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2023 5 Sep

Zwei Maler

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In der frühherbstlichen Stimmung der letzten Woche gemütlich eingelümmelt vor dem Bildschirm folgte ich spätabends mal wieder den Spuren der Kunst (Prägung, Interesse und permanente Witterungsaufnahme sind hier irreversibel). Zwei Maler waren es, die unterschiedlicher nicht sein könnten und anhand derer man einen Zwiespalt ausmachen kann: Markus Lüpertz und Wolfgang Beltracchi. Wenn nämlich Letzterer sagt, man müsse für das, was sich heute Kunst nenne und sich weder auf Tradition noch auf handwerkliches Können („Vermögen“) stütze, sondern Betätigung sei im Sinne von kreativer Entfaltung und Ego-Performance, einen neuen Namen finden. Beltracchi, der Kopist und Maler ohne Eigenschaften: es sei ein genetischer Defekt, dass er in der Lage sei, sich in die Haut und in die Zeit eines jeden Künstlers hineinzuversetzen. Er berichtet von Zeitreisen in die Historie und ich bekomme eine Gänsehaut. In gelenkten Träumen nachts gehe er auf Wanderschaft, aber lustig sei das nicht: sehr laut und überall üble Gerüche. Ich freue mich jetzt schon auf die geplante Netflix-Serie dieses spannenden Lebensweges. Was der Kunst-Kopist aber nicht abdeckt, hat Kollege Lüpertz um so mehr drauf: sich abrackern in einem schöpferischen, mühevollen und authentischen Findungsprozess, mittlerweile am Stock humpelnd, weil keine Zeit und Lust für eine Knie-OP. Die Kraft des Kunst-Schaffens scheint so gross, dass selbst ein kaputtes Knie zur Nebensache wird. Insofern könnte man jede Hypochondrie auch als Mangel an Lebenssinn interpretieren. Eindrucksvoll auch der Einblick in Lüpertz‘ Malklasse, wo der Meister die Versuche seiner SchülerInnen unter die Lupe nimmt. Ein Deja-Vu, weil: habe ich selbst erlebt als Student. Diese Sicherheit, zu erkennen, was nicht stimmt, wo der Holzweg ist, wo man sich was vormacht. Wie sagte mal ein Prof zu mir: „Wie’s kömmt, so’s frömmt.“ Aus Narzissmus und Idealismus heraus ist noch nie ein gutes Bild entstanden. Ohne eine gewaltige Passage von Frustrationen wird niemand jemals Bildender Künstler. Wenn ich Lüpertz sehe, kriege ich aber wieder Bock zu malen: Wucht, Farbklang, Formkraft. Wen wundert’s: der Mann ist auch gut in Schrift und Wort, zudem musiziert er am Flügel öffentlich mit professionellen Jazzern wie Manfred Schoof („Der direkteste Weg zum Glück“). Und Belzebub Beltracchi, Kunstfälscher im Ruhestand, signiert nun mit eigenem Namen, nach reumütiger Knast-Erfahrung. Gefragt, was er verdiene: er mache ja nicht mehr viel, höchstens fünfzehn Bilder im Jahr. Und? Hunderttausend bis eine Million. Pro Jahr? Nee, schon pro Werk.

 

– Welche drei Gegenstände würden Sie mitnehmen, wenn Ihr Haus brennt?
 
Asterios Polyp wurde am 22. Juni 1950 als einziges Kind der Eheleute // Fast wäre er ein Zwilling // Schon in seiner Kindheit prägte er sich alles
 
– So denke ich nicht.
 
Er liebte es, gewagte und komplexe Theorien über alles, was ihn interessierte (Frauen, Architektur, das Leben an sich) zu entwerfen und mit seinen grandiosen Tafelbildern seine Mitschüler, Kommilitonen, Kollegen etc. zu überfordern.
 
– Können Sie sich vorstellen, das, worüber Sie sich definieren, aufzugeben?
 
Im Jahr 1959 wurde Hana Sonnenschein als Tochter eines Deutschen und einer Japanerin geboren. Sie hatte vier deutlich ältere Brüder, deren Erfolge immer wichtiger waren als Hanas. Sie bekam ein Stipendium für eine Kunstschule und fertigte Skulpturen an.

Exakt an Asterios´ 50. Geburtstag schlug ein Blitz in sein Haus ein und das Haus ging in Flammen auf. Asterios packte drei Gegenstände ein und rannte aus dem Haus, in ein neues Leben.
 
– Worüber definieren Sie sich?
 
Man kann diese Graphic Novel auf verschiedenen Ebenen lesen: Als Lebensgeschichte, als gender story, als Liebesgeschichte, als Midlifekrisis. Warum haben manche Menschen Erfolg und andere nicht? Warum hört man einigen zu und anderen nicht? Wieso können sich zwei Menschen, die gleichermaßen intelligent und begabt sind, so verschieden entwickeln? Weil der eine ein Mann ist und die andere eine Frau? Weil er von seinen Eltern aufgebaut wird und sie klein gehalten wird, unbeachtet in ihren Talenten und weil sie schüchtern und still geworden ist?
 
– Eine Sphäre von Möglichkeiten? Innerhalb einer Vorstellung von Zeit?
 
Auch unter dem Aspekt der Gesprächsführung. Wie schafft es Asterios, der aufgebrachten Hana zu erklären, warum er im Schlafzimmer eine Überwachungskamera installiert hat?
 
– Erinnerung ist nicht Wiederholung.
 
Wir betreten das Arbeitszimmer des Komponisten Kalvin Kohoutek, bekannt für seine experimentellen und eklektischen Klangwelten. An den Wänden Partituren seiner Lieblingskomponisten, darunter Charles Ives´ Arbeit: The Unanswered Question.
 
 
 

 
 
 
Wie kommt es, dass jemand bestimmte Dinge wahrnimmt und andere nicht? Welchen Einfluss haben die Menschen, die nie geboren wurden, auf unser Leben? Inwieweit können wir unsere Entwicklung steuern und wo sind die Grenzen der Selbsterschaffung?

These: Liebe zu einem Menschen als Kompensation eigener, nicht ausgelebter Möglichkeiten, die der oder die andere aber entwickelt hat.

Diese Graphic Novel ist ein Meisterwerk. Die Geschichte wird facettenreich und nicht chronologisch erzählt, die Tiefe und Themenvielfalt ist beeindruckend, der Stil der Zeichnungen ist ausgereift, raffiniert und methodisch vielfältig. Die Bildsprache und das Verhältnis von Wort und Bild sind ausgezeichnet. Einziger Kritikpunkt ist die – auch bildlich umgesetzte – klischeehafte Betonung des Männlichen als des Rationalen und des Weiblichen als des Emotionalen.
 
 
David Mazzuchelli: Asterios Polyp, aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Pletzinger, Eichborn Verlag 2011
 
Original: Asterios Polyp, Pantheon Books New York 2009
 
 
 

 


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