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2021 18 Jan

Nightwalk

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags:  10 Comments

 
 

Gelegentlich wurde hier auf dem Blog auf Unterschiede der Buchcovergestaltung von Original und Übersetzung hingewiesen. Kulturelle Codes, die in einem Land etwas antriggern, in einem anderen nicht – jedenfalls nach Einschätzung der Marketingabteilung. So entspricht das Arrangement auf dem Cover der deutschen Übersetzung von Chris Yates‘ Nightwalk wohl dem, was man hierzulande unter einem Aufbruch zu einer Nachtwanderung versteht: Da ist sich verdunkelnde, aber noch graue Himmel, da ist der unvollständige Mond, und wir sind umgeben von Ästen, Zweigen, Bäumen, die sich bald in Silhouetten verwandeln, und was sich uns dann, wenn wir es wagen, weiterzugehen, offenbart, auch wenn wir die Orientierung verloren haben, das ist im besten Fall pure Magie und unvergesslich. Die Nachtwanderung, an die ich mich am intensivsten erinnere, führte uns auf einem unbekannten Pfad im Odenwald in einen Waldweg hinein und immer weiter. Es waren Pfingstferien, ich war, was ich sehr selten tat, mit einer Gruppe unbekannter Jugendlicher auf einer Art Ferienfreizeit. Wahrscheinlich trug sie das Motto „Schau nach, was in dir steckt“ oder „Leben wär ’ne prima Alternative“, – tatsächlich gab es solche Veranstaltungen in dieser krisenbeladenen Zeit, in der wir nicht wussten, wann jemand in Moskau oder Washington auf den berüchtigten roten Knopf drücken würde, der die Welt in Atome zerlegt, noch bevor wir unser Abitur haben würden. Wir lebten eine Woche im Wald, schliefen in Holzhütten und jeden Tag gab es Diskussionen. Bis spät in der Nacht am Lagerfeuer zu sitzen und zu spüren, wie sich R, der sogar ein politisches Seminar leitete, immer näher zu mir setzte und schließlich sogar seinen Arm um meine Schultern legte, wühlte mich dann aber doch mehr auf als die politische Lage. Es war an einem späteren Abend, als R und ich im Wald spazieren wollten. Eine Schülerin fragte uns, ob sie mitkommen dürfte, und so gingen wir zu dritt. Wahrscheinlich redeten wir über alles Mögliche, mag sein, dass uns irgendwann eine Eule direkt in die Augen blickte oder dass ein Rotwild sein Geweih an einen Baumstamm stieß. Was ich nur weiß, ist, dass es sehr dunkel war. Plötzlich rannten von allen Seiten Schäferhunde auf uns zu, sie bellten laut und zeigten ihre spitzen Zähne. Ich war fest davon überzeugt, dass ich spätestens in einer Minute halb zerfletscht am Boden liegen und in diesem Wald sterben würde. Denn blendeten die Lichtkegel von Taschenlampen auf, das Grelle direkt im Gesicht. Es waren Soldaten. Wir hatten im Dunkel des Waldes ein Schild übersehen, das eine Sperrzone markierte und das Weitergehen untersagte. Sie machten uns Vorwürfe und ließen uns dann gehen. Wir hatten einander zwischendurch aus den Augen verloren. Als wir uns wieder trafen, kamen wir nah zusammen, zu dritt, und umarmten einander. Wir standen lange so da und sprachen nicht.

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10 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Dichtung oder Wahrheit? Also das mit den Hunden grenzt schon ans Fantastische. Andererseits: tief im Odenwald unterwegs, nachts, ohne Flinte und Bärenspray, das ist nicht ohne. Ansonsten ist das natürlich eine toll erzählte, kurze Geschichte.

  2. Olaf Westfeld:

    Ja, sehr toll und dicht erzählt, alles ist sehr lebendig – und hallt nach.

