Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

 

Kultur und Temperament des Landes sind vertraut, in diesem Sprachklang hält man sich zu gerne auf. Brasilia, die futuristische, auf dem Reissbrett nach der Form eines Flugzeuges entworfene Stadt hat ein ganz besonderes Flair. Dort lebt auch Pedro Martins, wechselweise mit seiner Wahlheimat Los Angeles, in der seine Lebenspartnerin lebt, die Jazzsängerin Genevieve Artadi. So switchen sie zwischen zwei Metropolen, stets umgeben von jungen Künstlerfreunden, einem Pool junger Talente. Der nun dreissigjährige Gitarrist, Multiinstrumentalist, Komponist und Sänger galt früh als Wunderkind, begann bereits mit drei Jahren, sich für die Beatles zu interessieren, deren Songs für ihn die Basis seiner musikalischen Entwicklung waren. Abseits jeglicher Leistungsathletik hat seine Musik einen landestypischen, aber auch idiosynkratisch ganz eigenen Zauber, der vielfältige Anklänge erlaubt an die Musica Popular Brasileira. Milton Nascimento, Caetano Veloso, Djavan und Maria Bethania waren ja auch jene, die einst meine Sehnsucht weckten, dieses Land zu entdecken. Seit Joao Bosco vor mehr als fünfzehn Jahren sein unglaubliches Livealbum Obrigado Gente vorlegte mit einer Wahnsinnsband, zu denen Schlagzeuger Kiko Freitas, Gitarrist Nelson Faria und Percussionist Armando Marcal gehörten, hat mich brasilianische Musik nicht mehr so begeistert wie nun Pedro Martins frisch entdeckte Kompositionen und Performance. Wenn man etwas liebt, erkennt man sich auch darin wieder: es ist auch eigene Heimat. So wie einst die Diamanten (as pedras preciosas) auf dem Verkaufstisch eines Edelsteinhändlers am Marktplatz in Ouro Preto verheissend funkelten, so tun es nun die verspielt perfekten Songs des jungen Pedro Martins. Sie eröffnen Räume auch für die eigene Phantasie. Es war wie in einem selbstgeschaffenen Kopf- und Herzkino investigativer Recherche: ein Mix aus Flow und Grip ist das Interesse, wenn es denn Fuss fasst – und ab geht die Post. Da gibt es das Konzert mit der Frankfurt Radio Bigband, in dem sich die frühreife, ausgewogene Vielfalt seiner (auch gesanglich begleiteten) Kompositionen zeigt und Erinnerungen wachruft an Antonio Carlos Jobim in den kongenialen Orchestrierungen von Klaus Ogerman. Ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Pianisten Pablo Held gibt interessante biografische Details preis, wie sie wohl nur Musiker untereinander austauschen können. Der Wunderknabe blickt leicht verpennt (weil wohl eine Nachteule) in seinen Laptop und plaudert los in typischer brasilianischer Lockerheit: beispielsweise seine ersten Treffen mit Kurt Rosenwinkel schildernd, seinem vertrauensvoller Förderer und Mentor. Gemeinsam absolvierten sie eine Welttournee in dessen Caipi-Projekt. Noch nie habe ich einen brasilianischen Gitarristen erlebt, der so viele unterschiedliche Facetten von Musik in so virtuoser Form vorträgt, dabei die vielfältige hybride Tradition mit dem Horizont der Digital Natives verbindend, die früh globale Vernetzung als selbstverständlich sehen und in vielen Musikstilen beheimatet sind. Allein der eigentümliche und höchst delikate Sound seiner E-Gitarre eröffnet einen eigenen Kosmos. Dazu singt er noch, auf Rosenwinkels Anregung hin stellte er sich der Herausforderung, eigene Lyrics zu schreiben: the birth of a singing songwriter. Die Gitarre klingt zuweilen nach Cavaquinho, kleine Fingerstreiche lassen sekundenweise Sitarklänge erklingen und die Kompositionen führen in Alices Wunderland. Man kann hier zuhauf Nuggets finden im Internet, wenn einen erst die Neugier treibt. Und hoffen, dass eine ihn in kommerzielle Bahnen lockende Plattenindustrie bis auf Weiteres verschont und er das Basteln kleiner Kastanien-Männchen dem groß herausposaunten Mainstream vorzieht. Diese Musik erzählt Geschichten: die seines Landes, seiner Welt und auch seiner Generation. Sie klingt wie Neuland, klingt wie Hoffnung und eine sanfte Brise schwingt immer mit.

 

 

Auf wen warten diese Sachen? Soll hier jemand vorbeikommen, sich in einem der beiden Stühlen niederlassen, mit einer Flasche Wein, einem längst zu Ende gegangenen Fest nachtrauernd? Einer vielversprechenden Begegnung, bei der sie oder er zu wenig Eindruck oder auch Nachdruck gemacht hat?

Hier in Venedig, im trüben Licht eines italienischen Wintermittags, es ist nämlich der 31. Dezember, wird schwebender Staub im Halbschatten des schmutzigen Durchgangs sichtbar. Es geht ein leichter Luftzug, der den Aufenthalt unbequem macht.

Eher ist wohl ein Fest in Vorbereitung, hinten im prächtig geschmückten Garten, unter einer mit Planen verstärkten, beheizten Pergola, schließlich steht der Jahreswechsel bevor. Und erst mit den überzähligen Gästen, die doch wie immer nicht auf sich warten lassen werden, wird auf die schon beschädigten Stühle im Durchgang zurückgegriffen. Aber wer weiß: Vielleicht ist der Gastgeberin etwas zugestoßen, dem in Eile zusammengestellten Personal die Neujahrstorte zu Boden gestürzt, so dass die weiteren Vorbereitungen zur Feier stocken.

Hoffentlich hat niemand einen Herzanfall erlitten oder ist auf der Cremeschicht am Boden ausgerutscht und unglücklich mit dem Kopf angeschlagen, Festivitäten haben so ihre Tücken.

 

 
 

Ein Film wie ein Benzodiazepin

 

Schon klar … der hundertundeinste Film über das Leben von Elvis Presley braucht jetzt nicht unbedingt eine Rezi – sowie die Welt auch diesen Film in toto nicht braucht, nicht mal, wenn die Regisseurin Coppola heisst, deren Vater ich die komplette Sprengung und Abfackelung einer kleinen Insel mitsamt der dazugehörigen pflanzlichen und tierischen Infrastruktur immer sehr verübelt habe: unter dem Deckmantel Antikriegsfilm lässt sich prächtig die eigene aggressive Ladung austoben – meine unmassgebliche Hypothese. Ein wirklich zutiefst friedlicher Mensch wäre sicher nicht imstande, dergleichen auf die Leinwand zu posten – und ob sich im Publikum dann auch nur lauter Kriegsgegner finden, die den Wahnsinn des Krieges und die eigene moralische Superposition bestätigt haben wollen oder ob sich da doch nicht so mancher kleine Sadist darunter befindet und recht gut von Coppola und anderen bedient wird, ist auch so manchmal meine Vermutung. Ende Sidekick – wir waren ja bei Elvis. Bezuehungsweise bei Sophia Coppola. Nehmen wir das Ganze also als Zeitphänomen. Oder als Problem der Regisseurin.

Warum also die Schilderung des monotonen Lebens eines Anziehpüppchens unter der narzisstischen Knute eines grossartigen und zuzeiten auch gutherzigen Sängers,  solange man ihm nicht auf die Füsse trat, auf der ständigen Flucht vor Leere und Langeweile und der Suche nach der passenden Frau, die zu seiner Madonna-Flittchen-Spaltung passte – zumindest ein paar Jahre lang; ewig geht dergleichen ja ohnehin nicht gut, bekanntlich. Ist ja auch schwierig, eine Frau geniessen zu wollen, ohne der über allem stehenden Übermutter und ihrem Alleinvertretungsanspruch die Treue zu brechen, da geht’s einem wie dem Frosch im Milchtopf, das war nicht nur bei Elvis so, das war auch das Problem so mancher Narzissen von der gefährlicheren Sorte wie Hitler und Stalin, ersterer hatte ja auch sein Anziehpüppchen und bei letzterem bin ich mit der Biographie noch nicht bis zum Sexualleben durch und hoffe sehr, noch überhaupt eines zu finden. Sollte man natürlich nicht mit Elvis in einem Atemzug nennen, schon klar, da tut man ihm schwer Unrecht, wobei er immerhin bereit war, einen Auftragskiller für seinen Karatelehrer anzuheuern, mit dem Priscilla kurz vor der Trennung angebandelt hatte. Die dunklere Seite des Love-me- tender-Florida-Boys.

 
 

 
 

Was ist also das Ganze? Eine Coming-of-Age-Geschichte? Hätte funktionieren können, wenn die Entwicklung der Hauptdarstellerin in irgendeiner Form deutlicher geworden wäre – so bemerkt man nur an der Änderung von Frisur und Outfit, dass in diesem hübschen Köpfchen, überwiegend in leere Räume positioniert (was für eine originelle Metapher für Einsamkeit und statisches Festgefahrensein!), überhaupt irgendetwas vorgeht. Emanzipationsdrama? Hätte uns in der Form schon in den Siebzigern nicht mehr vom Hocker gerissen, da war uns Margarethe von Trotta schon lieber.

Demontage eines der Grossen, zumindest in der Rockmusik? Schon eher, aber nix Neues, dergleichen hat schon die Grand Old Lady in realiter Miss Presley persönlich in Form ihrer Biographie als Drehbuchmitautorin 1988 abgeliefert – Elvis and Me hiess das damals. Ein Zweiteiler, und sie selbst natürlich wieder in der Rolle der tapferen treuen Gefährtin, die ihre Opferrolle dann später doch zu überwinden verstand. Und die Hauptdarstellerin Susan Walters zeigte zumindest einen Anflug von Temperament. Diesmal hat sie auch noch am Drehbuch mitgearbeitet, mit immerhin fast 80, naja. Zumindest konnte ihr der Presley’sche Fluch nichts anhaben: Elvis‘ Zwillingsbruder starb bei der Geburt, seine Mutter mit 48 an Leberzirrhose, er selbst mit 42 am Drogenkonsum, seine Tochter mit 54 an ähnlichem, nicht ohne vorher den King of Rock … äh … nee … den King of Pop Michael Jackson geehelicht zu haben, der auch nicht viel von Sex wissen wollte und sich lieber mit kleinen Jungs umgab.

Bei Elvis waren die Jungs, die für sein Dauerentertainment sorgten, immerhin schon zumindest körperlich dem Kindesalter entwachsen. Der alte Wiederholungszwang lebt noch.

Zuletzt suizidierte sich sein Enkel, ebenfalls Sänger, mit 27 und es wird diskutiert, ob man ihn noch dem Club 27 zurechnen soll –  stimmlich konnte er mit einem Jim Morrison und einer Amy Winehouse sicher nicht mithalten. Nur Priscilla steht noch botoxgestählt wie eine texanische Eiche und hat neulich noch mit Mörtel Lugner auf dem Wiener Opernball ein paar Runden gewalzt. Hut ab … oder Perücke!

Was den Film bemerkenswert macht, ist die komplette Elimination eines Stars: Der Hauptdarsteller Jacob Elordi dürfte kaum einen Elvis-look-alike –Wettbewerb gewinnen, er darf auch nicht in einer spektakulären Elvis-Show bewundert werden, die Zarathustra-Fanfare erklingt nur einmal leicht misstönend. Elvis nur als Schatten sichtbar, keiner seiner Songs ist zu hören und wenn doch dann von einer Frau gesungen (und die machen das nicht mal schlecht), ansonsten ist Elvis nur der Auslöser von Mimikveränderungen des Anziehpüppchens, die wahlweise über etwa drei bis vier Gesichtsausdrücke zu verfügen versteht. Da hat jemand sehr gründlich die Löschtaste bedient.

Dass Priscilla ihren Abgott dann mit seinem eigenen Karatelehrer betrogen hat, verschweigt der Film wohlweislich, aber wie gesagt, da hat ja auch die reale Miss Presley mitgearbeitet. Und ist ja auch blamabel, wenn eine Frau unbedingt einen Liebhaber braucht, um sich von ihrem Ehekreuz endlich trennen zu können.

 

Fazit:

 

Im Prinzip findet Elvis in diesem Film überhaupt nicht statt, er hätte fast ohne ihn gedreht werden können – die Eliminierung eines Idols bis auf die Grundfesten. Was hat Frau Coppola wohl geritten, diesen ansonsten völlig aus der Zeit gefallenen Film zu produzieren, der mindestens so langweilig ist wie das Leben einer verlassenen Hausfrau auf Graceland unter der Fuchtel von Elvis‘ Vater, der während der Abwesenheit des Sohnes auf sie aufpassen musste, damit sie wenigstens ihren Highschool-Abschluss schafft. Und sogar da musste sie noch von der Banknachbarin abschreiben – gegen das Versprechen einer Einladung zu einer Party in Graceland.

Immerhin ist Sophia Coppola die Tochter eines der (ob ich ihn jetzt mag oder nicht) Grossen der Filmwelt und mit Lost in Translation hat sie einen passablen Start hingelegt – über eine Frau die ihren Platz nicht finden kann und wiederum einen Mann dazu braucht.

