Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2024 14 Jun

Ökografien seit 2010

von | Kategorie: Blog | | 9 Comments


 

„Mannsbild“ 2014
24,5 x 31 cm
SW-Fotografie koloriert, gepresste Trockenpflanzen

 
 

„Weibsbild“ 2014
24,5 x 31 cm
SW-Fotografie koloriert, gepresste Trockenpflanzen

 
 

Die den Ökografien zu Grunde liegenden Bilder müssen zu aller erst einmal mein Interesse erregen: das kann das Spezielle einer abgebildeten Situation sein, deren (druck)spezifische Ästhetik, eine bestimmte Stimmung, oder schlicht eine Geste. Diese Bilder finde ich am „Zweiten Bilderweg“, d.h. im Altpapier genau so wie in kunsthistorischen Wälzern, alten Bilderrahmen, oder Tageszeitungen und Zeitschriften. Ich kaschiere sie auf Karton, Schwarz-Weiß Abbildungen koloriere ich meist zart im Zentrum des Geschehens. Die Blüten und Stängel sammle ich zu Hause und auf Reisen, sie werden klassisch zwischen Buchseiten und Löschpapier getrocknet und gepresst. Meist ist es erst die Form oder der Schwung eines Pflanzenteiles, die mir den Weg der Bildgestaltung weisen – sie ist eigentlich nie von vornherein klar. Es ist ein wenig wie Zeichnen (oder Malen) mit Pflanzen. Die Rahmung mache ich selber. In dem reichen Fundus, den ich seit Jahren zusammen trage, findet sich für jede Bildaussage der passende Rahmen, und für jeden Rahmen -früher oder später- eine neue (Be)Stimmung.

 

Ein Gastbeitrag von Uwe Bressnik

uwe-bressnik.info/best/oekografien

 
 

Der schlimmste Mensch der Welt (Norwegen, 2021) von Joachim Trier –
ein etwas seltsamer Titel und zahlreiche Nominierungen zeichnen ihn aus.

 

„Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, wenn an der nächsten Ecke schon ein andrer steht …“ sang Marlene Dietrich dermaleinst: das Hohelied der Bindungsunfähigen oder -unwilligen, die uns ihr Defizit als Lebenskünstlertum verkaufen wollten. Der Protagonistin des Films, Julie, fehlt es an solcherart Zynismus, trotzdem wartet für sie das Glück immer hinter der nächsten Ecke und will sich in der Gegenwart nur bruchstückhaft und wenig glaubhaft manifestieren.

Als Endzwanzigerin der vielgeschmähten Gen Z angehörend und von der Natur mit allen guten Gaben ausgestattet, schlängelt sie sich durch ihr Leben wie eine Forelle durch einen Bach, mal geruhsam mäandernd, mal sich treiben lassend, aber immer seltsam ziellos, mit einem ebenso hohen wie diffusen und schwer zu versprachlichenden Glücksanspruch. Sie weiss nicht, was sie will, aber durchaus, was sie nicht will und in der Regel ist es meistens das, was sie gerade hat, und dieses versteht sie sich trefflich schlechtzureden.

Das Medizinstudium wird geschmissen, ein Psychologiestudium ebenso, eine fotografische Ausbildung ist auch nicht das, was sie zu sein versprach. Auch das Kind, das sie schliesslich doch erwartet, ist offenbar klug und verlässt ihren Körper sehr frühzeitig auf dem Wege, auf dem es hereingekommen ist und hinterlässt zumindest so etwas wie Erleichterung als dauerhafte Erinnerungsspur. Die Partner passen sowieso immer nicht.

Dieses Leben ist beherrscht von einem grossen Jetzt-noch-nicht als permanente Erwartungshaltung, bezogen auf ein in der Zukunft wartendes Etwas, welches man nicht versäumen darf, denn wenn man es hat, kommt das Glück. Somit wird nichts angepackt, kein Sich-Einlassen, keine verbindliche Bezogenheit hergestellt, immer wieder ein neuer Aufbruch zu verlockenderen Gestaden, bis die durchaus sympathische Protagonistin erleben muss, dass Züge nicht endlos warten, sondern durchaus auch manchmal schon abgefahren sind.

