Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Immer wieder gibt es hier auf dem Blog Versuche, ein parallel reading anzuregen, also Kommentare zu einem bestimmten Leseabschnitt eines Buches zu posten. Es ist jedoch offensichtlich nicht einfach, sich auf ein Buch zu einigen, das mehrere Manafonistas begeistert, und die zweite Schwierigkeit ist der Zeitplan, weil man ja immer erst etwas zu Ende lesen möchte und einen eigenen to-read Stapel liegen hat. Eine andere Möglichkeit bei gemeinsamer Begeisterung ist das zeitversetzte Parallellesen und Kommentieren eines Buches. Darum geht es hier. Es betrifft diesen Roman:

 
 

 
 

Am 3. November hat Jan hier einen Beitrag zum Debütroman von Andreas Heidtmann geschrieben. Jans Text hat mich begeistert und mich dazu veranlasst, endlich diesen Roman zu bestellen, was ich schon lange vorhatte. Während ich das Buch las, vergaß ich, was Jan dazu geschrieben hatte, dann las ich Jans Posting nochmal. Und stellte fest, dass ich den Roman ziemlich anders wahrgenommen habe.

Worum es geht, in einem Satz? Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken des jugendlichen Ben Schneider, der in Lippfeld lebt, im Sommer 1974, geschrieben aus Bens Perspektive, jedoch in der Sprache des erwachsenen Autors Andreas Heidtmann.

 

Lippfeld: Lippfeld wird im Roman bezeichnet als „das entlegenste Kaff der Welt“. Aber wo liegt es? Einmal fährt Ben mit dem Bus von Essen-Werder über Bottrop und Gladbeck bis Lippfeld. Im Ortsverzeichnis des Dierke-Atlas gibt es keinen Eintrag für Lippfeld. Gut, im Dierke ist nicht jedes Kaff der Welt verzeichnet. Wer aus süddeutscher Perspektive „Lippfeld“ als Ortsnamen präsentiert bekommt, glaubt gerne, dass es sich um einen Ort in Nordrhein-Westfalen handelt. Gibt man jedoch in einer Internet-Suchmaschine Lippfeld ein, erscheint … der Titel des Romans von Andreas Heidmann! Der Ortsname ist also erfunden. Das könnte ein klassischer, kluger Schachzug sein, um sich vor zufälligen Ähnlichkeiten der im Roman vorkommenden Personen und Handlungen mit tatsächlichen Personen oder Handlungen zu schützen. In diesem Roman ist es aber mehr. Der fiktive Charakter des Ortes der Haupthandlung ist ein wichtiger Mosaikstein meiner These, dass es sich bei den meisten Schilderungen um eine Parallelwelt handelt, die einzig und allein in der Fantasie der Hauptfigur Ben Schneider entsprungen ist. Und zwar mit dem Ziel, sein Leben in Lippfeld erträglich zu gestalten.

 

Die Parallelweltthese: wird im Roman immer wieder aufgegriffen und bestätigt und zieht sich so raffiniert wie diskret als roter Faden durchs Buch. „Ich sah mir zu, als hätte ich einen Zwilling an meiner Seite, der soeben als zweites Ich aus meiner Person getreten war.“ (S. 50) „Ich kam mir vor wie in einem Film, der plötzlich in vielfacher Geschwindigkeit ablief. Und mit Szenen, die nicht im Drehbuch standen.“ (S. 55) „Es musste Paralleluniversen geben. Vergessene Universen.“ (S. 162) „Es war ihr [Rebeccas, M.W.] Rad, während ich nur ein Besucher aus einer anderen Galaxie war.“ ( S. 284) Hinzu kommen viele kleine surreale Passagen, oft ein kleines Wunder am Ende eines Kapitels wie einmal, als Ben einen Prittstift in Richtung Himmel schleudert „und sah, wie er als kleiner Komet in der Sonne verschwand.“ (S. 55) Ohne eine Parallelwelt wäre es auch unstimmig, dass Ben gefühlt mindestens eine Packung Camel pro Tag raucht, seine Eltern aber nichts davon mitbekommen. Ein weiterer Hinweis auf die Parallelwelt ist, dass der nächtliche Einbruch ins Kiosk und der Diebstahl keinerlei Konsequenzen hat. Der wichtigste Hinweis erfolgt im letzten Kapitel, in einer Passage über Susanne, siehe unten im Abschnitt Die Beziehung zwischen Ben und Susanna.