Weiter gings mit Marie Antoinette, einer Frau, die durch einen Mann in ihre Position kam und der auch von Sex nicht viel wissen wollte, zumindest nicht mit der eigenen Ehefrau – das hatte er mit Elvis gemeinsam. Anscheinend liegt ihr an der Darstellung von Frauen, die offensichtlich das grosse Los gewonnen zu haben scheinen und später feststellen dass sie eine ganz andere Karte gezogen haben.

In Die Verführten (diesmal ein wirklich spannender Film) ermordet eine Horde sexuell frustrierter oder anderweitig durchgedrehter Damen einen Soldaten, der ihnen vorher zu Willen war.

Somewhere – ein Film über eine Tochter die den Vater aus seiner chronischen Langeweile befreit – wenig originell aber nett.

The Bling Ring – belanglos. Der Rest auch.

 
 

 
 

Das sehr gebremste Entwickeln einer eigenen Handschrift bei einer Regisseurin, die noch eine Weile herumzuprobieren scheint, kein wirklicher Nägelkauer mehr, nichts was einen hineinzuziehen versteht, auch kein Anknüpfen an originelle Geschichten wie Lost in Translation. Offenbar geht ihr verfrüht die Puste aus – drückt der väterliche Erfolg wirklich so schwer?

Und jetzt die Demontage eines Grossen bis nichts mehr davon übrig ist und die Sympathielenkung auf ein kleines Mäuschen das erst erwachsen werden muss … honi soit … aber wir wollen ja nicht soviel analysieren. So überlasse ich die geneigten Leser jetzt ihrem Kopfkino und zeichne für nichts verantwortlich, was sich da gerade abspielt in Sachen Priscilla und Sophia und den sie erdrückenden Männern.

Nennt sich indirekte Psychoanalyse, Jo …

Eine besonders hinterhältige Form!

 

 

Zu Daniel Schreiber, „Allein“, Verlag Hanser Berlin, 160 Seiten

 

„Und wir vergessen“, notiert Daniel Schreiber, „vergessen, auch wenn wir es nicht wollen, wer wir einmal waren. Wir brauchen Menschen, die uns genau davor bewahren.“ (17) Ich blieb an diesem Satz hängen und dachte lange darüber nach, verdichtet er doch Haltung und Überzeugung des Buches. Stimmt die LeserInnen darauf ein, in welcher Weise der Autor sich uns zur Verfügung stellen, seine Erfahrungen als Messinstrument einsetzen wird, zur Analyse gesellschaftlicher Umstände, er verfolgt dabei ein ähnliches Anliegen wie einst Joan Didion. Dieses Buch kann ein so persönliches sein, weil es vor Verallgemeinerungen der verwässernden Sorte und jeglicher Wohlfühl-Rhetorik zurückschreckt, auch bei allen inneren Betrachtungen erstaunlich diskret bleibt. Uns nur mit Fragen behelligt, die den Autor selbst umtreiben. Und das doch kein pessimistisches ist, obwohl es uns auch einlädt, den eigenen „grausamen Optimismus“ (29, Lauren Berlant) aufzuspüren.

Eine ganz eigene Gefühlsmischung begleitete mich bei der Lektüre des Buches, im wesentlichen ein Mischung aus Dankbarkeit und Trauer, ich fand es tröstlich, verschiedene Spielarten von Unbehagen in so klare Worte gefasst zu lesen. Um dann schmerzhaft festzustellen, dass damit allein ja noch nicht viel anzufangen ist: Das erspart Daniel Schreiber uns LeserInnen nicht, wenn wir bereit sind, den Blick auf die Krisen unserer Zeit zu richten, zum Beispiel auf die „neoliberale Umverteilungsmaschine, die für viele der sozialen, ökonomischen und ökologischen Notlagen, verantwortlich war“ (132/133), dass „jene gefürchteten Kippmechanismen eingesetzt hatten, die dazu führen würden, dass die Erderwärmung mit ihren Extremwetterlagen (…) nicht mehr aufzuhalten war.“ (133). Der Blick darauf sollte uns bewusst machen, dass wir hinsichtlich dieses Planeten als Lebensgrundlage alle zusammen gehören, nicht ausweichen können. In politische Verhältnisse, in einen sozialgeschichtlichen und philosophischen Zusammenhang eingebunden sind, egal wie klug und differenziert wir uns dazu äußern.

