Oder: ECM Double Talk (20) – Jan Garbarek-Bobo Stenson Quartet: „Witchi-Tai-To“ & „Dansere“
Einige Male habe ich Jan Garbarek live erlebt, aber das unvergesslichste Konzert war das in Münster, im Westfälischen Landesmuseum, Mitte der Siebziger Jahre. Es war die Zeit jenes Quartetts, das Jan Garbarek, Bobo Stenson, Palle Danielsson und Jon Christensen bildeten. Hockten wir da alle auf dem Boden im gut gefüllten Rund, oder sassen wir auf Stühlen? In der Erinnerung sehe ich mich auf dem Boden, neben mir zwei Kommilitonen, die ich aus Proseminaren der Germanistik kannte – einer erzählte vor Beginn des Auftritts von einem kleinen Roman, den er gerade schreibe (später hörte ich von seinem Suizid). Es war die Zeit florierender Kleinkinos, und man musste in Münster nicht weit gehen, um Leuchttafeln mit den Namen von Fellini-, Pasolini- und Godardfilmen zu sehen. Zu dem Zeitpunkt besass ich bereits alle frühen ECM-Platten mit Jan Garbarek, und erinnere mich just, wie auch die „Sounds“ damals einen längeren Text über den „kühnen Sound aus dem hohen Norden“ veröffentlichte (ich kaufte die Ausgabe in der Bahnhofstrasse auf Borkum um verschlang des Text im Gehen, auf dem Weg zu Meer). Ich war Feuer und Flamme für die Band, und endlich bekam ich sie live dargeboten. Auch das zweite Album der Gruppe war unlängst erschienen, „Dansere“, auf dem Jan die Quellen der eigenen Folklore anzapfte. Das Titelstück von „Dansere“ zählte von früh an zu den „set songs“ des Norwegers – die Frische, die Waghalsigkeit, die Unbekümmertheit, mit der das Quartett durch seines Kompositionen pflügte, riss uns zu manchem Begeisterungssturm hin. Es muss abends gewesen sein, und an solchen Veranstaltungsorten wohl Schatten vertreibendes Neonlicht herhalten, eigentlich eine ernüchternde Lichtkulisse, kein ideales Ambiente. Der Boden war hart, die Architektur funktionell, doch das scherte uns wenig. Hätte ich damals nur gewusst, wie man die Zeit anhalten, und sich ganz und gar einrichten kann in Jahren, die 1974, 1975 und 1976 heissen, und, statt stur linear voranzuschreiten, einen munteren Kreislauf zelebrieren, in denen wir an jedem Tag gewusst hätten: wir geben alles, wir fangen noch einmal an, wir proben heute eine andere Wirklichkeit, wir werfen Gras hoch. Ich wäre 1975 erst nach Kronach gereist, zum dortigen Auftritt von Keith Jarrett, ich wäre eine Woche später in Köln mit dabei gewesen. Es war eine Zeit fortlaufender Feuerwerke in der Musik, Funken und Glut für alle Tage. Es war eine Gegenwelt zum Fassbinder-Grau, und anderen Ernüchterungen. Die Verlangsamung der Zeit zumindest war realistisch, manches ECM-Adagio tat seinen Part dazu, auch Brian Eno sorgte bald dafür, dass wir uns, wenn wir den Dreh raushatten, auf Flughäfen in Zeitlupe bewegten. Meine Blicke folgten den singenden Bögen von Jan Garbarek. Alles war so neu, und hatte noch keine Patina angesetzt aus Erinnerung und gut abgelagertem Wissen: der Zauber der frühen Jahre. „Witchi-Tai-To“ lief endlos, endlos. Fast eine ganze Seite, zwanzig zeitlose Minuten, waren einer Komposition von Don Cherry vorbehalten, „Desireless“. Das Gras fliegt noch immer durch die Luft.