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2015 2 Feb

Gedächtnisbilder

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags:  1 Comment

Als N mich fragte, ob ich mit ihr in die Ausstellung gehen würde, sagte ich sofort zu, ohne zu recherchieren. Nicht, dass ich eine großartige Museumsbesucherin wäre, aber ich fand die Vorstellung, etwas gemeinsam zu erleben, besser als die, sich – vergleichsweise abstrakt – in einem Café zu treffen. Ich kannte N nicht wirklich. Wie man einen Menschen kennt, dessen Texte man liest. Nein, nicht Texte, sondern Gedichte. Wenn ich ein paar Gedichte von jemandem gelesen habe, habe ich ein ziemlich gutes Gespür für den Menschen, auch ohne ihn je gesehen oder mit ihm oder ihr gesprochen zu haben.

 

Gehst du oft ins Museum?

Eher, wenn ich in einer anderen Stadt bin.

 

Gemälde sind Farbe, Skulpturen sind Form. So bringen wir es gewöhnlich auf den Punkt. Anliegen der Ausstellung ist es, diese Fehleinschätzung zu widerlegen. Dafür wurden Exponate aus mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Altägyptische Skulpturen stellen wir uns schon eher vergoldet und mit Blau-, Rot- oder Brauntönen verziert vor. Verwirrend ist es aber, den Köpfen griechischer oder römischer Statuen mit farbigen Augen aus Glas zu begegnen. Dass uns sogenannte veristische Elemente in Skulpturen so wenig vertraut sind, hat auch damit zu tun, dass über die Jahrhunderte hinweg immer wieder die Elemente, die den Skulpturen mehr Realitätsbezug geben sollten (wie Echthaar und Glasaugen) entfernt wurden, wie die ausführlichen Beschriftungstexte erläuterten.

Telefonieren ist hier nicht erlaubt. Wasser trinken auch nicht! Sie können gern die schriftliche Benutzungsordnung lesen. Außerdem ist ein Sicherheitsabstand von 1,23 Metern zu den Exponaten einzuhalten. Ähem, ja, das war unser Fehler. Es wird ganz bestimmt nicht mehr vorkommen. Gleichzeitig waren N und ich zu Delinquentinnen geworden und künftig warf der Wachmann sein strenges Auge bevorzugt auf uns.

Und natürlich das Mittelalter. Es sind Kultbilder. Weniger religiös ausgedrückt: Gedächtnisbilder. Die Wirkung von Azoritblau. Wir näherten uns der Gegenwart, sahen die Poren der Haut in den Gesichtern. Ein bisschen Schmutz unter den Fingernägeln. Überhaupt: Hände, Füße, und die kleinen Falten darin, Zehen, Fingernägel, das sind Kunstwerke. Barthaare, jedes einzelne sichtbar. In einer Vitrine ein Exponat von Ron Mueck. „Man in a sheet“. Fast erschreckend real, in sich gekehrt, ganz bei sich oder resigniert? Sofort denkst du darüber nach, welchen Anteil du von ihm hast. Er löst selbstverständlich andere Gefühle aus, als der griechische Boss der Götterwelt, Zeus. Denn darum geht es immer in der Kunst: Um die Begegnung mit uns selbst.

 
 
 

 
 
 

Plötzlich stand ich in einem etwas separaten Raum neben einer vollkommen nackten Frau. Es war irritierend und ich dachte an den allgemein einzuhaltenden Sicherheitsabstand von 1,23 Metern.

 

Es ist nicht voyeuristisch, weil das Licht stimmt.

Ja.

Ich finde sie nicht wirklich erotisch. Sie schaut so streng und sie hat ihr Haar im Nacken zusammen.

Ich mag sie auch nicht.

 

Wir hatten geflüstert. Vor dem Exponat mit der stärksten Wirkung flüsterten wir auch. Ein Mann Anfang Vierzig hält seinen verstorbenen nackten Vater im Arm. Ein stilles Bild. Ein Gedächtnisbild. Da wurde etwas weitergegeben.

 
 

Ausstellung: Die große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken
Liebighaus, Frankfurt am Main, bis 1. März 2015

This entry was posted on Montag, 2. Februar 2015 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

1 Comment

  1. a.h.:

    Ich habe mir nun auch die Ausstellung angesehen und festgestellt, dass Ausstellungen – wenn nicht zu exzessiv besucht – wirklich anregen.

    Warum ist uns der veristische Blick so fremd, obwohl wir heute gewohnt sind alles sofort durch Fotos und Filme realistisch abzubilden?

    (In der Ausstellung war auch ein Zeitungsartikel aus einer HÖRZU zu sehen, der die Möglichkeiten und Funktionsweise des 3D Druckers erklärte: Ein Modell von Ihnen in maßstabsgetreueer Verkleinerung in einer Stunde für 280€! Wozu braucht man dann noch einen Künstler?)

    Vielleicht, weil uns der Klassizismus dazwischen kam (realitätsgetreue Darstellungen – besonders von „normalen“ Menschen mit „Fehlern“ – waren verpönt) und wir heute meinen, rein realitätsnahe Darstellungen gäbe es erst seit kurzem.
    Weit gefehlt. Auch schon vor über dreihundert Jahren gab es sehr verwirrende Menschenskulpturen. Verwirrend echt und verwirrend erschreckend in der Gestik/Haltung.

    Die Ausstellung hat wenig zu tun mit Wachfigurenkabinetts wie bei Mme Tussauds. Sie zeigt die Vorläufer. Und da ist wirklich kaum zu glauben, wie einfallsreich Menschen improvisieren und wie phantastisch die Werkmaterialien verarbeitet wurden: Die von Martina beschriebene lebensgroße nackte Frau von 1941 ist komplett aus Bronze, einem Werkstoff, dem das Grobe schon im Gedanken anhängt. Aber wie unglaublich genau selbst kleinste Falten und Nuancen damit dargestellt wurden, glaubt man erst, wenn man der (durchaus erotischen Frau) gegenübersteht.
    Sie wirkt erst durch die Bemalung so echt, dabei besteht sie nur aus Bronze und Farbe.

    Die Ausstellung zeigt, dass Kunstformen andere verdecken/verdrängen.
    Welche Kunstepoche überdecken wir und löschen sie aus dem Bewußtsein der Menschen?

    Manko der Ausstellung: Sie beschränkt sich auf die Darstellung von menschlichen Plastiken (eigentlich keine Skulpturen!). Es hätten auch andere Sujets sein dürfen.
    Anmerkung 2: 1,23 Meter Abstand waren natürlich ein Witz! Man kann deutlich näher an die Werke herantreten.


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