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2015 19 Sep

Keith Jarrett 1981 (Milestones – Jazzklassiker)

von: Hans-Dieter Klinger Filed under: Blog | TB | Tags:  | 3 Comments

München, 2. Juni 1981

 

Ich mag vor allem sein Klavier-Solo-Spiel, seine Triosachen habe ich mir nicht so oft angehört. Ich liebe vor allem sein Solospiel. Wenn ich Solo spiele, dann kann ich manchmal ein solches Level an Inspiration 5 Minuten halten, doch Keith Jarrett kann so etwas 40 Minuten lang tun. Er scheint ein besonderes Selbstbewusstsein zu haben. Er zapft da immer etwas an, etwas Göttliches, etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Er erstaunt mich.“

(Brad Mehldau, in einer Sendung Günther Huesmanns im SWR, am 9. Mai 2015)

 

Jarrett’s Auftritt am 2. Juni 1981 im Herkulessaal ist sicher eines seiner längsten Konzerte. Set 1 dauerte ca. 47 Minuten und Set 2 war mit 37 Minuten nur wenig kürzer. Ja, und zwei Zugaben muss man auch noch erwähnen: weitere 14 Minuten. Keine Ansprachen. Angesichts dieser Dimensionen war der „Herkules“-Saal der einzig richtige Ort für diese denkwürdigen Stunden.

Nein, nein, ich bin nicht Jarrett’s Buchhalter. Ich habe oft weite Wege zurückgelegt, um ihn zu hören, um emotionale Erlebnisse der besonderen Art zu erfahren. An jenem Dienstag im Juni 1981 musste ich etwa 350 km mit dem Auto hinter mir lassen. Vielleicht war ich etwas erschöpft.

Es gibt Solokonzerte Jarrett’s, die beginnen und nehmen sofort gefangen. Kyoto 1976, Köln 1975, Kronach 1975. Den Anfang des Münchener Konzerts empfand ich als ausgesprochen spröde, wie intensiv suchend, kein verlockendes Motiv wie im Köln Concert, sondern komplexe Polyphonie, Irrgarten-Harmonik. Ein schwieriger Einstieg in eine Zauberwelt. Erst in Set 2 war ich richtig offen.

Es lag sicher an dieser Erinnerung, dass ich die LP-Ausgabe jahrelang nur aufbewahrt habe. Vor einigen Monaten erst habe ich das Konzert immer wieder gehört. Es ist ein phänomenales Kunstwerk, komplex und von einem Reichtum, den ich als Hörer live im Herkulessaal wohl geahnt habe, aber erst dank der Aufzeichnung nach und nach begreife.

 

„Jarretts Kunst liegt im Gestus, nicht im Material. Wer (wie Zuhörer aus dem Bereich der abendländischen E-Musik) diese Solokonzerte auf die Herkunft der einzelnen musikalischen Partikel hin anhört, wer den Blick auf das Geschiebe richtet, das dieser Bewusstseinsstrom mitführt, statt auf die Bewegung, ist verloren […] Es geht ihm [Jarrett], dem Fundamentalisten, gewissermaßen um Emotionalität an sich. Das Material, könnte man sagen, hat nur noch die Funktion, diese Emotionalität sichtbar zu machen wie Feilenspäne die Linien eines Kraftfeldes.“

(Peter Rüedi, in den Liner Notes der LP-Ausgabe)

 

Ich sehe das etwas anders. Jarrett’s Kunst liegt sowohl im Gestus als auch im Material. Im Konzert bin ich als Hörer nicht in der Lage „die Herkunft der einzelnen musikalischen Partikel“ in aller Tiefe zu begreifen, im Konzert steht das emotionale Erleben vor dem „Blick auf das Geschiebe“. Als Zuhörer abendländischer E-Musik geht es mir nicht anders, wenn ich ein Werk zum allerersten Mal höre.