 

Dramaturgie: Bemerkenswert finde ich, wie gut die Dramaturgie funktioniert, obwohl sich normalerweise ein real existierender Lebensabschnitt in die Einordnung der Spannungskurve, die ein Handlungsroman gewöhnlich erfordert, entzieht. Handlungsstränge werden immer rechtzeitig abgebrochen, bevor die Spannungskurve abflauen könnte. Immer wieder geschieht Überraschendes, sei es im Innern des Protagonisten oder im äußeren Handlungsablauf. Zwei lange, wunderschöne, berührende Briefe bauen eine tiefe Freundschaft in einer weiteren Parallelwelt von kosmischer Dimension auf.

 

Verfilmung: Eine Verfilmung des Buches kann ich mir nur als Enttäuschung vorstellen. Die Stärke des Romans liegt in der Sprache und in der Art, wie der Protagonist etwas wahrnimmt und wie er das, was man Realität nennt, durch seine Wahrnehmung und Beschreibung verwandelt.

 

Bens Perspektive: Ben betrachtet seine Umgebung sehr genau, geradezu soziologisch, was damit zusammenhängen könnte, dass sein älterer Bruder Soziologie studiert. Erstaunt haben mich die vielen Bemerkungen zu Äußerlichkeiten wie Kleidung, Schmuck und immer wieder Gesten. Ich hätte nicht gedacht, dass Jungen in diesem Alter ihre Umgebung derart aufmerksam betrachten. Erstaunt hat mich, wie viele Begriffe aus der Botanik erwähnt wurden, jedenfalls deutlich mehr als Automarken. Wie in Kirstin Breitenfellners Roman „Als die Welt unterging“ über eine Jugend in den 80er Jahren, über den ich hier mit der Autorin ein Interview geführt habe, schreibt auch in diesem Jugendroman die Hauptfigur Tagebuch.

 

Musik: Da ich im Sommer 1974 weder die Hitparade noch die outlaw- und underground Musikszene verfolgt habe, kannte ich viele Namen oder Musiktitel nicht. Ein Kommentator der Rezension des Romans auf Fixpoetry hat darauf hingewiesen, dass Fans des Romans auf spotify eine Zusammenstellung der 80 Musikstücke erstellt haben, hier dazu der Link. Wie gerne hätte ich Smoke On The Water als Luftgitarrennummer des im Roman sehr charismatischen Mick Palmer gesehen.

 

Markenprodukte, Namedropping: Fiel mir nicht negativ auf. Allenfalls kam der Kinderschokoladenscheitel ein bis zwei Mal zu oft vor.

 

Die Beziehung von Ben und Susanna: Eigentlich eine hinreißend schöne und romantische Teenagerliebe, inklusive einer kleinen Krise. Ja, und ich stimme Jan darin zu: diese Liebe ist nicht für die Ewigkeit. Aber aus einem anderen Grund, als Jan es annimmt, und zwar deshalb, weil Susanna nur in der Fantasie von Ben existiert.  Klar wird das erst im letzten Kapitel, und nur in ein paar Sätzen: „Zwischen den Jägerzäunen und akkurat geschnittenen Hecken hatte Susannas Erscheinung in der Tat etwas Unwirkliches. Schwerkraftentrücktes. Ihre Turnschuhe schienen den Asphalt kaum zu berühren (…) Was mich bestürzte, selbst wenn ich es für eine Sinnestäuschung halten musste, war, dass ihre zierliche Gestalt in der Straße keinen Schatten warf.“ Und weil Susanna nur in Bens Gedanken lebt, existiert sie eben doch für die Ewigkeit.

 

Rebecca und Ben: Jan schreibt: „man spürt, dass Rebecca und Ben, als sie sich an der Folkwang-Akademie kennenlernen, nie ernsthaft zusammenkommen werden, weil sie aus zwei inkompatiblen sozialen Schichten stammen.“ – Das ist eine interessante Sichtweise. Immerhin teilen Rebecca und Ben eine gemeinsame Leidenschaft, das Klavierspielen. Und sie spielen vierhändig und lachen zusammen. Das ist keine schlechte Voraussetzung für eine Jugendliebe. Es treffen hier also keineswegs ein ungebildeter Underdog und eine sophisticated young Lady zusammen. Ben ist auf einem altsprachlichen Gymnasium. Ich gehe davon aus, dass sich die Geschichte zwischen Rebecca und Ben weiter entwickelt, sobald Rebecca ihre Frisur ändert. (Sie trägt entweder einen oder zwei Zöpfe.)