Wichtigster Auslöser für Daniel Schreibers Betrachtungen in „Allein“ war offenbar die Corona-Pandemie: In der Isolation realisierte der Autor, dass seine Erzählungen und Fantasien über sich und sein Leben als „gutes“ nicht länger Bestand haben, er zitiert dazu das Konzept des „uneindeutigen Verlusts“ (79) der Psychologin Pauline Boss, ein Konzept, das Schreiber in der zweiten Hälfte des Buches immer wieder zur Veranschaulichung einsetzt, um der überzuckerten Beschwörung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit in allen Belangen entgegen zu treten. Leben ist Vergänglichkeit und Ausgeliefertsein, an Umstände, die wir womöglich nicht beeinflussen können – als Gegenentwurf schildert Schreiber ganz zum Schluss des Buches die Pracht des Gartens von Derek Jarman, einem schwulen Maler und Filmemacher, einer kargen Landschaft und der eigenen Krankheit abgerungen.

Schonungslos könnte man zu Daniel Schreibers Buch sagen, aber vor allem ist es voller Mitgefühl, das – wie der Autor überzeugend argumentiert – bei der eigenen Person beginnt: Er traut uns LeserInnen selbst große Empathie zu, wendet sich an den Teil unserer seelischen und körperlichen Ausstattung, der uns alle verbindet: Sollten wir nicht mehr darauf schauen, anstatt auf die Unterschiede? Sind diese nicht viel unbedeutender angesichts der drängenden Aufgaben unserer Zeit? – So macht uns der Autor Toleranz vor und fordert sie nicht nur. Er zeigt aber auch, welche Spuren an Körper und Seele Stigmatisierung und Marginalisierung hinterlassen und wie ideologisch das Gerede vom „guten Leben“ tatsächlich ist: „Bezeichnenderweise schlägt keiner der wiederkehrenden Propheten des sozialen Niedergangs vor, den Kampf gegen Einsamkeit mit dem Kampf gegen Rassismus, Misogynie, Antisemitismus, Homo-, Trans- und Islamophobie zu beginnen, gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die in Armut leben, gegen all die strukturellen Phänomene der Ausgrenzung (…) Die Antwort (…) liegt fast immer in der Beschwörung der Magie der Kernfamilie.“ (62)

Im Prinzip führt uns das Buch ein umfassendes und vielstimmiges Miteinander vor: Schreiber lässt eine Vielzahl von GesellschaftswissenschaftlerInnen und EssayistInnen zu Wort kommen – die Literatur-Liste im Anhang ist lang und vor allem im amerikanischen Sprachraum verwurzelt. Daniel Schreiber macht seine Gedanken als Ergebnisse von zum Teil jahre- und jahrzehntelangen Gesprächen und Lektüren sichtbar und legt somit auch nahe, dass sich die existentiellsten Erfahrungen der Unverbundenheit wohl außersprachlich abspielen und auch in diese erste Zeit des Menschen zurückführen (so muss es nicht verwundern, dass während der Pandemie bei so vielen Menschen solcherart schwer zu ertragende Grunderfahrungen aufgebrochen sind).

Wir brauchen einander, auf die vielfältigste Weise, und sollten das nicht vergessen, ruft Daniel Schreiber uns zu: Die von vielen heißersehnte und -beschworene Unabhängigkeit ist in Wirklichkeit an Privilegien geknüpft, der Herkunft, der Hautfarbe, der Veranlagungen – Und wie erstrebenswert ist es denn wirklich, fragt der Autor, immerzu tun und lassen zu können, was man möchte? Um welchen Preis? In unser aller Köpfen steckt die Erzählung, dass zum gelingenden Leben eine Liebesbeziehung gehört, und es lauert die Scham – sollte man keine haben – mit einem Makel behaftet zu sein, zuallererst in uns selbst. Aber wie kann man als Alleinlebender lebendig bleiben, der „Trockenheit des Herzens“ (96, Roland Barthes) entgehen?

Daniel Schreiber behandelt seine LeserInnen wie gute FreundInnen, er bietet seine Gedanken und Erfahrungen als Projektionsfläche an, als zählte allein, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen. Ein Apfelbäumchen zu pflanzen zum Beispiel, denn der Autor ist offenbar ein großartiger Gärtner.

 

 


 
 

Quellenangabe: Der bewegte Mann – Schwulencomix von Ralf König

Der schwule Norbert und seine Freunde Metzger und Waltraud gehen ins „Furzkino“ um einen besonderen Film zu geniessen, werden aber durch ein paar Honks gestört, die sich offenbar verlaufen haben.

Um welchen Film gehts?

