Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 8 Nov

„A celebration of life“

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off

 
 

Ich liess mir gestern Abend Zeit, die Bilder von Wildfremden anzuschauen, nachdem die Würfel gefallen waren, und fraglos fühlten sich auf der ganzen Welt Menschen seltsam nah und vereint, die sich nie im Leben real, nicht mal in virtuellen Halbwelten, begegnen würden. „The Archaic Roots of Ecstasy“ ist eines der Kapitel in Barbara Ehrenreichs fesselndem Buch „Dancing in the Streets – A History of Collective Joy“. Wenn man Freude aber nur aus der Ferne teilen kann, und kaum in grösseren Zusammenkünften – wie ihr dann Ausdruck verleihen  im stillen Kämmerlein? Welche Musik holt man beispielsweise aus dem Regal, wenn man Freude ekstatisch ausleben will, nicht nur kurz und rauschhaft, mit garantiertem Kater?! Oft liefern Klänge, die so eine Lust zelebrieren, das Leben zu umarmen, einen feinen melancholischen Unterton, der ihre Haltbarkeit sichert, man denke an „Penny Lane“ oder die beste Zeit der „Beach Boys“. im Jazz fallen mir das „Köln Concert“ ein, Erroll Garners „Concert By The Sea“, und Louis Armstrong sowieso, die Verkörperung von „good vibrations“, Charme und Witz – aber auch dieser Altmeister konnte jederzeit den Blues dunkel funkeln lassen, und eine ganze Palette von Emotionen in wenigen Sekunden durchlaufen. Eine meiner Lieblingsjazzplatten des Jahres 2020 öffnet der Melancholie allerdings keine einzige Tonspur – sie macht das drohende rasche Verfallsdatum überschiessender joie de vivre komplett wett mit dem Erbe von Free Jazz, „Latino“ und Afro-Karibik, will sagen, einer schlichtweg ungefilterten (umwerfenden) Intensität. Diese Platte wird nie sonderlich berühmt werden, stets im Underground verweilen, und doch garantiere ich einigen Lesern dieser Zeilen ein ungetrübtes Fest der Freude (ganz gewiss denen, die einen Deal haben mit Lester Bowie und Don Cherry). Vielleicht sollte man sich das Teil auf Vinyl besorgen. Das mag sich altmodisch anhören, aber in diesem Fall will ich die gute alte Schallplatte in Händen halten – mit der Zeit wird das Knistern zunehmen und trefflich harmonieren (beispielsweise) mit dem Pianosolo am Ende der ersten Seite. Ich denke an billige Kneipen, in denen der Schnaps direkt aus Fässern ausgeschenkt wurde. In solcher Umgebung musste man schon sehr laut auf dem Klimperkasten spielen, um sich Gehör verschaffen. So ging es natürlich nicht zu in den S1 Studios in Brooklyn, aber die Spuren von Boogie und Woogie rufen eben mal für Momente die Ära der Barrelhouse Pianos in Erinnerung. Was Nick Sanders da unter fünf Minuten hinzaubert, ist bezeichnend für die tollkühnen Sprünge und Szenenwechsel des gesamten Albums. Wenn Spieltrieb überhand nimmt, droht nun mal bekanntermassen kunterbuntes Chaos. Doch entfernt von letzterem, ist alle Entfesselung hier formbewusst. Es passiert auf „Heritage of the Invisible II“ (International Anthem Rec) genau das, was Aquiles Navarro (trumpet, percussion, imagination, voice, moog grandmother, juno 106, upright piano) so umreisst: „It’s a celebration of life, the coming together of the people, el pueblo, a celebration of who we are, where we come from, it’s our pueblo, our people, a feeling of openness, hope, and a future of unity from el pueblo, the people.” Sein Partner ist Tcheser Holmes (drums, percussion, imagination, voice). Aus dem berüchtigten Staunen kam ich jedenfalls nicht mehr heraus, als die wilden, verschlungenen Fährten ihrer Musik eine Volte nach der andern schlugen. Und aus dem stillen Kämmerlein ein lautes wurde.

 

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