Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2016 8 Sep

Besenkammermusik

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags: , 19 Comments

Der einzige Traumrest war ein lindgrünes Stofftaschentuch, aus der Zeit, als solche Dinge noch als vornehm galten. Ich schaute das offensichtlich frisch gewaschene Teil etwas ratlos an, als ein kleiner Papierfetzen sich löste und auf den Boden segelte. In blauer Tinte stand dort nur die Jahreszahl 1967, und erinnerte mich erst in zweiter Linie an die frühe Hochzeit der Kinks („All day and all of the night“), zuallererst fielen mir, seltsam genug, alte Schulhefte ein, und wie brav ich dort immer, in einer Zeit, in der es für Schönschrift noch Noten gab, rechts oder links an den Rand (blütenweiss) den jeweiligen Tag notiert hatte. Also: 7. 2. 1967 – oder 8. 2. 1967. Die Jahreszahlen schienen unbewegbar zu sein wie geschützte Denkmäler, in den Boden gerammte Pfähle. Die Illusion von Zeitstillständen wurde also auch durch schulische Rituale bekräftigt, nicht nur durch den Luxus der Langeweile der „Babyboomer“, oder das trügerische Gefühl von Ewigkeit, das selbst einem sonnigen Spätsommertag anhaftete. 8. 9. 1967. Es gab in meinem Leben damals, in dem Jahr als die Zeit wieder mal stillstand, neben musikalischen Schlüsselerlebnissen („You Really Got Me“), kriminalistischen Entdeckungen (Sir Arthur Conan Doyle, alle Sherlock Holmes-Geschichten!) auch eine erotisch gefärbte Sehnsucht nach einer längst vergangenen, frühen Kindheit. Denn viele Jahre zuvor hatte mich Nacht für Nacht, in meinen Träumen, eine exotische Frau besucht, der ich einen Namen gab, und die mich, nackt am Rand eines Swimmingpools, massierte. Sie war eine Slawin, sie war eine Indianerin, sie war eine Zigeunerin, sie war ein Serientraum. Als meine Nase plötzlich lief, schneuzte ich in das Stofftaschentuch, legte mich auf eine violette Chaiselongue (mir war immer noch nicht klar, dass ich weiterhin träumte), und unterhielt mich eine Weile mit Will Sheff. Will erzählte mir von dem Drogentod der Sängerin Judee Sill in einem Wohnwagenpark, vom tristen Leben des Tim Hardin, vom Tod seines geliebten Grossvaters in einem Hospiz, und von dem Requiem, das er für das Ende seiner Band geschrieben hatte. Ich erzählte ihm von meiner „Farbenfrau“, von einem Himmel schwarzer Vögel, und wie die Kindheit – die seltsamsten Formen annehmend – durch unser Erwachsenendasein geistert. Wir sprachen über die Jahreszahlen der frühen Jahre, in denen die Zeit sich keinen müden Meter mehr zu bewegen schien, und wie wir damals die Angehimmelten in Zeitlupe einatmeten (in endlos gedehnten Blicken).

 
 
 

 
 
 

Seine Stillstandsjahre waren in den Achtzigern aufzufinden, in einem Amerika der herausgeputzten Vorstadthäuser. Will nahm seine Brille vom Gesicht und putzte sie. Ich nahm das grüne Taschentuch und gab ein kräftiges Niessen von mir. Will nannte sein neues Album eine „Todesgeschichte“, und er meinte damit wohl Tod, Verwandlung, Neuaufbruch. Mein Blick fiel auf eine Tarotkarte aus alter Zeit, und ich sah Don Draper aus einem hochgelegenen Stockwerk stürzen. Irgendwas stimmte an dieser Begegnung nicht. Ich hörte das gleichsam indische Sirren der Gitarren auf „See My Friends“ (ein Foto von Ray Davies stand auf dem Schreibtisch). Auf dem Tisch lag auch das Album von Wills neuer Platte. Ich konnte mich gar nicht satt sehen an dem Cover, das all die Sphären seiner sepiagrauen Gesänge mit kaleidoskopisch wirbelnden Kindheitsfarben mischte. Man hört der Platte von Okkervil  River nicht gerade an, dass sie in New York entstanden ist. Der Song „Days Spent Floating (In The Halfbetween)“ ist ein Finale besonderer Art, zusammengereimt aus lauter ersten Sätzen des morgendlichen Erwachens. Selten, dass ich auf einer Liederplatte nur Lieblingslieder habe. „Away“ ist ganz grosses Kino alter Schule. Orchestrale Besenkammermusik mit Ausblick!

