Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 23 Jul

Spielfreude

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags: , 4 Comments

Zu den nachhaltig wirkenden Wertschätzungen der letzten Jahre zählt für mich das Buch Wer nicht spielt, ist krank des Philosophen und Medienwissenschaftlers Norbert Bolz. Auch wenn der Titel mich stets störte, nehme ich es immer mal wieder zur Hand. Denn wer spielt, der ist und bleibt gesund, so müsste es doch heissen. Nichtsdestotrotz nimmt das Buch eine geradezu paradigmatische, symbolische Stellung ein, als Grundüberzeugung. Hinzu kommt eine Fülle aufgeführter literarischer Quer-Verweise, die das Thema vertiefen. Auch weckt der Nachname dieses Autoren Erinnerungen an jene Glücksmomente vergangener Kindertage, als man den Marktplatz eines kleinen Dorfes in einen Bolz-Platz umfunktionierte, um dort Fussball zu spielen. Dieser Platz war eigentlich die Kreuzung von Feldwegen und kleinen Strassen gewesen, die in alle Himmelsrichtungen führten und die Gegend zum leicht zugänglichen Abenteuer-Gelände machten, mit verzaubernden Waldwinkeln, schroffen Böschungen, sanften Hängen, all den prallgrünen Wiesen, den kornblumenblau und klatschmohnrot geschmückten Getreidefeldern. Durchpreschende Trecker, Mähdrescher, Gülle-Anhänger; und auch mal eine Herde Kühe aus dem Bestand der umliegenden Bauernhöfe wurde geduldig durch die Horde des Fussball-ekstatischen Jungvolks getrieben. 

Zerschrammte Knie und kurze Lederhose mit integriertem Brustbeutel für Geldmünzen und Seitentasche für das Taschenmesser waren damals ein untrügliches Zeichen für vitales Jungsein und gelungenes Leben. Heimliches Spatzenschiessen mit Freunden, die an jene proletarischen Randfiguren erinnern, deren eine von der amerikanischen Schauspielerin Julia Garner bravourös darstellt wird in der dunklen Fernsehserie Ozark. Man wohnte dort in spärlichen Behausungen und hatte dennoch auch Zugang zur Kultur. G war damals der grösste Rowdy in der Nachbarschaft und zeitweise mein bester Freund. In dem winzigen Haus am Dorfrand betrieb die Mutter einen Kiosk. Eine Cola und ein Stück Lakritze staubte man dort immer ab. Als Vorgarten diente ein kleiner Sandplatz mit Schlammgrube, in der sich ein glückliches Schwein suhlte. G´s Zimmer war tapeziert mit Bravo-Postern der Band Creedence Clearwater Revival. Er hatte auch die Luftgewehre. Als Mutprobe die Stromstärke der Elektrozäune auf den Viehweiden mit der Hand zu testen (man tastete sich mit einem Grashalm heran, bis einen der Schlag erwischte) gefiel mir weniger. Wie sagte schon ein Mit-Manafonista einst am Telefon: „Du weisst, für unsereins beginnt der Tag mit einer Schusswunde!“

Das Zentrum war also jener Bolzplatz und man dachte sich gerne die passende Identität dazu aus: „Karl-Heinz Schnellinger bin ich schon!“ „Na gut, dann bin ich eben Gianni Rivera.“ Kleiner gedanklicher Abstecher also in weit zurückliegende Sommer. Was bleibt, ist bis auf Weiteres die Lust und Fähigkeit zu Spielen, und auch die Einbildungskraft. Das Bedürfnis, sich die reale Existenz durch Illusionen auszuschmücken, bleibt weiterhin legitime Flucht. Illusion heisst ja: ins Spiel kommen, das weiss auch der rapide alternde Lateiner. Ich schrieb einmal in diesem Blog über das Akustik-Mikado-Spiel, das eine Möglichkeit bietet, mit eigenen Improvisationen locker umzugehen. Eines ist gewiss: im nächsten Leben werde ich ein ausgebildeter Komponist, der auch in der Lage ist, Melodielinien, voicings und Rhythmen Noten-mässig („notariell“) festzulegen, denn nur die notierte Musik hat ihren Namen auch verdient, behaupten wir hier mal ganz unverfroren. Bis dahin bleibt mir als – Achtung: Pleonasmus! – dilletantische Vergnügung das Mikado-Spiel (das kleine Stück vom Vortag, als erholsames Randprodukt, nach zuvor vergeblichen Versuchen der Interpretation eines Eros-Ramazotti-Songs, nannte ich „Define and Dissolve“).

This entry was posted on Donnerstag, 23. Juli 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

4 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Bolzguter Text.

    My early hero was Reinhold Wosab.

  2. Lajla:

    Ich finde den Buchtitel auch blöd, so selffullfilled 🌝 pädagogisch. Ich spiele nicht so gern und bin so gesund.

    Der Text ist so leicht und froh machend.

  3. Uwe Meilchen:

    Und spielen die „heutigen“ Kinder noch draussen, auf dem Bolzplatz? Oder wird nur noch in Shopping Malls und vor der Konsole, dem Handy abgehangen? Schöne, neue Spielwelt.

  4. Rosato:

    Das Buch von Bolz habe ich nicht gelesen, aber fast alle Geschichten von J, welche meine nachhaltige Wertschätzung erlangt haben. Um den Bolz geht es nur ganz kurz, viel mehr um das Bolzen – übrigens ein Wort, das frühestens in meinem vierten Lebensjahrzehnt meinen Wortschatz ergänzte. In Helmbrechts gab es das Wort nicht. Wir nannten es „pfloggn“.

    J´s Bolzgeschichte löst den Deckel von der Erinnerungstruhe. Beim Lesen rieche ich die Gülle, sehe Kornblumen – heute so selten geworden wie die Kondensstreifen von Boings und Airbussen – und bin auf der Wiese, wo immer jemand anzutreffen war zum Fußballspielen. Zurück von der Schule und nach dem obligaten Mittagessen war erst einmal pfloggn angesagt – drei Ecken, Elfmeter. Danach mussten die dreckverkrusteten Knie gewaschen werden bevor Hausaufgaben erledigt wurden.

    Ich mag es auch, den Wörtern auf die Spur zu kommen. Schon lange juckt es mich, preiszugeben, wie das Klavier zu seinem Namen kam.

    Überrascht haben mich J´s Pläne für sein nächstes Leben. Die Elektrozaun-Mutprobe kenne ich auch.

    Wahrscheinlich besorge ich mir das Buch von Bolz und nehme es mit auf meine bevorstehende spielerische Radtour nach Madgeburg.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz