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2015 7 Mrz

Geschichten eines Absteiger (4) – meine Nächte mit John und Terje

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 3 Comments

Mark Hollis ist Fan der Tottenham Hotspurs. Bob T. Bright ist Fan der „Saints“ aus Southampton. Nick Hornby ist Fan von Arsenal London. Gregor Mundt ist Fan von Hannover 96. Ich bin Fan von Borussia Dortmund. Diese Saison ist nicht besonders lustig. In dem Sommer, als ich in Würzburg mein Studium begann, gab es den BVB nur in der Zweiten Liga. Im Stadion Rote Erde traten Teams aus Erkenschwick und Kiel an. Mein erster Würzburger Sommer verlief hart. Denn die Stadt liegt in einem Kessel, und mein Heuschnupfen erfuhr dort eine massive Steigerung. Nachts um drei zogen sich die Bronchien zu, und ich musste schweres Geschütz auffahren, um die Luftnot zurückzudrängen: das Mittel hiess „Asthmokranit“, und wurde Jahre später aus dem Verkehr gezogen wegen dem als Krebs erregend geltenden Bestandteil Aminophenazon. Das Schöne war: in diesem Heilmittel war auch eine gute Portion Ephedrin enthalten, und wenn die Wirkung einsetzte, war bald nicht nur genügend Sauerstoff für die Lunge vorhanden, sondern auch ein „High“ im Hirn nicht zu leugnen. Diese euphorisierende Wirkung war eine Art Belohnung für das Elend zuvor. In dieser sechs Wochen währenden Gräserblüte hatte ich aber noch zwei Verbündete, und die hiessen John Coltrane und Terje Rypdal (es gab noch andere Musiker, aber meine Erinnerung landet zu allererst bei diesem ungleichen Gespann). Ich wundere mich noch heute, dass keine schlafgestörten Zimmernachbarn an die Wände des meines schmalen Zimmers im fünften Stock des I-Hauses klopften. Ich hörte die Musik recht laut, die Renner meiner Asthmabekämpfung-Charts waren „Odyssey“ und „Whenever I Seem To Be Far Away“ von Terje Rypdal, sowie „Live In Japan“ von John Coltrane. Monomitschnitte seiner letzten Japantour, grandioser Free Jazz, von seinem Hauslabel Impulse auf mehere Schallplattenseiten verteilt. Diese Musik nachts um 3.30 Uhr erweiterte die Bronchien und den Geist. Die hymnischen, phantasievoll jazzrockenden, mit herrlichen Streichersounds versehenen Kompositionen der beiden Rypdal-Platten strahlten einen ureigenen Zauber aus, und manchmal löste sich die innere Spannung mit lautlos fliessenden Tränen. Ein kleiner Sprung nun, fünf Stockwerke tiefer, dort schlief Andrea, rehbraune Augen, tief gebräunt. Ich war, durch meine Asthmaarien, und den damit verbundenen Schlafentzug, eine etwas blässliche Erscheinung, und damals neigte ich auch noch zur Schüchternheit, was einen Romantiker wie mich in die Defensive reiner Tagträumerei drängte. Mit Andrea ging ich jede Woche am Mittwoch durch den kleinen Park zum Audi Max, wo wir kostenlos Filme der „Nouvelle Vague“, des „Neuen Deutschen Films“, des „New Hollywood“ sahen. In jenem Sommer startete ich keinen einzigen Annäherungsversuch, ich war geblendet von ihrer Schönheit, und seltsam einfallslos. Nun, ich war nicht gerade verliebt, und hatte insgeheim das Gefühl, dass sie nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, aber das hätte sexueller Erfüllung keineswegs im Weg gestanden. Sie war unglaublich nett, und während manche sagen, dass nett die kleine Schwester von langweilig ist, war in diesem Fall nett die kleine Schwester von attraktiv. Total attraktiv. Wir tranken Obstwein hoch über Würzburg, wir sassen Körper an Körper in den Holzstühlen des grossen Hörsaals, es passierte nichts. Im Sommer darauf, als sich alles geändert hatte, schlenderte ich durch die Stadt und traf Andrea vor dem Zeitschriftenladen Montanus. Sie strahlte mich an, Blicke, die ich zuvor so nie von ihr aufgefangen hatte. An ihrer Seite ihre Eltern, die gekleidet waren wie bürgerliche Mustermenschen aus dem Spessart, Hut und Jägerjoppe und alter Zeit entsprungen. Andrea machte aus der Vorstellung einen geradezu förmlichen Akt, sie war, wie ich am Tage darauf erfuhr, vom ersten Tag an in mich verliebt und traute sich bloss nicht, den ersten Schritt zu machen. Was für eine Idiotie – ich wusste noch zu genau, was ich im letzten Sommer getan hatte. Ich hatte „Leo“ von John Coltrane gehört, in gloriosem Mono, ich hatte „Rolling Stone“ von Terje Rypdal gehört, die Spasmen der Bronchien lösten sich, das Ephedrin besorgte eine dezente Euphorie. Fünf Stockwerke tiefer wartete sexuelle Erfüllung auf mich. Nacht für Nacht. Und ich drehte einfach nur die Plattenseite um. Und schrieb einmal einen Brief an eine evangelische Pfarrerstochter in der Bittermark. Sie antwortete nie.

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3 Comments

  1. Henning Bolte:

    Wie gut, dass es Unerfülltes gab. Und noch gibt, auch im Zeitalter des ALLES MACHBAREN …

  2. Gregor:

    TOLLE GESCHICHTE, TROTZDEM!!!

  3. Jan Reetze:

    Rypdal hilft überhaupt gegen vieles. Gegen Heuschnupfen habe ich ihn noch nicht ausprobiert, aber die Gelegenheit wird sich bereits in wenigen Wochen wieder ergeben.


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