 

Fazit und Ausblick: Dass der Roman verschieden wahrgenommen werden kann, um eigene Parallelwelten beim Lesen zu kreieren, ist eine der Stärken des Buches. Selbst wer im Jahr 1974 nicht gerade zufällig 14 ½ Jahre alt war wie Ben (wenn ich das richtig in Erinnerung habe), vergleicht eigene Erfahrungen mit denen des Protagonisten und seines sozialen Umfelds. Auf einige Fragen, die Jan aufgeworfen hat, nämlich die nach der Entwicklung der Liebes- bzw. Freundschaftsbeziehungen, werden wir voraussichtlich in den kommenden Jahren Antworten erhalten. Ich habe nämlich von Andreas Heidtmann höchstpersönlich erfahren, dass es sich bei seinem Roman um den Anfang einer Trilogie handelt. Ich schlage jetzt schon ein parallel reading vor, oder wenigstens ein time-shifted parallel reading.

 

P.S.: Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde ist zwar der Debütroman von Andreas Heidtmann, jedoch ist es nicht sein erstes Buch. Bereits im Jahr 2005 erschien sein Kurzgeschichtenband Storys aus dem Baguette.

This entry was posted on Mittwoch, 23. Dezember 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Jan Reetze:

    In der Tat, die unterschiedliche Interpretation dieses Buches ist bemerkenswert. Und es spricht für das Buch, dass es sie zulässt.

    Ich glaube, Martinas Eindruck ergibt sich daraus, dass sie die gesamte Geschichte in einer Parallelwelt ansiedelt, in Bens Kopf demnach. Diesen Eindruck teile ich nicht. Im Gegenteil, ich finde das Buch wunderbar lebensnah und durchweg sehr konkret an der Gedanken- und Kleinstadtlebenswelt von Teenagern entlanggedacht. Ich hätte nicht das geringste Problem, daraus ein Drehbuch zu machen, das weitgehend ohne Rückblenden, Traumsequenzen usw. auskommt; tatsächlich sogar habe ich den gesamten Roman wie eine Art „erzählten Film“ gelesen, in Bildern und Schnittfolgen. Dass Ben gelegentlich in Phantasiewelten, Tagträume etc. abdriftet, steht dem nicht im Wege, im Gegenteil, ich halte das bei jemandem wie Ben, der auf der zweiten Schiene bereits sehr künstlerisch denkt, geradezu für alterstypisch. Die Beschäftigung mit der Klavierliteratur beeinflusst sein Denken auf die gleiche Weise, wie sich später sein Denken in die von ihm gespielten Werke einprägen wird.

    Über kleine Unlogiken (wie etwa Bens Camel-Konsum, der von den Eltern nicht bemerkt wird) habe ich da wohl hinweggelesen, auch die relative Konsequenzenlosigkeit des Kioskeinbruches hat mich nicht irritiert — auf dem Dorf ruft keiner deswegen die Polizei. Mir ist auch kein Hinweis auf Bens Alter in Erinnerung, 14 1/2 wäre für mein Empfinden auf jeden Fall deutlich zu jung für den Inhalt der Handlung. Ein guter Beobachter seiner Umgebung und seiner Mitmenschen ist Ben ganz sicher, und darin kann ich nichts Außergewöhnliches erkennen. Das kann man sein, auch als Teenager, und es führt zu Lernprozessen, die ja im Buch durchaus vorkommen. Ungewöhnlich ist sicherlich Bens musikalisches Spektrum, aber auch dafür wüsste ich zumindest einen früheren Mitschüler zu nennen, auf den das ebenfalls zutraf.

    Die Beziehung von Ben und Susanna finde ich insofern teenagertypisch, als sie beide gedanklich austesten, was und wie der jeweils Andere auch sein könnte — um dann festzustellen, dass er/sie das nicht ist. Mit 16 macht man das noch; mit 20 vielleicht schon nicht mehr.

