“Die Wüste”, schreibt Jean Baudrillard in seinem immer noch inspirierenden Essayband Amerika, “ist eine natürliche Verlängerung der inneren Körperstille. Wenn die Sprache, die Technik und die Bauwerke des Menschen eine Verlängerung seiner konstruktiven Fähigkeiten sind, ist die Wüste eine Fortsetzung der seiner Fähigkeit zur Abwesenheit; sie ist das ideale Schema seiner verschwundenen Form.“ Gus van Sants Film Gerry aus dem Jahr 2002 ist fast so etwas wie ein magischer Essayfilm über das Verschwinden. Während Werner Herzog in Fata Morgana die afrikanische Wüste durchquert und unsere Fantasie mit mythologisch-realen Bildern versorgt, kreiert Gerry einen Bewusstseins- oder Unterbewusstseinsraum. Die knappste Skizze des Ausgangspunktes der Handlung: Zwei junge Männer sind mit einem Mercedes in der Wüste unterwegs. Sie halten an einem „Wilderness Trail“ und verlieren beim Versuch der Rückkehr zum Wagen den Weg. Wie sich herausstellt, ist diese Betrachtung bereits Teil einer Interpretation. Wie bei Béla Tarr sind die Verwandlung der Landschaft und der Kamerablick Träger der Handlung. Die Spannungskurve wird nach innen verlagert. Das Sehen verändert sich. Die Linie des Horizonts über den Silhouetten der Hügel, der Berge, die karge, die verschwindende Vegetation. Die Stille und die leisesten Töne. Der Ruf einer fernen Eule, der Wind, das Knistern in den Flammen des Lagerfeuers. Spuren von Huftieren. Eine Landkarte in den Sand gezeichnet. Zwei Paar Schritte: synchron, und dann nicht mehr synchron. Am Morgen: Langsam in Pastellfarben beleuchtete Geologie. Manchmal sind die beiden Männer so winzig im Bild, dass wir sie erst erkennen, wenn sie sich weiterbewegen, klein wie auf japanischen Zeichnungen mit ihrem Anspruch, die Wahrheit der Dimensionen darzustellen. Später: Nebel, Schnee oder Salz, aber wieder kein Wasser. Die Farben der Kleidung, das Blau und ein seltsamer Stern. Das Blickfeld verliert manchmal an Schärfe. Als ob die Sehkraft schwächer werden würde. Die Schnitte sind auffällig hart. Sehr anti-Hollywood-like, sehr independent. In den karg eingestreuten, aber langen Redepassagen habe ich so oft das zögernde „er“ (sonst „uhm“) gehört wie in keinem anderen Film. Man hätte einiges schneiden, nochmal drehen und kürzen können. Dann wäre der Film kurzweiliger geraten und leichter konsumierbar, was seiner Intention, unser Zeitgefühl zu verzögern und zu irritieren, widersprochen hätte. Nur an zwei oder drei Stellen des gesamten Films ist Musik zu hören. Auszüge aus Arvo Pärts Arbeiten spiegel im spiegel und für alina. Eine tiefe Erfahrung.
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Michael Engelbrecht:
Für Alina und auch Music for Airports spielen auch mit in dem neuen Roman Adran McKinty ALTER HUND NEUE TRICKS.
Formidabel.