Wird sie die Kurve noch kriegen? Man erfährt es nicht, ertappt sich aber – und das ist die Stärke des Filmes (wenn im Kopf mehr passiert als auf der Leinwand, deshalb schätze ich Blair Witch Project, was immer keiner versteht) bei der Reflexion, ob ein dergestaltiges Leben ohne Richtung und Ziel nicht auch Wert und Genuss bietet. Schliesslich sprachen die Existenzialisten auch von einem permanenten Transzendieren und Sich-neu-in-die-Zukunft- Entwerfen als grundsätzliches Lebenskonzept. Wobei die Existenzialisten ihre Philosophie auch nur für die Oberschicht entwickelt zu haben scheinen – ob sich eine kinderreiche Mutter oder ein ausgepowerter Bauarbeiter ständig neu in die Zukunft entwerfen und transzendieren können bezweifle ich ja schon.

Und Beauvoir tönte auch immer über weibliche Lebensentwürfe, als wäre jede Frau mit Geistesgaben und finanziellen Mitteln ausgestattet, die problemlos den Besuch der Sorbonne ermöglichen und liess sich dann brav für den Rest ihres Lebens vom Hotelpersonal das Zimmer putzen und die Wäsche machen und hat vermutlich nie eines der Mädels gefragt, wie es ihr geht und wie sie sich ihre Zukunft wünscht. Marxisten ja … aber trotzdem eine Philosophie für die Grosskopferten.

Mit der Formulierung der Entwürfe hapert’s dann noch etwas bei Julie, der Dampfplauderin.

 
 

 
 

Oder führt sie ein buddhistisch geprägtes Leben im Sinne eines Gone, gone, gone beyond? Oder trudelt sie nur durch die Gegend, von unbewussten Kräften getrieben (bzw eher Kräften die sie von etwas abhalten), die wir nicht kennen und von denen sie nicht weiss, wie sie sie ergründen soll? Ihr Vater scheint wenig an ihr interessiert, erfahren wir by the way. Auch so ein Motor für eine ewige Suche.

Immerhin lernen wir etwas über das Lebensgefühl einer Generation, der so viele Möglichkeiten offenstehen, dass sie sich immer schwerer entscheiden kann. Oder die nur meinen, dass diese Möglichkeiten bestehen und dann vor verschlossenen Türen stehen. Ein kleiner, stiller, ereignisarmer Film, der das Kopfkino anzuwerfen versteht und auch das eigene Leben einmal kritisch auf Nicht-genug-Gelebtes abklopfen lässt.

Danach der Sprung in die Realität: Ich will zum Arzt, Rezept holen. Für Musik- und insbesondere James-Last-Freunde: Einfach einen beliebigen Arzt anrufen, dann gibt’s beruhigende Musik in beliebig langer Dauerschleife. Also hinfahren. Arzt im neugegründeten MVZ sitzt schwitzend selbst an der Rezeption und druckt Rezepte – man bekommt keine Sprechstundenhilfen mehr. „Heut machen’s ja alle was mit Medien!“ Apotheke hat nachmittags heute zu, kein Personal. „Heut wolln’s ja alle Influencer werden!“ grummelt ein erschöpfter Apotheker. Das hiesige Altenheim hat freie Betten, aber kein Personal, trotz verbesserter Bezahlung. Einen Elektriker tät ich auch brauchen … längere Wartezeiten wie ein Starpsychoanalytiker.

Ein schwebender Film, eine schmerzhafte Wirklichkeit.