  3. Martina Weber:

    Das ist eine vollkommen wahre Geschichte aus meiner Schulzeit. Ich könnte sie sogar datieren. Mit R wechselte ich jahrelang bis zu zehnseitige, handgeschriebene Briefe.

  4. Michael Engelbrecht:

    Dann bist du die Vorlage für Stephen Kings Erzählung „Das Mädchen“. Nicht schlecht. Den gesammelten Briefwechsel könntest du ja hier, peu a peu, veröffentlichen, wenn er so spannend ist wie die Story. Ein Lob der Nachtwanderung. Mein nächtliches Ritual, demnächst in Sylt. Neben der Einführung, die ich bekomme, „Birding für Ahnungslose“.

  5. Martina Weber:

    Du warst der Stichwortgeber für die Erzählung der Story. Zwar habe ich das Buch von Chris Yates hier und hatte ursprünglich vor, etwas über das Buch schreiben, aber ich habe die Lektüre mehrfach abgebrochen. Mich hat Yates‘ Nachtwanderung einfach nicht gepackt und so habe ich mich wieder an meine eigene Nachtwanderung erinnert.

  6. Olaf Westfeld:

    Falls ich schon einmal eine Nachtwanderung unternommen habe, hat die keine bleibenden Eindrücke bei mir hinterlassen. Kollegen wollten mich immer wieder mal motivieren, eine zu machen… vielleicht ist es im Sommer ja mal an der Zeit.

  7. Lajla:

    Wichtige Geschichte, damit wir das Umarmen nicht verlernen.

  8. Martina Weber:

    Aus dem Buch von Chris Yates habe ich jedenfalls den Hinweis mitgenommen, dass man auf eine Nachtwanderung auf keinen Fall eine Taschenlampe mitnehmen soll. Ich glaube, dass Nachtwanderungen sinnvoll sind, um Ängste zu verlieren oder um damit umgehen zu lernen. Ich denke, kleine Gruppen sind sinnvoller als eine Schulklassengröße. Interessant ist außerdem der Aspekt des Sich-Verlierens in einem unbekannten Gelände. Ich werde das Thema vertiefen: Rebecca Solnits Essayband „A field Guide to Getting Lost“ liegt schon auf meinem to-read-Stapel.

    Übrigens, Olaf, ich habe eines der Rezepte aus dem von dir empfohlenen indischen Kochbuch schon mehrmals ausprobiert, heute wieder. Es ist das Curry aus Aubergine und Kirschtomaten. Ganz einfaches Rezept, aber durch die Gewürze raffiniert. Mit Reis.

  9. Olaf Westfeld:

    Sehr gut, freut mich, hört sich lecker an. Hier gab es gerade Süßkartoffeln Vindaloo. Auch eigentlich recht einfach und schmackhaft.

  10. Jan Reetze:

    Ich war wohl 12, als ich mit meiner Pfadfindergruppe im Sommer drei Wochen lang durch den Bayrischen Wald wanderte. Die Nachtwanderung war obligatorisch. Ein nächtlicher Wald hat einerseits etwas Einschüchterndes, etwas Ehrfurchtgebietendes, besonders in mondlosen Nächten (mit Mond wäre eher an meinen verehrten Caspar David Friedrich zu denken). Andererseits aber vermittelt der Wald etwas unglaublich Beruhigendes, eine Ahnung vielleicht davon, dass unsere Vorfahren dort gelebt haben. Und sie werden zu deuten gewusst haben, was man hört: Hier ein Rascheln, dort ein Knacken, da ein Knistern — du weißt, dass da Tiere um dich herum sind, die sich möglicherweise fragen, was diese Typen da mitten in der Nacht verloren haben. Zum Glück kam nie eine Bundeswehr mit Hunden, und auch sonst niemand. Mit zwölf ist das ein Abenteuer. Besonders dann, wenn man wie ich im Dunkeln am Waldrand versehentlich gegen einen elektrischen Weidezaun pinkelt.


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