Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 23 Okt

Lass irre Hunde heulen

von: Uli Koch Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Um es gleich vorweg zu nehmen: Schubert ist für mich ein Kindheitstrauma. „Winterreise“ gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Grauenhaft! Es war mir trotz aller Bemühungen meiner Mutter, die Musiklehrerin war, nicht möglich auch nur ansatzweise zu verstehen, was man daran schön finden konnte. Also half nur die Flucht, wenn sich die Nadel auf besagte Schallplatte senkte. In den am weitesten entfernten Teil der Wohnung, mein Zimmer und – sobald ich eine solche besaß – die Anlage aufgedreht, bis ich auch bei leisen Stellen keinen Ton mehr davon hören musste. Das kam mir alles so erquält-gekünstelt und einfach nicht echt vor. Das waren einfache Lieder und der arme Sänger musste bestimmt tagelang üben, um sie so aalglatt zur Klavierbegleitung darzubieten. Und überhaupt das ganze romantische Gesäusel, da konnte ich so wenig mit anfangen, dass ich es kaum schaffte mir ein ganzes Lied am Stück anzuhören. Und nun, Jahrzehnte später landet die CD von Kai Schumacher und Gisbert zu Knyphausen auf meinem Schreibtisch. Tagelang kreise ich da drumherum, nahezu in der sicheren Gewissheit, dass mir ein Flashback und eine Retraumatisierung bevorstehen, wenn ich auch nur ein Lied davon höre.

Ein leises Flirren, dann eine leise einsetzende Klavierstimme und dann die ersten Töne des Gesangsparts von „Gute Nacht“, dem ersten Song (ja, das kann ich nicht anders nennen!) intoniert von Gisbert zu Knyphausen. Ich bin verblüfft, was ist das? Das fängt ja wie ein intimer Abend am Kamin an, vielleicht mit etwas Fingerfood und Wein. Keine Kunststimme, sondern ganz entspannt und etwas rauh. Doch bald steigert sich das Lied, kriegt Zug und Dramatik. Kein unendlich oft gehörtes, plattgedudeltes romantisches Geklimper. Gute Arrangements, oft überraschend in Akzentuierung und gute Auswahl der Stücke. „Der Wegweiser“ folgt in final ernster Dramatik, ohne sentimental zu werden, sondern das Stück lässt eher die endgültige Beklemmung eines einsamen Wanderers im Bewusstsein seines finalen Weges spüren. Dann folgt „Ständchen“, dass von der überraschend eingesetzten Posaune lebt, die die Gitarre, die Schubert so wohl vorsah, mit diskreten jazzigem Unterton versieht, was sich im folgenden „Nähe des Geliebten“ als Gute-Laune-Song fortsetzt. Die meisten Lieder entstammen der „Winterreise“ und dem „Schwanengesang“ mit Texten nicht nur von Schuberts Hausdichter Wilhelm Müller, sondern auch von Goethe, Rückert, Heine und Bellstab. Texte von Banalitäten weit entfernt, ernst, sprachlich pointiert und hintergründig. Da gibt es Liebeslieder, wie „Du bist die Ruh“, das vom Überkünstelten befreit, sehr nach innen gerichtet und authentisch wirkt und Liebesschmerz bei „Der Doppelgänger“ und „Aufenthalt“. Gerade da wird der Schmerz viel glaubhafter, da er durch die Intonation viel näher an die Dramatik des Alltags heranschleicht, mit einer Eskalation, die sich stilistisch eher aus der Rockmusik stammenden Effekten bedient als akademisch rein vorgetragen und glattgeschmachtet, was mir immer sentimental-befremdlich und unglaubwürdig vorkam. Mit „Die Krähe“ und „Der Leiermann“ werden die Abgründe des Lebens und dessen Begrenztheit thematisiert, mit einer fast schmerzhaften, schweren und herben Schlichtheit, die sicherlich gut geeignet wäre in gediegener Gesellschaft das Kaminfeuer ausgehen zu lassen. Und schließlich schließt die Auswahl der Songs mit der „Litanei auf das Fest Aller Seelen“, das den geneigten Hörer mit einem besänftigenden „Alle Seelen ruh’n in Frieden“ etüdenhaft und mit bitterer Note tröstlich entlässt. Und mich seltsamerweise ebenfalls. Das Grauen meiner Kindheit ist nicht mehr spürbar und war es auch zu keiner Minute. Da ist es Kai Schumacher und Gisbert zu Knyphausen in hervorragender und unprätentiöser Weise gelungen die Stücke von Schubert ihrer romantischen und in der bisherigen Rezeption aalglatten Interpretationen in eine Gegenwart zu holen, in der sie wieder Gewicht und schlichte Authentizität bekommen haben. Die schönste Art ein Trauma zu therapieren. So kann mit der letzten Liedzeile nun auch die Seele von Dietrich Fischer-Dieskau für mich in Frieden ruhen.

 
 

This entry was posted on Samstag, 23. Oktober 2021 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Jan Reetze:

    Ja, kann man so machen. Ich hatte allerdings auch mit Fischer-Dieskau/Demus nie ein Problem (das gilt aber auch nur für die “Winterreise”).

    Nach dem “Leiermann” noch etwas folgen zu lassen: Das nenne ich gewagt.

  2. Rosato:

    Es gibt seit 2020 eine kühne Adaption oder Verbiegung – je nach Perspektive – der „Winterreise“, Titel: „Mercy Seat – Winterreise“. Es singt Charly Hübner-Bukow umgeben vom Hamburger Ensemble Resonanz, welches auf oder zwischen – je nach Perspektive – vielen Stühlen sitzt.

    Im Februar führt das Ensemble Resonanzen drei »coming together« auf: Henry Purcell / Kalle Kalima / Frederic Rzewski. Da möchte ich dabei sein.

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