Manafonistas

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2011 10 Okt

Latin Lover

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  | Comments off

 

 
 
 
Zu den erfreulichen Ereignissen meiner Schulzeit gehört der Erwerb des Großen Latinums – vielmehr die Art und Weise, wie ich es erhielt. Monatelang bis zum Abitur der immer wiederkehrende Traum: ich sitze in der allesentscheidenden Lateinklausur und scheitere kläglich. Kein Wunder, wenn man gefühlte 30 Jahre lang die Hausaufgaben von denen übernimmt (dt. abschreiben), die es besser können. Also fasste ich den Entschluß – einige Wochen vor dem Abi: Selbst ist der Mann! Es folgte nacktes Entsetzen, denn nicht einen einzigen Satz war ich mittlerweile in der Lage, noch eigenständig zu übersetzen. Das Projekt wurde so schnell gecancelt (revidiert), wie es begonnen wurde, nämlich ad hoc.

Aber es geschehen Wunder, immer wieder und immer noch. Als aus den vorhergehenden, nicht endenden Albträumen Realität wurde und der unvermeidliche Tag X  kam, fand ich mich in besagter Klausur. Wir bekamen einen Text von Cäsar. Ich las ihn durch und dachte: „Das soll Abiprüfung sein? Das ist doch viel zu leicht!“ Mit leichtem Frohlocken im Bauch übersetzte ich den Text und gab ihn ab. Ich hatte es geschafft, das erste Mal in meinem Leben eine 2 in Latein zu schreiben und so leicht schien der Text nicht gewesen zu sein, denn einige rasselten durch. So auch mein jetziger Schwager und damaliger Klassen-Kamerad. Er ist heute allerdings in der Lage, Shakespeare lupenrein rückwärts zu übersetzen (reine Kompensation) oder Rick Holland Gedichte von Eno-CDs, wie er jüngst bei den Manafonistas eindrucksvoll bewies.

Wie komme ich darauf, diese Geschichte zu erzählen? Angeberei? Nicht nur, denn gestern wies mich ein hilfreicher Lektor, der nicht Hannibal hieß sondern Michael, darauf hin, dass das Wort Prokrastination, dessen Bedeutung er gar nicht kenne, wohl ausser den Lesern mit Großem Latinum sonst nur Wenigen Freude bereite. Ich hab´s rausgenommen aus dem Text und durch Aufschieben ersetzt – auch mit Rücksicht auf Lateintraumatisierte.

Das Buch „Latein ist tot, es lebe Latein!“ wünschte ich mir letztes Jahr zu Weihnachten von meiner Schwester, der Frau besagten Schwagers. „Sowas schenke ich Dir nicht!“, giftete sie mich an. Deren Ehe scheint zu stimmen (lat. solidare – dicht machen, befestigen, verstärken). Ich werde es mir heimlich besorgen und fernab aller Neider im Stillen geniessen. Um hernach nochmehr Worte dieser geliebten und so lebendigen Sprache in meine Texte einfliessen zu lassen – auch wenn mich andere dafür hassen werden. Denn Neid muss man sich mühsam erkämpfen.

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