 

2024 26 Feb

wo wir sind

von | Kategorie: Blog | | 15 Comments

 
 

Gestern lernte ich ein neues Wort: „Präsenzerfahrung“. Es fand sich in einer Reflexion über das Älterwerden, zu lesen in der Taz, geschrieben von Dirk Knipphals unter dem Titel „Sixty, something“. Dieser Begriff beschreibt, neben einer gelungenen Definition für die Essenz des Yoga (we’re getting closer!) auch ein Phänomen im Hinblick kultureller Rezeption. Es gibt eine gewisse Flüchtigkeit, von der schon Goethe wusste: „Ach, Augenblick ….!“ Mich interessiert beispielsweise weniger, ob ein Album, ein Buch oder ein Film als gelungen oder misslungen bezeichnet wird, sondern vielmehr jener Moment, in dem mich etwas affiziert, berührt und irgendwie weiterträgt. Manchmal fürchte ich, das Interesse am Albumhören bereits verloren zu haben und dann ereignet es sich wiedermal ganz plötzlich: so geschehen jüngst beim Hören eines Werkes von Joshua Redman, das alle dort enthaltenen Songs nach amerikanischen Städtenamen benennt. Ich sickerte ein ins Milieu: the precious blues with every single note worth listening. Ein Ärgernis jedoch, wenn wir glauben, solche Zufallsmomente, die uns immer unverhofft zufallen, beliebig wiederholen zu können: die Repeat-Taste funktioniert hier oftmals nicht. Beim zweiten Mal dann heißt’s vielleicht: Kein Anschluss unter dieser Nummer! So hoffen wir darauf, dass es uns abermals geschenkt wird, irgendwann, irgendwo. Der Philosoph Alain Badiou nannte es das „unverfügbare Wahrheitsereignis“. Wäre diese Unverfügbarkeit nicht eine weitere treffende Definition für die Essenz des Yoga?

 

 
 

Gretchenfrage: Gibt die Mischung von beidem ein bekömmliches Getränk und wenn ja in welchem Mischungsverhältnis? Jeder von uns hat den spannenden Twist erlebt, als Charly Chaplin am Ende von Der grosse Diktator plötzlich die Ebenen wechselte: Der scheue jüdische Friseur wurde mit Diktator Hynkel verwechselt und soll nun vor grossem Volksaufgebot eine Rede halten. Das Publikum erwartet zunächst ähnliche Szenen bitterer Komik und Dekonstruktion Hitlers durch gekonntes Parodieren seiner Verrücktheiten und damit einen knallenden Showdown.

Plötzlich ändert sich aber Chaplins Mimik und Stimme, er verlässt seine Doppelrolle und tritt uns als Regisseur und anklagender Mensch entgegen. Ein starker Bruch im Film, den wir nun nach anderen Kriterien bewerten müssen, als wir Persiflage sonst bewerten, ein Sturz in die Realität, eine andere Art Beziehung zu dieser janusköpfigen Leinwandfigur. Ein Regisseur, der selbst auf der Bühne erscheint – nicht als Cameoauftritt, sondern als der der er ist – und erklärt was er rüberbringen wollte – das erlebt man nicht alle Tage. Zunächst ist man irritiert, verzeiht ihm aber den Stilbruch aufgrund seiner moralischen Botschaft, die das Medium breit zu streuen versteht. Und die Rede beginnt mit den magischen Worten, die Türen öffnen können und die Hitler selbst niemals ausgesprochen hätte: Es tut mir leid … !

Und das ist mehrdeutig: Der jüdische Friseur erklärt, dass er gar kein Diktator sein möchte, für den ihn noch einen Moment lang alle gehalten haben. Für einen kurzen Augenblick verharrt er noch in der Rolle, dann (Quantensprung) spricht er als Mensch, der empört das Kriegsgeschehen in Deutschland betrachtet und er ist klug genug, seine Botschaft nicht auf Deutschland zu reduzieren in dem Wissen, dass Faschismus und Angriffskriege ein ubiquitäres Phänomen sind.

Am Ende der Rede ändert Chaplin das Trägermedium – die message findet ihre Fortsetzung in getragener Musik, die letztlich auch seine weit entfernte Freundin Hannah erreicht, die gerade von einem SS-Mann zu Boden geschlagen wurde, sich nun wieder erhebt und die Botschaft von Herz zu Herz beziehungsweise durch die Lüfte empfängt. Wir sind plötzlich wieder im Filmgeschehen, die Beziehung Zuschauer – Protagonist ändert sich ein weiteres Mal. Momente der Verwirrung, nicht kognitiv, aber eine Stufe tiefer und damit die rationale Abwehr unterlaufend und ins Ungeschützte treffend, so arbeitet auch die Hypnotherapie.