In Set 1 des Münchner Konzerts erklingt eine kleine, wunderbare Gestalt, etwa nach 4:40 Minuten. Es ist nicht leicht festzustellen, wo sich diese Idee im musikalischen Strom verliert, so sehr wird sie sogleich verwandelt. Bei 8:10 und etwas später ist sie noch einmal greifbar.

Und dann passiert dies: Nach 40 Minuten Musik plus einer halbstündigen Konzert-Pause wird in Set 2 diese Idee wieder eingeführt und bildet für fast 27 Minuten das Rückgrat des in allerlei Farben schillernden musikalischen Prozesses, bevor sie nach einem Tremolowirbel verschwindet und der Flügel in ein bizarres Schlagwerk mutiert.

Jarrett sagte einmal (sinngemäß): „Beim Spielen denke ich immer an Strukturen“. Leider kann ich die Quelle nicht mehr dingfest machen, d.h. ich kann den Mitschnitt jener Rundfunksendung, in der ich das gehört habe, nicht mehr auffinden. Es war vermutlich Michael Naura im NDR, der diesen Satz überlieferte. Vergessen habe ich das nicht. Ohne Struktur wäre Jarrett’s Musik formloses Geklimper auf pianistisch allerhöchstem Niveau.


Letztendlich kann ich nur in Brad Mehldau’s Eloge einstimmen. „Er zapft da immer etwas an, etwas Göttliches, etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Er erstaunt mich“

 

Keith Jarrett:

 

I don’t believe that I can create, but that I can be a channel for the Creative. I do believe in the Creator, and so in reality this is His album through me to you, with as little in between as possible on this media-conscious earth.

(zitiert aus den Liner Notes „Solo Concerts – Bremen, Lausanne“)

 

Igor Stravinsky:

 

I was guided by no system whatever in Le Sacre du Printemps. […] I had only my ear to help me; I heard and I wrote what I heard. I am the vessel through which Le Sacre passed.

(aus Igor Stravinsky and Robert Craft „Expositions and Developments“)

 


Ablauf des Münchener Konzerts:

Set 1 (auf den Tonträgern als Part I und Part II bezeichnet)

Pause

Set 2 (auf den Tonträgern als Part III und Part IV bezeichnet)

Zugaben:

Mon Coeur Est Rouge

Heartland

 


Übrigens:

Love No. 3“ strotzt nur so von Struktur, Emotionalität, Ausgelassenheit, Lust am Spiel und am Leben, Frechheit, Freiheit, Mut …

Das ist eine eigene Geschichte.

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3 Comments

  1. radiohoerer:

    Hallo zusammen!
    Respekt für diesen tollen Text !!!
    Gruß der radiohoerer

  2. Michael Engelbrecht:

    Es gibt, möglicherweise de facto, nichts Göttliches im Menschlichen. Das sog. Göttliche: ist es nicht reine Metapher, aufs Unfassbare, weil nicht gleich reproduzierbar, zielend?

  3. Hans-Dieter Klinger:

    Worte eines pagan (?), denen ich gar nicht widersprechen kann oder mag. Ich habe absolut keine Ahnung, ob es einen „Gott“ – also auch „Göttliches“ gibt. In vielen Dingen bleibt uns wohl nur übrig, in Metaphern zu sprechen, zu flüchten.

    Brad Mehldau legt ja ein ordentliches Decrescendo hin, vom „Göttlichen“ zum „Erstaunlichen“. Keith Jarrett spricht vom „Creator“ und nicht von „God“. Igor Stravinsky hält sich für ein „Vessel“ (was ich gerne als „Schlauch“ frei übersetzen würde). Er ist so schön nüchtern! Ich darf etwas abschweifen? Schrieb er doch in seinen Erinnerungen:

    Denn ich bin der Ansicht, daß die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgendetwas ‚auszudrücken‘, was es auch sein möge: ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst.

    Mir kommt es so vor, als ob die drei (und noch mehr) manchmal selbst nicht so recht fassen, was mit ihnen geschieht. Für das Unfassbare gebrauche ich gerne den Begriff „kosmisch“ , ganz pantheistisch.


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