommunikationsfreude zum Trotz), und ziehe all dem kreativen Trubel oft das Verweilen in meiner „elektrischen Höhle“ vor. Zwischen den folgenden Episoden gibt es Schnittmengen, etwa die Präsenz einer Einkaufstasche in meiner Hand, gute Musik (real oder virtuell), und London, mal in hellem Tages-, mal in wärmendem Kunstlicht.
In der ersten Erinnerung gehe, stromere ich Westbourne Grove entlang (Damon Albarn hat mal einen wunderbaren Song über die Historie dieser Londoner Strasse geschrieben) und lande nah der Metro-Station, auf deren Namen ich gerade nicht komme (Bayswater vielleicht?) in einem modernen „paper and pencil“-Shop. Was hören meine Ohren auf einmal, aus diskret angebrachten Lautsprechern? Eine Musik, weit davon entfernt, die übliche Berieselung abzuliefern: „Hail To The Thief“ von Radiohead (das Album war gerade frisch erschienen, ich hatte die Cd noch gar nicht gehört, sollte sie erst daheim in Dortmund in meinem Briefkasten finden). Ich sperre also meine Ohren sperrangelweit auf und erfreue mich an federfüssig vibrierendem Getrommel und Thom Yorkes darüber hinweggleitenden Singsang. Das Licht in dem Geschäft, warmes Kunstlicht, ist eine Wohltat im Umfeld dieser Klänge, und ich kaufe Briefpapier, hellblaues und sandfarbenes, so berauschend in jenen Minuten, wie die Farbenpracht des Covers von „The Smile“.
Die zweite Episode, ein paar Jahre früher, führt mich in die Portobello Road, wo wieder mal Strassenmarkt ist. Es gibt ein paar kleine „record shops“ da, und in einem finde ich (die viertel Melone, die ich gerade gekauft habe, verstaue ich etwas tiefer in meiner Papiertasche) ein Bündel Les Baxter-Platten, voller farbgesättigter Motive, Einblicke in ferne Welten, so, wie unser „Exotica“-Spezialist eben, mit einem sehr westlichen Blick, und einem Glas Martini mit Eis neben dem Steinway, sein privates Afrika imaginierte.
Aber viel tiefer berührt mich, als ich ein paar Hausnummern weiter einen kleinen Friseurladen entdecke (man muss erst mal ein paar Stufen runtergehen, um ihn zu betreten), und einem „traumhaften“ Popsong lausche. Alle Plätze sind besetzt, und einen neuen Haarschnitt brauche ich auch nicht. Dieser Song ist nicht einfach traumhaft in der Art von „ganz nett in dieser Hitze zu hören, an einem schattigen Plätzchen, mit Ventilator“. Und auch wenn ich kurz darüber nachdenke, was mich in das Lied hineinzieht, und journalistische Reflexe einsetzen a la „irgend so ein Indie-Juwel einer unbekannten Band aus den Achtzigern“, oder „hey, so deep wie ein Song aus dem ersten Album von Aztec Camera“, bleibe ich einfach wie verzaubert stehen, ehrlich jetzt, und obwohl es ein Leichtes wäre, jemanden mit Schere und Fön nach dem Track zu fragen, mache ich nichts dergleichen, und traumwandle (under a spell / enchanted / speechless) nach dem fade-out zurück zu den Marktständen. Roddy Frame war es nicht, es war, gottweisswer, Anonymous & The Painbreakers.
Mittlerweile läuft der luftige Dub-Ambient-Flow des Doppelalbums „360 business / 360 bypass“ von Pan-American auf meinem Plattenspieler, und ich hole mir ein Fläschchen Sinalco aus dem Keller. Die dritte Episode stammt aus dem Sommer 1993 (?), und ich bin unterwegs in einer Ecke von London, deren Strassennamen ich gerade nicht parat habe. Wieder betrete ich einen „Paper and Pencil“-Shop und sehe eine Frau mit fesselndem Pagenschnitt, die mir auf den ersten Blick anmutig, attraktiv und intelligent erscheint. Ich warte auf einen günstigen Moment, sie in ein Gespräch zu verwickeln, um sie – idealerweise – zu meinem „scout“ zu machen, die mir die Strassen von London zeigen soll, wie in dem Song von Ralph McTell. In dem Evergreen geht es viel dunkler zu als manche Nostalgiker denken, ich bin aber auch bereit für die dunklen Ecken von Eastend, wie mein alter Freund, der Protagonist von Ernst Augustins wunderbarem Roman „Eastend“ (das Rot der Ausgabe der Reihe „Suhrkamp Taschenbuch“ leuchtet gerade so „zinnoberisch“ auf wie das Rot des archetypischen Londoner Doppeldeckerbusses).
Ich bin also bereit, das Spiel zu eröffnen, „auf dem Sprung“, da höre ich aus dem hinteren Ladenteil jemanden „Michael“ rufen, und es ist Brian Eno. Wir sind für den Nachmittag verabredet, um uns über „Neroli“ zu unterhalten, und er merkt, dass ich ein, zwei Takte lang „off balance“ bin, fragt mich, ob er mich gerade gestört habe, und ich antworte ihm, mit einem Schmunzeln, ich hätte bloss meine Reiseführerin entdeckt („the travel guide of my dreams“), spiele aber, wohl zurecht, die Tiefe der Anwandlung herunter. Wir machen herzlichen „small talk“, ich kaufe zehn Blätter sandfarbenes Briefpapier, meine „Liebesgeschichte“ hat sich natürlich verflüchtigt, und wenige Stunden später sitzen wir in seinem alten Studio, unweit seines Häuschens in Maida Vale, und Brian erzählt von seiner jüngsten Parfümmischerei, von der technischen Seite seiner zwei Alben mit Harold Budd (ich komme mir vor wie in einem Kapitel aus Robert Pirsigs „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“), und von einem Orangengarten in Marokko.