 

 
 

Ein Titel wie bestellt, weil doch Schlaf und Träume so wichtig sind für eine gesunde Gehirn- und Erinnerungsleistung und neben anderen wichtigen Faktoren auch dazu beitragen können, dass wir selbst in höherem Alter noch neue Synapsen bilden können – zudem Vorbedingung, um überhaupt kreative Entscheidungen zu treffen. Sie sind ja auch grossartige Geschichtenerzähler und man wundert sich oft, in welchen Schichten da so gegraben wird und was zutage kommt. Vom Zentrum der Träume geradewegs zum Thema dieses Textes: Der Pianist John Escreet hat im Zusammenspiel mit dem Saxofonisten Mark Turner, dem Bassisten Eric Revis und dem Drummer Damion Reid ein enorm kraftvolles Album vorgelegt. Mir gefällt der markige Anschlag: das volle Pfund. Die Unisono-Passagen von Saxofon und Klavier sind ein Hochgenuss. Das ganze Album bietet diese geniale Spannbreite zwischen Jazzrock (obwohl dies kein Jazzrock ist) und dem freieren Spiel eines Cecil Taylor etwa. Diese Art Musik ist auch ein triftiger Grund, warum ich überhaupt Jazz höre (davon wird hier noch zu schreiben sein). Was mich freut, ist die momentane Neugier, sowohl auf Neuerscheinungen als auch auf das Wiederhören von Bekanntem. Denn man hört eigentlich auch immer anders, wenn man sich selbst verändert. Ein gutes Qualitätsmerkmal ist ja das Vorhaben, etwas noch einmal hören zu wollen (und bei TV-Serien den Staffellauf zu wiederholen). Zum Epicenter der Träume kehre ich garantiert zurück. „Richtig geile Mucke“, wie wir in Hannover sagen (nicht nur die Stadt im Grünen, sondern auch der Grünen, wie der gestrige Wahlausgang zeigt).

 

 

1950!

Die Trümmer waren verräumt, der Hungerwinter von 1946 durchgestanden, die Währung stabilisiert, das Grundgesetz festgeklopft und das gestrauchelte Kind Deutschland (ein Euphemismus, ich weiss, aber so sah man sich damals) begann mithilfe der amerikanischen Militärregierung wieder auf eigenen Beinen zu stehen und die Wirtschaft und Infrastruktur zu stabilisieren. Man konnte sich wieder sattessen. Erst kommt das Fressen und dann … Wünsche begannen wie Luftblasen an die Oberfläche zu steigen – ein bisschen Schönheit, Sonne, Abenteuer, Erotik, Romantik und vor allem Freiheit und Mobilität, ein bisschen schamhaft, aber neugierig mal über den Zaun peilen. Aber wie erfüllbar, wenn die umgebenden Länder jahrelang als Feindes – und Besatzungsland umdefiniert waren und deren Bevölkerung als minderwertige Rassen – und man dort ohnehin persona non grata war?

Das braucht eine grössere Portion an mindchanging, um wieder angstfrei ein Bein auf fremden Boden setzen zu können, ein bisschen Schönfärberei, ein bisschen Exotisieren, den einen oder anderen Euphemismus, ein bisschen Stereotypisieren und schon stellt sich der Sehnsuchtsmodus ein und die Fliehkräfte siegen über die Kohäsion – aber gleichzeitig und heimtückischerweise gebiert das eine wiederum distanzschaffende Abwehroperation: Wir wollen uns unsere Bilder vom Fremden selbst machen und nicht vom wirklich Fremden überrannt werden, wir wollen zumindest die Deutungshoheit behalten über das, was vor kurzem noch verpönt war. Zigeunerinnen galten als fragwürdig, aber schön und sexy, Indianer leben im Feindesland, aber sind, keine Sorge, gutaussehend und von edler Gesinnung – eine Art geistige Kolonisierung fremder Länder durch ein Volk, das immer noch genau bestimmen wollte, wie die Welt zu sein hat und sie sich nach seinem Bilde schuf und Bedingungen stellte, um sie wieder für sich begehbar zu machen. Und Hulamädchen sind prima – Erotik hilft immer bei dergleichen Umformungen, das ist ein prima Gleitmittel.