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19 Comments

  1. Lajla:

    Was für ein Ogger, wow, nach so viel Weiss, Schwarz, Grau, die reine Freude.

  2. Michael Engelbrecht:

    Am 15. Oktober, geplant für die Klanghorizonte im Deutschlandfunk, in der dritten Nachtwache, zwischen 3.05 und 4.00 Uhr, eine „Nahaufnahme“ mit Musik des Cellisten David Darling, mittendrin, weil es so seltsam gut dazu passt, zwei Lieder aus dem Album AWAY von Okervil River.

  3. Lajla Nizinski:

    Mit Halskrause? :)

  4. Michael Engelbrecht:

    With a good laugh and sentimentality, like in this beautiful old song:

    People come and go
    And forget to close the door,
    And leave their stains and cigarette butts trampled on the floor,
    And when they do, remember me, remember me.

    Some of them are old,
    Some of them are new,
    Some of them will turn up when you least expect them to,
    And when they do, remember me, remember me.

    Lucy you’re my girl,
    Lucy you’re a star,
    Lucy please be still and hide your madness in a jar,
    But do beware: it will follow you, it will follow you.

    Some of them are old
    But it would help if you could smile,
    To earn a crooked sixpence you’ll walk many a crooked mile,
    And when you do, remember me,

  5. Michael Engelbrecht:

    In fact, the other day, Lajla, I saw a movie titled CONCUSSION, which ended with that equally seducing, heartbreaking and nostalgic song … And I saw two of my favourite actresses (one appearing out of nowhere from SONS OF ANARCHY) in a great low-key erotic film that is so intense because everything is understated. You can see it on you tube, just enter „concussion“ and „lesbian“.

  6. Lajla:

    Film guck ich nicht, das Lied würde ich gern hören.

  7. Jochen:

    Well, Maggie Siff is a show, anyway. She played the gangleaders wife Dr. Tara Knowles-Teller in SOA and also played Rachel Menken Katz – the jewish department store heiress and one of Don Drapers various love affairs – in Mad Men.

  8. Uwe Meilchen:

    Speaking of KINKS Songs, I still have a soft spot for „Days“, but prefer the version Elvis Costello recorded some years ago …

  9. Michael Engelbrecht:

    Really? Matter of taste anyway. For me, the original is unsurpassable. A genius song delivered from a genius guy in a perfect way in his salad days. And, I never liked Elvis Costello’s voice, but that, too, is simply a matter of taste.

  10. Michael Engelbrecht:

    Lajla, der Song findet sich auf Enos erstem Songalbum HERE COME THE WARM JETS, ganz anders, und ebenso überragend wie TAKING TIGER MOUNTAIN (BY STRATEGY) …

    Er findet sich auch auf den letzten Minuten des Films CONCUSSION. In voller Länge, Dass dieses kleine Meisterstück erotischer Filmkunst auf Youtube nicht gesperrt wird, keine Ahnung. Ist ja noch recht neu.

