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Gestern war mein Schwebetag. Seit ich die Klanghorizonte im Deutschlandfunk mache, alle 14 Tage nachts um 1.05 Uhr, gibt es diese Körpererfahrung. Ich gehe und liege wie auf Wolken. Mein Biorhyhtmus sorgt nämlich dafür, mich gnadenlos zwischen 7.30 und 8.30 Uhr aus den Träumen zu reißen, und das bei einer Einschlafzeit, die ungefähr bei 3.50 Uhr liegen dürfte, im Schnitt. Auf der gut einstündigen Autobahnfahrt zwischen Sendestudio und Schlafzimmer gilt es nur selten massiv aufkommende Müdigkeit zu bekämpfen, schließlich sind alle Sinne wohlauf und geschärft, spiele ich doch nur Musik, die mir selbst die beste Seelennahrung ist, slow soul food sozusagen. Und nun lag ich zur Mittagszeit also auf einer Wolke. Eine Valium-Zone ohne Valium. Ein verlockendes Angebot der Körperchemie, alle 14 Tage frei verfügbar. Die Musik, die ich auflegte zum freischwebenden Dösen, war Enos Music For Films. Wieso werde ich diese Musik nie leid, wieso stellt sich nie die Spur einer Sättigung ein?
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In dem Sommer (oder war es schon Herbst), in dem diese Langspielplatte erschien, lebte ich in einer leergeräumten Wohnung, in der die Schatten einer alten Liebe noch an der Wand tanzten. Allmonatlich kaufte ich die „Sounds“, die beste Musikzeitschrift, die es je gab in der alten Bundesrepublik. Ich stöberte durch die jüngste Ausgabe, als mein Blick auf eine kleine Werbung der Firma Polydor fiel: „Der Mann im Hintergrund“, war da zu lesen, so flüstert es mir meine Erinnerung ein, ein monochromes graues Cover war abgebildet, und das Erscheinen von Music for Films wurde mit kalkuliertem Understatement verkündet. Sofort bestellte ich die Platte bei einem meiner zwei Dealer, in Unterlüss. Der andere Postversand war Jazz by Post in der Gleichmannstrasse 10 in Pasing, von dort kamen mir über Jahre u. a. viele ECM-Neuheiten ins Haus, die Schatztruhe der 70er Jahre war weit geöffnet. Unterlüss war für die Rockmusik und ihre Ränder zuständig. Zwei, drei Tage später hielt ich Music for Films in Händen. Und hörte sie zum ersten Mal.
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Ich habe diese Platte mit ihren flüchtigen und mich auf jede Flucht mitnehmenden Skizzen, ihren vollkommenen Unfertigkeiten, ihren Sehnsuchts- und Angst- und Traumstoffen seither unendlich oft gehört, bewusst, unbewusst, im Hintergrund, im Seitengrund, Im Vordergrund. Beim Wandern (mit Knopf im Ohr), beim Schreiben, beim Einschlafen, Wachwerden, in der Fremde. Und als Alternative für „die Zigarette danach“. Beim ersten Hören wusste ich, dass diese Musik lebensbegleitend sein würde. Sie wurde rasch auch eine Medizin, sie half mir, mit den nackten Schatten an der leeren Wand zu tanzen, statt sie zu verscheuchen. Und als damals ein Riese mich aus dem Bett und meiner Wohnung im 7. Stock schleudern wollte, ich meinen Geist vergeblich mit Kakao zu beruhigen suchte, der Alptraum aber wiederkehrte, und ich mir einen heißen Grog machte mit dem guten alten Pott, mit dem Auto auf einen großen leeren Acker in der Nähe von Würzburg fuhr, dort den Sonnenaufgang erlebte und meine einzige tief anrührende Begegnung mit einer Kantate von Bach aus dem schräpigen Autoradio hatte, und hernach in die Alpdruckwohnung heimkehrte, legte ich Music for Films auf, und erlebte, wie sich die vollkommen irrationalen Glücksgefühle, die sich schon auf dem kühlen Morgenacker eingestellt hatten, weiter ausbreiteten, und ich mich gar freute auf die nächste Begegnung mit dem Riesen.