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

Jedenfalls kriegte man damals fast Augenkrebs bei soviel Alibibuntheit.

Und bei Karl May, der in diesen Jahren filmisch reüssierte, reiste der schwer deutschtümelnde Old Shatterhand zu den Indianern, um alles auszumerzen, was nicht seinen teutonischen Idealen entsprach – eine Old-Shatterhand-look- alike-Neukolonisation sozusagen, da gings dann schon wieder los mit der wohltönenden Weltverbesserung und dem ganzen Mief. Und nur der nahezu perfekte und ihm am ähnlichste Winnetou wurde von ihm adoptiert, der hatte ja auch einen deutschen Lehrer – ebenso wie Old Shatterhand aus Sachsen stammend – da fremdelts sich gleich viel weniger und sogar die Indigenen konnten jetzt mit einem weiteren Sachsen persönlich wachsen und am deutschen Wesen genesen – als ob sie vorher krank gewesen wären. Ob das ganze dann als pädagogisch wertvoll gesehen werden kann, möge jeder selbst für sich entscheiden – über die massiv-unterschwelligen homoerotischen Sexual-Messages hat sich ja Arno Schmidt bereits ausgelassen, eines der amüsantesten Bücher die ich je gelesen habe. Hitler war jedenfalls bekennender Karl-May-Fan. Friedrich Wilhelm auch. Wen wunderts?

 
 

 
 

Und wieder formte man sich die Welt nach seinem Bilde …

Warum erinnert mich die diesjährige gutgemeinte Biennale (Foreigners everywhere) hier jetzt bloss an diese Zeit? Übertreib ich mal wieder? Wäre ja eine meiner besten Eigenschaften …

 
 

 
 

 
 

 
 

 

 
 

Ein jeder solle nach seiner Fasson selig werden, meinte der Alte Fritz. Gestern wieder so ein seliger Hörmoment, ganz nach meiner Fasson. Ein Album zum Sich Wundern, Genießen und Wegdriften. Eine schwebend nebulöse Grundstimmung herrscht vor, sozusagen als Grundierung, in die dann „allerhögscht (Jogi Löw) erdige, verdichtete Klangcluster hineindrängen. Der Gitarrist Christian Fennesz sorgt für beides. Im Zusammenklang seiner fuzzytones mit den klaren, kräftigen Piano-Tinkturen von Sylvie Courvoisier ergeben sich erstaunliche Effekte. Wieder so eine Musik, die Lust macht, selbst zu spielen. Das mag auch daran liegen, dass es hier weniger um Virtuosität geht (die vielzitierte „Athletik des Bebob“) als vielmehr um das Erzeugen von Atmosphären. Aber auch afrikanisch angehauchte, obercoole und, sorry: richtig geile Groove-Ansätze schleichen sich ein. Chimaera heisst das Album und um sicher zu gehen, dass ich hier nichts Falsches sage, googele ich vorsichtshalber mal „Chimäre“. Aha, also doch etwas ganz anderes als das gedachte „schemenhaft“. Beides passt, denn gemeint ist ein Organismus, der aus unterschiedlichen Geweben aufgebaut ist. Zwei Trompeten sind dabei, wunderlich genug, doch es macht Sinn. Eine davon spielt Wadada Leo Smith. Die rhythmsection kommt aus dem Umfeld von John Zorn: die erstklassigen Drew Gress am Bass und Kenny Wollesen am Schlagzeug. Eine klare Hörempfehlung! In meiner schemenhaft visualisierten Jahresbestenliste jetzt schon auf den vorderen Plätzen angesiedelt.

 

 

The Zone of Interest (D, 2023) von Jonathan Glazer

 

Der Film beginnt mit einer Art Ouvertüre, einem permanenten sphärischen Rauschen und Dröhnen bei dunkler Leinwand, minutenlang, bis Vogelstimmen ertönen und einem bösen Traum, in den man unversehens gefallen ist, zunächst ein Ende machen.

