Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 29 Jan

Seltsame Berührungen

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | 2 Comments


 
 
 
„Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir …“

(Kant)

 

Mutter nahm mich selten an die Hand. Sie ging meistens singend neben mir her und wenn sie nicht sang, erklärte sie mir die Welt.

An einem hellen Tag spazierten wir durch eine fremde Stadt. Vor einem weissbraunen, im portugiesischen Stil erbauten Haus blieb Mutter stehen. Sie griff nach meiner kleinen Hand, ich war wohl sechs oder sieben Jahre alt und sagte leise: „Da gehen wir jetzt hinein.“ Am Eingang stand eine blauuniformierte Frau. Sie winkte uns hinein. „Bitte berühren Sie nichts!“ Wir stiegen eine steile, mit rotem Bastteppich belegte Treppe hinauf. Mutter machte selbst das Licht in dem dunklen Raum an. Sie bewegte sich selbstsicher über den alten Teppich, so als ob sie schon oft hier gewesen war. „Du stellst dich jetzt an den Treppenabsatz. Wenn jemand kommt, gibst du mir ein Zeichen.“ Ich nickte und folgte ihr mit neugierigem Blick. Was sie wohl vorhatte! Sie blieb vor einem braunen Lederkasten stehen und starrte ihn an. Mutter erzählte mir später, dass es ein Highlight ihres Lebens gewesen sei, damals im Museum vor dem Grammophon von Alexander von Humboldt gestanden zu haben. Sie knipste geräuschlos das Messingschloss auf und schob den schweren Deckel nach hinten. Sie sah kurz zu mir herüber. Ich winkte aufgeregt mit beiden Armen. Sie schloss sofort den Kasten. Ich grinste, streckte die Zunge raus und signalisierte: Fehlalarm. Sie schüttelte den Kopf und öffnete erneut den Musikkoffer. Aus einer eingenähten Tasche nahm sie vorsichtig eine Schallplatte heraus. Sie war sehr neugierig auf die Musik, die Alexander von Humboldt damals in der unentdeckten Welt gehört hatte, sagte sie später. Das Label war von Brunswick. Sie stutzte kurz. Da stand „Made in England“. Sie kannte Brunswick nur den USA zugehörig. Brunswick Records zählte Ende des 19. Jhdts zu den „Big Three“, mit Columbia Records und Viktor Talking Machine Company. Später verkaufte Brunswick an Warner Brothers. Aber England? Mutter drehte die Schallplatte in Ihren gespreizten Händen.
 
 

 
 
Später erzählte sie mir, dass sie mit gemischten Gefühlen auf den Titelsong reagiert hatte.  „Don‘t cry Joe. Let her go, let her go, let her go.“ Mutter hatte sich vor Kurzem von Vater getrennt. Sie steckte die Schellackplatte behutsam in die Stofftasche und verschloss den Lederkoffer. Dann kam sie zu mir, nahm meine Hand, drückte sie und hielt mich fest. So verließen wir das Museum. Unterwegs sagte sie zu mir: “Wenn man nichts berührt, erweckt man auch nichts.“

Ich verstand damals nicht, was sie meinte. Wenn ich heute Johnny Cash oder Little Richard oder Buddy Holly höre, dann denke ich an sie. Ich sehe sie am Orinoko stehen, mit Blick auf das Grammophon, die glänzende Schellack in den Händen.

Let her go, let her go, let her go.

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2 Comments

  1. Uwe Meilchen:

    Und „Fitzcaraldo“, *seine* Grammophonplatten, seine Vision und Liebe zur Oper die soviel möglich machte.

  2. Lajla:

    Meine Freundin schrieb: an der Geschichte stimme alles nicht. Doch, nur eine kleine Tatsache nicht.


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