    Anders als mein Lieblingsfilm des letzten Jahres – DUKE OF BURGUNDY – hat er einen angenehm unterkühlten Realismus. Trotzdem auch ein warmherziger Film. Aber ich kann dich da eh nicht überzeugen :)

    P.S. In einer „Musikbesprechung“ voller Abschweifungen führen natürlich auch die Kommentare quer durchs Feld. Darum mal zurück zum Kern: AWAY von OKKERVIL RIVER ist tief beeindruckend, Eine Freundin von mir hat gerade erst HEJIRA von Joni M entdeckt – sie hörte es tagaus, tagein. Das kann bei AWAY auch passieren. Es ist das Beste, was Will Sheff je gemacht hat.

  11. Michael Engelbrecht:

    Der Ausdruck BESENKAMMERMUSIK ist auch der Arbeitstitel meines Buchprojekts, das irgendwann zwischen 2018 und Neverever abgeschlossen wird.

  12. Uwe Meilchen:

    Will Sheff … – I’ll try to have a listen to his new Album. Funny enough, I misread his Name in your blogentry as „Will Self“, the well known british book author and was wondering since when he was making Music and why I didn’t knew about it ;-)

  13. Martina Weber:

    CONCUSSION: Lajla, der Film ist nicht schlecht und vielleicht gar nicht so, wie du ihn dir vorstellst. Ich mochte die zumeist unverkrampfte Art, die Mischung zwischen Emotion und Kühle, und das nicht Ausgesprochene. Interessant auch die Sprache: Keine ausgefeilten Sätze, umgangssprachlich, teilweise wirkte es improvisiert.

    Dass im Abspann ein Brian Eno Song läuft, ist erstaunlich, passt aber inhaltlich. Ich wüsste nicht, warum man den Link sperren sollte. Ich saß während meines Studiums im Rahmen eines Praktikums allein in einem Behördenzimmer und habe zwei Stunden lang Szenen indizierter Filme gesehen. Das ist eine andere Liga.

  14. Michael Engelbrecht:

    Nicht weil der Film ab 18 ist :) – Weil recht neue Filme sich nicht besonders gut verkaufen, wenn sie bei youtube umsonst sind!! Concussion ist eher Insider-Kino, eh kein Mainstream – wahrscheinlich sind deshalb die Produktionsfirma oder Vertrieb nicht aktiv geworden.

    Hey, und was für ein „Gender“-Effekt: mit der weiblichen Hauptfigur konnte ich mich sehr gut identifizieren.

  15. Martina Weber:

    Die indizierten Filme, die ich gesehen habe, waren auch über 18 verboten. Ich war auch über 18, als ich sei gesehen hatte, und trotzdem stundenlang etwas neben der Spur. Rätselhafterweise kannte mein damaliger Freund einige dieser Filme.

    Bei Verlagen ist es üblich, dass sie illegale Verbreitung ihrer Bücher im Internet regelmäßig prüfen. Ich denke, das machen Filmproduktionsfirmen auch. Vielleicht sind sie letztlich froh darüber, dass die Filme überhaupt über youtube ihr Publikum finden.

  16. Michael Engelbrecht:

    Um das Thema mal zu wechseln: es gibt auch sehr interessante italienische Vampirfilme aus den 70ern – mit viel nackter Haut, Sex und Blut!

  17. Uwe Meilchen:

    Und diese italienischen Filme, z.B. von Dario Argento haben teilweise ganz hervorragende Filmmusik !

  18. Lajla nizinski:

    Mir gefällt Erzählkino. Kameraführung ist mir wichtig. Engagement und Witz.

    Lieblingsfilme sind z.B. Jules und Jim von Truffaut, L’aventurra von Pasolini, Victoria von Schipper, das brandneue Testament von Van Dormael.

  19. Michael Engelbrecht:

    Das mit den Vampirfilmen aus Italien war als Witz gedacht.

    Tatsächlich haben diese fraglos reichlich durchgeknallten Filme Jenny Hval als Inspiration gedient für ihr anstehendes Album BLOOD BITCH, wo es nicht zuletzt um Blut und Menstruation geht. Die Filmmusik werde ich mir mal gönnen, Uwe, einen Film nur, spasseshalber, wenn Jenny Hval mich überzeugen kann.


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