Und die hübsche Paulette Goddard, die Ex von Remarque, sollte halt auch noch mal ins Spiel kommen, die Kamera liegt ohnehin während des ganzen Filmes vor ihr auf den Knien und natürlich Chaplin selber auch, waren ja gerade mal 4 Jahre verheiratet und haben sich erst 2 Jahre danach getrennt. Dabei gerät Chaplin in den letzten beiden Minuten deutlich in den Kitsch und man verzeiht ihm auch das. Hätte nicht sein müssen – aber schadete auch nicht.

 
 

 
 

Ist Kitsch erlaubt, wenn es um die gute Sache geht oder nicht doch qualitätsmindernd?Andersrum: Darf ein Katholik Das Leben des Brian gut finden, von vielen als blasphemisch empfunden? Dabei war der Streifen lediglich angenehm unaufgeregt-respektlos gegenüber christlichem Schwurbel, schreckte vor keiner Pausenhofblödelei zurück und ist heute Kult.

Darf ich Oppenheimer (Gähn! Der Gewinner des Barbenheimer-Duells stand für mich sehr rasch fest – zu wenig von den inneren Konflikten dieses Mannes kam bei der Zuschauerseele an, zuviel Getöse auf den äusseren Bühnen und unnützes Gewese um seine kommunistischen Umtriebe, viel Form, wenig Gefühl)  oder Im Westen nichts Neues als Film schlecht finden, obwohl sie Träger humaner Botschaften sind?  Darf ich Lolita (den Roman, nicht die beiden völlig danebengegangenen Verfilmungen) gut finden, obwohl er vom Leben und Empfinden eines pädophilen Triebtäters handelt, den man aufgrund der Art seines Sich-Darstellens zusehends noch sympathisch und amüsant findet und ihn als tragisch Liebenden erlebt? Zwiespalt … !

Beim Casting der beiden 1962 und 1997 gedrehten Filme spiegelte sich dieser Zwiespalt darin, dass man offenbar Schwierigkeiten hatte, die Rolle der Lolita adäquat zu besetzen. In der ersten Fassung wählte man eine kesse platinblonde Achtzehnjährige, in der zweiten eine weitgehend ausdruckslose magere Siebzehnjährige mit doofen Zopffrisuren, die eher in die hiesigen Trachtenumzüge gepasst hätte. Klar, dass man für diese Rolle keine Zwölfjährige einsetzen kann – aber dann sollte man’s eben halt einfach auch bleibenlassen. Irgendein kluger Mensch hat einmal vorgeschlagen, man sollte Preise vergeben für Bücher, die NICHT geschrieben wurden, das sollte man auch auf Drehbücher ausweiten.

Kämpfende Kunst hiess eine 1975 erstmalig erschienene Zeitschrift des Bundes „Sozialistischer Kunstschaffender“ (der KPD nahe stehend und sich scharf gegen die revisionistischen und konterrevolutionären etablierten Parteien DKP und KPDSU abgrenzend), die sich unter der Prämisse „Die Kunst gehört dem Volk“ zusammengefunden hatte. Wobei unter „Volk“ die kämpfende Arbeiterklasse gemeint war, die verstärkt agitiert werden sollte. Der Ansatz ist bekannt. Ob das eine spannende Kunst war? Brecht schaffte es oft noch, dichterische Eleganz und visuelle Faszinationen in sein revolutionäres Werk zu verpacken, die künstlerische Qualität anderer dichtender Agitatoren blieb mir weitgehend verschlossen. Das war ein Anfeuern zu Streik und zivilem Ungehorsam, völlig ok – aber Kunst?

 
 

 
 

Offensichtlich beisst sich hier was und es scheint von vielen verleugnet zu werden, dass es sich beisst. Aber muss es sich beissen oder ist es ganz gut dass es sich beisst? Dass Kunst nicht funktionalisiert werden kann … eine Überzeugung von so manchem Kunstschaffenden? Der Kunstschaffende möchte etwas zeigen, Assoziationsketten beginnen, erleben und miterleben lassen, den Rezipienten ermöglichen, dass sie sein Werk entdecken (wie die 7 blinden Mäuse den Elefanten) und sich vielleicht danach zu einer Synopsis zusammensetzen und nochmal etwas Spannendes entstehen lassen. Der Künstler, der eine Botschaft im Gepäck hat, möchte aufklärerisch-erzieherisch wirken.

Das freie Spiel der Assoziationen des Rezipienten, der sich auf dem Büffet nehmen kann, was er möchte, wird kanalisiert in einen pädagogischen Prozess zum Zwecke einer Verhaltens – oder zumindest Einstellungsänderung, das mag ein Korsett sein für Kunstschaffenden und Kunstwerk und ein schwieriger Parcours, auch für den Zuschauer.

