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Archives: Emmanuelle Carrère

Diesmal hätte es ein parallel Reading werden können. Olaf hat es schon im Herbst gelesen; über einen Kommentar von ihm zu meinem Annie Ernaux-Post bin ich auf das Buch aufmerksam geworden. Nach dem zweiten Lesedurchgang wirkt bei mir noch vieles nach und meine Beschäftigung ist noch nicht abgeschlossen. Yoga von Emmanuel Carrère erschien vor einem Jahr in der Übersetzung von Claudia Hamm bei Matthes & Seitz. Beim Querlesen über ein paar Rezensionen und Reaktionen wurde mir klar, dass es sich um ein streitbares Werk handeln muss: Jemand hatte sich enthusiastisch bei einem Rezensenten einer renommierten Tageszeitung für einen Verriss bedankt, denn fast hätte er das Buch, das in einer Buchhandlung auslag, gekauft und so war ihm eine unnötige Ausgabe und enttäuschende Lektüreerfahrung erspart geblieben. Mein eigener Ausgangspunkt zum Titelthema ist eher bescheiden, stellt sich aber als durchaus ideale Lesevoraussetzung heraus: Abgesehen von ein paar geführten Meditationen auf Jugendfreizeiten mit dem üblichen, imaginären beschwerlichen Weg durch eine wundersame Landschaft zu einem alten weisen Mann, der mir einen von mir selbst formulierten, tiefgründigen Rat gibt, war mein Einstieg um die Jahrtausendwende das schöne klassische Yogabuch von Anne Elisabeth Röcker, in dem zu jeder Übung die Heilwirkungen auf den Körper beschrieben werden. Eine Routine sind die Asanas damals aber nicht geworden. Gertrud Hirschi, deren Bücher ich erst vor einem Jahr entdeckt habe, bezieht die geistigen und seelischen Ebenen stärker mit ein, was mich fasziniert, zumal einige Wirkungen tatsächlich eingetreten sind. Unbeweglich in Meditationshaltung herumzusitzen ist allerdings gar nicht mein Ding. Und warum soll es richtig sein, etwas zu sehen, wie es angeblich ist, und es nicht zu bewerten? Führt das nicht zu Passivität? Hält es mich von Interessanterem ab? Ich schwanke, so bin ich eben. Ein Lieblingssatz aus Carrères Buch. Ein charakteristischer Satz.

Geplant hatte Emmanuel Carrère ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga, womit er sich seit 30 Jahren beschäftigte, ein Werk, dem er den Titel „Ausatmen“ geben wollte. Doch es kam anders. Im Januar 2015 war er Teilnehmer eines Vipassana-Meditations-Retreats im Morvan, einer gebirgigen Region eineinhalb Bahnstunden südöstlich von Paris, um abgeschnitten von der Außenwelt ohne Ablenkungen durch technische Geräte, Bücher und Schreibzeug zehn Tage lang täglich zehn Stunden zu meditieren, zu schweigen und Inspiration für sein Buch zu finden. Nach vier Tagen wurde Emmanuel Carrère jedoch aus der Abgeschiedenheit herausgerissen, weil er die Trauerrede für einen Freund halten sollte, der bei den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo, die in Frankreich dem nine eleven entsprechen, ermordet wurde. Eine von zahlreichen drastischen Wendungen im Buch.

Emmanuelle Carrère schätzt Autoren, die so schreiben, wie sie denken, und auch sein Yogabuch entfaltet sofort einen Sog, der andauert und es, wie jedes gelungene Kunstwerk, in eine eigene Erfahrung verwandelt. Ich schreibe Yogabuch, aber der Titel weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden, jedenfalls auf den ersten Blick nicht. Ein wiederkehrendes Element des Buches besteht dann auch darin, einen passenden Titel für das Buch zu finden. Schreiben, wie man denkt, bedeutet keineswegs etwas herunterzuschreiben: Alles in diesem Buch ist fein aufeinander abgestimmt und komponiert. Wenn ich zum Beispiel in einem der kurzen Kapitel über Ragas lese, dass man bei ihnen einerseits nie weiß, wo man sich gerade befindet, und andererseits immer im Zentrum ist, so lässt sich dies auf die Lesesituation übertragen.

Was ist es nun geworden? Ein sinnliches, ehrliches, provokatives, zersetzendes und schonungsloses Buch über Yoga und Meditation, psychische Abgründe, Sex und Liebe, Freundschaft und – in diesem Teil weder provokativ noch zersetzend – über einen Schreibworkshop auf der griechischen Insel Leros. Und vieles mehr, sei es skizziert, angedeutet oder weggelassen.

Ein faszinierender roter Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die Geschichte mit der Zwillingsfrau, mit der Carrère direkt nach einem Yogakurs am Genfer See eine bemerkenswerte Liebes- und Sexbeziehung beginnt. Die beiden treffen sich regelmäßig in einem Hotel einer Provinzstadt und verbringen einige Stunden zusammen, ohne auch nur ihre Nachnamen zu kennen und über das Leben, das sie außerhalb führen, zu sprechen. Ein geheimes Parallelleben, das für immer andauern sollte. Eine kleine Skulptur von Zwillingen, die ihm die Frau geschenkt hat, trägt Carrère wie ein Heiligtum mit sich. Er stellt die Figur während des Vipanassa-Retreats in seinem kleinen Bungalow auf. Schaut man nur eine Sache gründlich an, kann man darin alles entdecken: Die Unendlichkeit im Umriss einer kleinen Zwillingsskulptur.

Was Sie sonst noch im Buch erwartet: Eine überraschende Einsatzmöglichkeit für die Wolkenhände des Tai Chi. Gedanken zur twilight zone des tibetischen Bardo. Ein Hinweis auf die charismatische Schönheit des jungen Alain Delon in dem Film Rocco und seine Brüder von Visconti (der Film findet sich in voller Länge auf youtube). Mindestens ein halbes Dutzend Autorennamen und Buchtitel, die den typischen Geschmack eines gebildeten westeuropäischen Mannes, der in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre geboren ist, spiegeln.

War es korrekt von mir, den Autor des Buches mit dem erzählenden Ich gleichzusetzen? Um was für ein Genre handelt es sich? Fiktion, Essay, Autobiographie? Auf dem Schutzumschlag der deutschen Fassung steht „Roman“. Im Buch selbst findet sich keine Genrebezeichnung. Carrère betont mehrfach, dass er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Gegen Ende des Buches offenbart er die wenigen fiktiven Elemente. Einiges an streitbarem Stoff hat der Autor ausgelassen.

Das Buch ist nicht nur eine völlig andere Einführung in Yoga und Meditation, es ist eine inspirierende, manchmal erschreckende, sicherlich auch streitbare und doch faszinierende Lebensreflexion eines Mannes, der weiß, was ihn bis zu seinem Tod begleiten wird: Yoga und Meditation, die Liebe und das Schreiben. Ich vermute, in umgekehrter Reihenfolge.

 

 


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