Dann ein gepflegter Garten, abgegrenzt von einer Mauer hinter der wir Wachttürme und Schornsteine sehen und das Hintergrundrauschen der Krematorien dort verorten können. Dann Familienleben, getrennt in Frauenwelten (weisse Wäsche, Babys die an Blumen schnuppern), gegeneinandergehalten zu Männerwelten, in denen über die Kapazität von Verbrennungsöfen und deren „Ladungen“ – womit Menschen gemeint sind – diskutiert wird.

Bedrückend düsteres spiessiges Mobiliar für ein spiessiges Familienleben, die Protagonisten irren in permanenten Halbtotalen durchs Haus und die angrenzende Umgebung, eine merkwürdig indifferente fahle Natur. Der Film verzichtet auf Handlung (bewusst?), ist nicht interessiert an seinen Figuren. Wozu man bei diesem darstellerischen Minimalprogramm eine Sandra Hüller anheuern musste, bleibt verborgen, da hätte eine Schauspielschülerin auch genügt – einzig die Farblosigkeit von Christian Friedel vermittelt etwas vom Topos der „Banalität des Bösen“, aber vermutlich eher unabsichtlich vermittelt als hinein – und wieder herausgearbeitet. Immerhin übergibt er sich zum Ende des Filmes als erste und auch letzte menschliche Regung – warum auch immer, aber zuviel Verdrängung bringt eben den Körper zum Somatisieren, wenn er etwas loswerden muss. Immerhin bekommt der Commandante das Kotzen.

Eine Aneinanderreihung von Alltagsbanalitäten vor den Toren von Auschwitz, das als permanentes Hintergrunddröhnen der Krematorien, Schreie, Schüsse und Hundegebell anwesend ist. Das Kopfkino wird angeworfen beim Zuschauer, das ist das Verdienst des Filmes und ein geschicktes Stilmittel, um das Nebeneinander von Grauen und bräsigem Bürgeralltag zu zeigen. Leider bleibt es das einzige, was für fast 2 Stunden dargestellt wird – das Grauen kommt nicht näher und bleibt hinter den Mauern, die Figuren zeigen weder Bewegung noch Entwicklung noch Mimik und verraten auch nichts über ihr Gewordensein – wobei viele Dialoge durch das permanente Grundrauschen auch schwer verständlich und vernuschelt sind, was bei deren Banalität aber dann auch wieder vernachlässigbar ist. Das rührt nicht an und erweckt kein Gefühl, eher eine Art Duldungsstarre.

Die Funktion des polnischen Mädchens, das Lebensmittel für die Lagerinsassen im Gelände versteckt, wird nicht deutlich und bleibt fremdkörperlich – der Einbruch des Guten in das Gleichgültig – Böse, optisch im Negativmodus dargestellt oder ähnliches, aber irgendwie aussen vor und deplaciert wirkend (parallel dazu liest Höß seinen Kindern im Bett vor, wie die Hexe im Ofen verbrennt und verknuspert – unsere romantischen deutschen Waldesrauschmärchen eben, von denen die Psychoanalytiker heute noch nicht lassen können und in regelmässigen Abständen verkünden, wie gut diese den Kindern tun – wie habe ich die gehasst). Aber hier passts!

Danach die Schlussszenen mit dem Sprung in die heutige Realität der Gedenkstätte von Auschwitz mit Bergen von Schuhen hinter Schaufenstern und einer Hilfskraft die ein Krematorium reinigt (oder eine Gaskammer?)  – wie eine Flucht vor den Figuren, denen man anders nicht entkommen zu können scheint als sie einfach so zu verlassen, wie sie nun mal eben sind und eine andere Realitäts – und Zeitebene zu betreten. Auch diese Szenen stellen keinen wirklichen Bezug her und bleiben etwas beliebig hineingeflickt oder hintangereiht.

So verbleibt der einzige Lerneffekt dieses Filmes, dass man sieht, wie Verdrängung funktioniert und wie man selbst lernt das Hintergrundrauschen der Tötungsmaschinen soweit auszublenden, dass man hinterher behaupten kann, man habe nichts gehört und gesehen.