Und ich hasse es, wenn ich in die Zwangslage komme, einen Film zu loben, weil dessen Meriten darin bestehen, dass endlich einmal dargestellt wird, wie der Landraub an der indigenen Bevölkerung seinerzeit ausgesehen hat – trotzdem fand ich Killers of the Flower Moon nur mässig spannend, entschieden zwei volle Stunden zu lang und DiCaprio als unterbelichteter und manipulierbarer Nichtsschnaller auch nicht gerade in Bestform und offensichtlich wenig begeistert von seiner Rolle – kein Tarantinosches Sprühen, kein Glanz und keine Hingabe an seine Rollen wie bei Christopher Nolans multiplen Verwirrspielen (jaaaaaa, ich weiss, aber ich mag den Leo halt!), sondern ein zweistündiges Herummuffeln mit permanenter 20-nach-8-Mimik, obwohl man ihm eine bezaubernde Filmehefrau zugesellt hatte. Das hätte unser Gesundheitsminister auch noch hingekriegt. Oder die Exkanzlerin …

 
 

 
 

Da entwickelt sich nichts bei mir, da wächst nichts im Zuschauer, da habe ich eher das Gefühl, es wird mir etwas reingedrückt, da ist mir eine Doku lieber, da bin ich auf Belehrung eingestellt, da entwickle ich Gefühle für die Opfer jedweder Machenschaften, da kann ich mich ohne Ablenkung mit Realitäten auseinandersetzen. Und natürlich kann man diesen braven Filmen die Bepreisung nicht verweigern, das wissen die Regisseure sehr wohl – Oscars, Goldene Löwen und goldene Palmzweige wurden reichlich auf deren Wegen ausgestreut.

Und manchmal zweifle ich auch an den guten aufklärerischen Absichten der Regisseure, mir wurde auch nicht bekannt, dass Herr Scorsese von seinem Gewinn etwas an die verelendeten Indigenen in ihren Reservaten abgetreten hat, das hat der schon selber eingesackelt und steckt es in das nächste caritative Projekt – mit Gänsefüsschen. Hoffentlich ist der Leo so schlau, sich rechtzeitig zu verkrümeln, hat sich so gut entwickelt von der herzensguten Titanic-Wasserleiche zum grandiosen Fiesling in Django Unchained. Da konnte er an seine umwerfenden Darstellung eines behinderten Jungen Irgendwo in Iowa von der Ausdrucksstärke her anknüpfen.

Das Kriegsdrama Im Westen nichts Neues startete mit einem Budget von 20 Millionen und spielte bis jetzt 2,3 Milliarden ein und der Siegeszug bei Netflix hat gerade angefangen – der Regisseur wollte zeigen, wie schrecklich Krieg ist, das hat er ja auch geschafft – allerdings mit dem Nebeneffekt, dass viele den Film nicht bis zum Ende durchstanden oder zumindest innerlich das Licht ausknipsten (ZQF so gegen 50) – ich selbst verbrachte die gesamte Filmzeit in einem Zustand der Duldungsstarre. Leider wurde dabei – sicher nur versehentlich – auch versäumt, einen Teil dieses sehr stattlichen Gewinnes an ein kriegsgebeuteltes Land abzutreten, etwa um das zerstörte Aleppo wieder aufzubauen oder zur Versorgung ukrainischer Flüchtlinge ein Scherflein beizutragen. Wenn ihnen schon so an der guten Sache liegt. Oder tuts das etwa doch nicht? Dann dürfte die Sache langsam zur Masche werden.

Kunst heisst nicht, etwas zu lehren – sie soll im Menschen etwas wecken und zum Leben bringen, das vielleicht eigenständig weiterlebt und wieder etwas anderes hervorbringt. Er muss sich dessen nicht einmal bewusst sein. Aber Kunst zu definieren ist müssig, das lass ich jetzt lieber – zu schwer fassbar, zu individuell, zu prozessual, ich komme mir gerade wie ein Schullehrer vor und jetzt hör ich auf sonst wird’s dröge. Vielleicht soll Kunst ja überhaupt nichts, vielleicht sollte man sie betrachten wie das Wunder eines neugeborenen Kindes, das soll auch nichts ausser unser Herz erfreuen und meistens schafft es das sogar … ich glaube, das wäre eh das Beste und ich spar mir jetzt das weitere Blubbern hier. Oscar krieg ich eh keinen …

Also nur ein paar Gedanken, in die Kladde geredet.

 

2024 23 Feb

Und dieses?

von | Kategorie: Blog | | 7 Comments

 

 


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