Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2022 1 Jan

Umherlaufend

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 7 Comments

 

Diskurse umschwirren mich wie Motten das Licht. Einer ist der von der „künstlichen Intelligenz“. Hier sollte man die Musik betrachtend einbeziehen. Wenn mir ein Song gefällt, dann höre ich ihn wohl weit über Hundertmal, er bietet mir dann Zuflucht sozusagen. Ich renne also nicht von etwas weg, sondern horche in etwas hinein, versuche jede Nuance nachzuahmen. Auf einer Bank vor der faszinierenden Silhouette des Ihmezentrums mal wieder sinnierend sitzend, dabei die scheinbar sinnlos umherlaufenden Tauben betrachtend, kommt also folgender grossartige Geistesblitz: der Gesang von Taylor Swift und Ed Sheeran in dem Song „Run“ wäre, abgesehen von der mathematisch leicht feststellbaren Akkordfolge, nicht annähernd von einem noch so weit entwickelten Computer zu kopieren, weil ihm Emotionen innewohnen, die ich als warmhearted american Country Coolness umgehend ins Guinessbuch der Rekorde eintragen liesse. Auch rhythmische Feinheiten: mit Null und Eins nicht darstellbar. Künstliche Intelligenz ist Lichtjahre entfernt von jedem subtilem Empfinden. Ein weiterer Diskurs ist das Motiv des „Weniger ist Mehr“, das heute höher denn je am Zenit des Bedeutungshorizonts erscheint, in Zeiten des Klimawandels. Bevor ich aber irgendeinen schlaumeierischen Verriss zu Harald Welzers neuem Buch Nachruf auf mich Selbst lese, werde ich es zunächst einmal selbst lesen. Der Autor kommt aus Hannover, kennt sicherlich das Ihme-Zentrum, und ich hatte, wenn ich ihn im Fernsehen sah, stets das Gefühl: den kennst du doch! Eines vorweg: wie Ciorans guter Freund einst kein Nirvana ohne Kaffee wünschte, käme für mich kein „Weniger ist Mehr“ infrage ohne die generelle Ambivalenz des Konsums als auch unser grundlegendes Verlangen nach Kontinuität mit in Betracht zu ziehen. Fatal ist doch: die meisten Dinge, die wir angesammelt haben, überleben uns. Mir kommt zunehmend mehr abhanden. Im Bloch-Jargon gesprochen: ist, was wir haben, überhaupt noch in unserem Besítz?

 

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7 Comments

  1. Uwe Meilchen:

    Die Weisheit, dass wir nicht die Dinge besitzen, sondern die Dinge besitzen uns, die ist mir schon öfter unterkommen. Und natürlich lenkt der Konsum von so vielem ab, nicht nur zu Corona Zeiten.

  2. Michael Engelbrecht:

    Nun lassen wir mal die Kirche im Dorf, und die Seele auch mit klug zelebriertem Konsum baumeln 🎅

    Jo kann das sehr gut mit seinen „Wimmeltexten“, die oft viele Themen reihen und schichten. Mehr Schichten als eine formidable Lasagne al forno. Er (als Denker) bevorzugt die gedankengeleiteten Wimmeliana, ich die erzählgeleiteten Schichttexte. An guten Tagen wimmelt es in beiden Texttypen ganz vortrefflich.

    Ich habe einen neuem Wimmeltrick: 25 Plattenbesprechungen werde ich in diesem Jahr verfassen („wimmeln“), und in die richtige Reihenfolge gebracht, ergeben sie meine TOP 25 (das ist der Plan, aber was sind schon Pläne?) Kurz vor Nikolaus erscheinen alle 25 in einem riesengrossen „Gewimmel“.

    A propos Konsum und Kreation: Ein Auto brauche ich dringend, und all meinen Gebrauchten waren stets Flops. Also muss wohl ein neuer Toyota her, schwarz oder blau metallic, denn nur meditieren allein und Bergwandern wäre mir zu wenig. Ich plane Überraschungsreisen im Land, zu Menschen, die irgendwann meinen Weg kreuzten. Ein road movie in Zeiten der fünften und sechsten Welle: sounds like an adventure.

  3. Jochen:

    Es geht immer zuallererst um die vergnüglich leichte Mühe, einen halbwegs stimmigen Text zu schreiben, weniger um eine Botschaft. Das Moralische ist mir fremd.

  4. Michael Engelbrecht:

    So ist es: würden sich meine Texte beim Warten auf das Brot im Ofen nicht von selber schreiben, mit mir als launigem Zeugen, es gäbe sie nicht so beschwingt …

  5. Jochen:

    Auf keinen Fall blau-metallic. Die Farbe geht gar nicht … ;)

  6. Michael Engelbrecht:

    @ Jochen: das Moralische ist dir sicher nicht fremd, wohl aber die Belehrung 😉

    Die einzig wahre Farbe: blau metallic 🥁

  7. Uli Koch:

    Was sind wir, von einer KI beobachtet, beim hundertmaligen Hören ein und desselben Songs? Nicht Null, nicht Eins, eher ein subtil empfundenes Vielleicht? Der ambivalente Bedeutungshorizont verschwimmt und mit ihm das „Mehr“ oder „Weniger“. Die Vorzeichen oszillieren und die Farbe eines Toyota weicht vorübergehend beschwingt in den Möglichkeitsraum aus … bis das Gewimmel uns wieder besitzen kann.


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