Ein Film mit einem künstlerisch guten und humanen Ansatz, der leider aber fast alle sich bietenden und ihm innewohnenden Gestaltungsmöglichkeiten verschenkt und lieblos heruntergekurbelt wirkt. Aber es gibt ja bekanntlich auch Oscars für die Kategorie „Gut gemeint“ und niemand würde sich erlauben, einen Film, der den Holocaust anprangert, nicht zu bepreisen.

Und über den Konflikt zwischen Kunst und Moral habe ich mich ja schon vor einigen Monaten geäussert, das sind halt doch zwei sehr verschiedene Paar Stiefel …

 

Movement 0 – Prelude
 

Eine junge japanische Ausnahmeperkussionistin reiste einst nach Belgien, um mit dem Ensemble ICTUS Stücke von Steve Reich aufzuführen. Ihre extreme Präzision, die selbst mit Schlagzeugern wie Jaki Liebezeit und Billy Cobham, die den Ruf hatten selbst ein Metronom an die Wand spielen zu können, problemlos mithalten kann, und ihr elegantes und leichtes Spiel prädestinierten sie in besonderer Weise für die Musik Steve Reichs. Als dieser sie bei Proben und Aufführungen erlebte, war er tief beeindruckt von ihrer Spielweise. Seine komplex rhythmische Musik ließ sie aber nicht mehr los und als sie sich nach einer längeren Phase des Tourens mit dem Ensemble ICTUS ihrer Solokarriere zuwandte, waren Kompositionen Steve Reichs die Ersten auf ihrer Agenda. Dazu mussten sie aber neu arrangiert werden, da Kuniko Kato die Idee hatte, diese Ensemblestücke auch solo aufführen zu können. In enger Rücksprache und unter Supervision mit Steve Reich gelangen ihr kongeniale Interpretationen, die ein neues Licht auf die Kompositionen werfen und sie in beeindruckender Weise transparent, ja fast luzide aber auch kraftvoll erscheinen lassen. Immer wieder erhielt Kuniko Kato für ihre einzigartige Performance bedeutsame Preise und Auszeichnungen.

 
 
 

 
 
 
Movement I – Fast
 

2011 erschien dann ihr Debütalbum Kuniko Plays Reich mit höchst originellen, atemberaubenden Interpretationen von Electric Counterpoint für Steel Pans, Vibraphon und Marimba, Six Marimbas Counterpoint und Vermont Counterpoint für Vibraphon. Hierbei spielte sie sämtliche Parts vorab auf Tapes ein, um dann die Soloparts live dazuspielen zu können. Die entspannte Präzision und rhythmische Stringenz trägt mit höchster Konzentration und tänzerischer Leichtigkeit durch diese komplex polyrhythmischen Stücke, die Synkopen und Phasenverschiebungen, die schon für jedes Percussion Ensemble zu den schwierigsten Herausforderungen moderner Musik gehören. Ein Debüt, das Maßstäbe gesetzt hat und bis heute solitär unter den Interpretationen der Musik Steve Reichs dasteht.

 
 
Movement II – Slow
 

Danach wendete sie sich zunächst der Musik Arvo Pärts zu und versteckte aber auf dem Album Cantus ihre Version des New York Counterpoint und spielte 2018 dann Drumming (hier auch visuell sehr eindrucksvoll: live zu Steve Reichs 85. Geburtstag) ein. Dazwischen lagen ein Tribut an den japanischen Komponisten Akira Miyoshi und perkussive Annäherungen an Iannis Xenakis und mit Solo Works For Marimba an Johann Sebastian Bach.