    Etwas weiter muss man ausholen, wenn es um die Beziehung von Ben und Rebecca geht. So, wie die beiden geschildert werden, stammen sie eindeutig aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Bens Elternhaus sehe ich als Arbeiterhaushalt (der Vater ist Polier, wenn ich es richtig erinnere), die Eltern sind allerdings offen genug für die Einsicht, dass die Kinder Wege anvisieren, die in einem höheren Milieu angesiedelt sind (Ben -> Konservatorium, der Bruder -> Soziologiestudium). Das ändert aber an dem sozialen Background, der den beiden ihre Weltsicht und ihre Verhaltensweisen eingibt, nichts.
    Rebecca dagegen kommt anscheinend aus einer höheren sozialen Schicht, in der eine andere Weltsicht gilt und in der andere Umgangsformen und soziale Codes gelten. Es sind diese Codes, die es so schwer machen, über soziale Schranken hinweg zusammenzukommen, selbst, wenn — wie hier — eine anfängliche Neugier aufeinander vorhanden ist. Es ist diese gewisse Nonchalance und Selbstverständlichkeit, mit der sich in Markenkleidung der gehobenen Klasse bewegt wird. Nie wird Rebecca ihre Klamotten bei Primark kaufen. Umgekehrt würde Ben, selbst, wenn er gehobene Markenklamotten trüge, sich darin nie so bewegen können, dass die Angehörigen von Rebaccas Schicht ihn darin ernstnehmen würden. Es ist das jährliche familieneigene Golftournier, es ist Papas Rotary-Mitgliedschaft, es ist der elterliche Bekanntenkreis, in dem man sich von Kindheit an zu bewegen lernt, die Selbstverständlichkeit, mit der du schon als Kind weißt, in welcher Reihenfolge die Bestecke neben dem Teller zu liegen haben. Genau deswegen wird der Sohn eines Poliers mit allergößter Wahrscheinlichkeit nie einen Vorstandsposten in einem Dax-Unternehmen ergattern, sei sein Studienabschluss auch noch so gut, und die Tochter wird vielleicht einen Studentenjob bei Douglas annehmen, aber sie weiß, dass sie nach dem Studium nie dort hineingehören wird. Und der Roman deutet dieses Gefälle durchaus an. Deswegen glaube ich, dass Ben und Rebecca sich wunderbar durch ihr Studium begleiten werden, wenn das dann aber beendet ist, wird ihr Kontakt schon nach kurzer Zeit seltener und seltener werden.

    Ich höre mit leisem Erschrecken, dass Andreas Heidtmann eine Fortsetzung der Geschichte plant. Das würde zwar der derzeitigen Mode entsprechen, wie sie im TV in Gestalt der Miniserie über uns hereingebrochen ist, und ich kann mich auch noch an die 1970er Jahre erinnern, in denen alles möglich als „Trilogie“ daherkam — aber ich glaube, ich würde das in diesem Fall schade finden. „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“ ist ein so schöner Blick zurück in eine sehr genau zu bestimmende Zeit, besetzt mit wunderbar ausgearbeiteten Charakteren, dass ich nur sagen kann: Ich möchte nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht. Diese Geschichte ist genau dort, wo sie endet, auserzählt. So soll’s bleiben, so möchte ich sie in Erinnerung behalten.

  2. Martina Weber:

    Toll, Jan, dass du noch so viel darüber geschrieben hast. Was Bens Alter angeht: Ich hatte im Buch gesucht, es aber nicht mehr gefunden. Ich hatte in Erinnerung, dass Susanne ein Jahr jünger ist als er und sie geht in den Konfirmandenunterricht, ist also ca. 13 1/2 Jahre alt. Ich kann mich da aber auch täuschen. Auf jeden Fall wirkt Ben etwas älter als 14 1/2. Das kann aber auch die Show sein. Oder, seine Fantasie (meine These).
    Es gab auch noch eine andere Szene, in der Ben viel älter wirkte, als er ist, nämlich als er mittels einer surrealen Geschichte Susanna den Kuss „beichtet“.
    Was die Fortsetzung im zweiten Teil der Trilogie angeht, kann ich mir gut vorstellen, dass es einen gewissen zeitlichen Sprung gibt.
    Sehr interessant, was du über die sozialen Schichten schreibst. Als so deutlich, wie du es wahrgenommen hast, habe ich es nicht wahrgenommen.


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