 
 
Movement III – Fast
 

Doch die Kompositionen Steve Reichs sind nahezu prädestiniert für eine so originelle und talentierte Musikerin wie Kuniko Kato und ihre Kreativität im Umgang damit scheint keine Grenzen zu kennen, zumal der Komponist selber zwar recht präzise Vorstellungen vermittelt, aber auch immer wieder positiv überrascht vom Ideenreichtum Kuniko’s ist. So erschien Ende April Kuniko Plays Reich II, das mit Four Organs eröffnet wird, bei dem über das ganze Stück ein und derselbe Akkord mit unterschiedlicher Akzentuierung und zunehmender Länge in Begleitung einer ganz regelmäßigen Maraca intoniert wird, was bei den ersten Aufführungen zu heftigen Tumulten führte, da das Publikum sich durch die schlichte Einfachheit offensichtlich provoziert fühlte. Ein Stück, das aber in sensibler Weise den Übergang von perkussiv gedachten Orgeltönen in einem graduellen Prozess zu fast ambienthaften langsamen Schwebungen durchläuft und bei jedem Hören zu neuen Entdeckungen anregt. Dann folgen Piano Phase version for Vibraphone, Nagoya Marimbas und das Mallet Quartet als jüngstes Stück, die durch die von Steve Reich als maschinenhaft beschriebene graduelle Phasenverschiebung eine subtilste Lebendigkeit und Vitalität gewinnen und die Aufmerksamkeit bis in die letzte Minute hinein bannen. Steve Reich hat als ausgebildeter Perkussionist die Minimal Music am tiefgründigsten in ihren rhythmischen Potenzialen ausgelotet, die trotz scheinbar vordergründiger Monotonie eine maximale hypnotische Kraft entwickelt. Kuniko Kato hat mit ihren überragenden und zutiefst faszinierenden Interpretationen diese Musik in neue Dimensionen gehoben.

 
 
 

   

 

2024 30 Mai

Vom guten Schlaf

von | Kategorie: Blog | | 7 Comments

 

Mit dem Buch Das erschöpfte Gehirn fing mein Interesse für neuronale Vorgänge Feuer, fand ich neurowissenschaftliche Auslassungen zuvor doch immer seltsam nichtssagend, redundant und schwer greifbar. Kommt nämlich zu diesen schwer fassbaren Vorgängen auch eine affirmative Grundhaltung des Positiven Denkens hinzu, schaltet mein Interesse ganz schnell auf Stand-By: den Schlafmodus. Das Buch des renommierten Genforschers Michael Nehls hingegen liest sich spannend und wirkt nachhaltig, da es auch eine Menge Zeit- und Gesellschaftskritik enthält. Der Arzt beschreibt beispielsweise, wie wichtig ausreichend Schlaf sei zur Regeneration, Kreativität und Lernfähigkeit. Dass auch Bewegung, gesunde Ernährung und die Versorgung mit essentiellen Mikronährstoffen, die fälschlicherweise immer als „Nahrungsergänzungsmittel“ bezeichnet oder diffamiert werden, dazugehören, versteht sich von selbst. „Du musst dein Leben ändern“ – so betitelte der Philosoph Peter Sloterdijk ein Buch, in dem es um die Wichtigkeit von Übungen („Disziplin“) geht. So what? Inwieweit wirken Informationen und Wissen auf mein alltägliches Leben? Entstehen neue Handlungsmuster? Ein ganz wichtiger Aspekt ist hier der Unterschied zwischen dem automatischen Modus und dem Lernen neuer Handlungsweisen. Daniel Kahnemann bekam den Nobelpreis für seine Erkenntnisse über langsames und schnelles Denken. Handeln in tief verankerten Automatismen nennt man den Zombiemodus. Der ist durchaus gewünscht, denn nicht in jeder Kaffeetasse, die aus dem Schrank fällt, erblicken wir den Angriff eines Säbelzahntigers. Nach fünfzehn Jahren Abstinenz fahre ich nun wieder Auto und bin verblüfft, wie tief einst erlernte Handlungsmuster sitzen. Eine längst verloren geglaubte Welt taucht wieder auf. Partizipiert man hier nicht, fühlt man sich schnell als Aussenseiter im urbanen Raum einer automobilen Dominanz (und auf dem Lande wahrscheinlich ziemlich abgehängt). Als ich einst nach zehn Jahren Spielpause die Gitarre wieder zur Hand nahm, stellte ich fest, dass ich immer noch gut spielen kann. Höre ich ein Musikalbum nach mehreren Jahrzehnten, weiss ich sofort: das kennst du schon! Wo sind solche Erinnerungen abgespeichert? In tiefen archäologischen Schichten, in den Verschaltungen von Synapsen, so vermute ich. Jeder Mensch kann sich tatsächlich fragen: wie kommt das Neue in meine Welt? Wie lerne ich neue Handlungsmuster? Und zwar in realtime und nicht per gutgemeintem Vorsatz! Ohne Wagnis ist das nicht zu machen, da schlafen wir bald ein. Ist leider so. Kurz nach dem Abi war Georg Danzer mein favorisierter Songbarde, ich war sogar auf einem Live-Konzert in der Bremer Stadthalle. Im besten Wienerisch sang der: „Schloaf net ein und bleib wach!“ Kleine Korrektur nach fünf Jahrzehnten: Schlaf gut ein, dann bleibst du wach.

 

2024 29 Mai

Das Leben ist neu

von | Kategorie: Blog | | 2 Comments

 


 
 
 

Voller Erwartung lege ich die für zweihundert Euro günstig erworbene Edelvinylscheibe eines bekannten Jazzpianisten auf meinen Plattenteller, öffne dazu einen Jahrzehnte alten Vino Tintoretto und „fresse dazu Marzipan“ (Wilhelm Genazino). Okay, ganz so stilvoll ist es nicht und der Pianoplayer kommt per Streaming rüber: willkommen in den Niederungen der Alltagsbanalitäten. Erstaunlicherweise stelle ich da fest, dass das virtuose Spieluhrgeklimpere mir ein Gefühl von Langeweile und Gefangensein vermittelt. Ich suche nach frischen Impulsen, die aufmunternd sind. Bei der Gelegenheit ein Loblied auf das Streaming generell: es gibt ja mittlerweile hochauflösende Streamer, die sich mit der Hifi-Anlage koppeln lassen und sogenannte Smartphone-Qualität bei weitem übertreffen. Der Pilgergeist vergangener Tage beim Durchstöbern der Plattenläden hatte seinen Reiz, doch diese technisch-digitale Möglichkeit unmittelbarer Verfügbarkeit bietet neue Muster der Rezeption, die sich durch Rituale zudem gut strukturieren lassen. Beispielsweise kann man den Werdegang eines Künstlers sich stückweise erschliessen. Sind es beim Wandern die Ortskenntnisse, so sind hier Namenskenntnisse erforderlich. Was will ich hören, welche Spur verfolgen? Gebe ich etwa „Tyshawn Sorey“ in die Suchleiste ein, werde ich eigentlich immer fündig. Solche Musiker haben mein Urvertrauen: wo sie dabei sind, ist es gut. Erstmals auffällig wurde mir der Schlagzeuger und Pianist auf einem Album von Steve Coleman, wo er im Zusammenspiel mit dem Bassisten Thomas Morgan einen enorm kraftvollen Grundbeat hinzauberte. Auf dem Album Archaisms II nun findet sich eine wunderbare Melange aus Jazz, Weltmusikschnipseln, Zen-Geist, Perkussion (Reminiszenzen an Nana Vasconcelos), Neuer Musik, die in ihrem eruptiven Gestus an Wolfgang Rihm erinnert, ohne jenes elitäre Milieu der Klassik zu evozieren, das mir gehörig auf den Geist geht (hab’s nicht so mit Wagner, Bruckner läuft auch eher nebenher). Eine Entdeckung auch: die italienische Pianistin Simona Premazzi. Sparsam lyrische und liedhafte Elemente verweben sich mit einer gehörigen Portion aus kinetischem, freiem Spiel. Die tonnenschwere Wucht des Flügels, man darf sie spüren. Deshalb mag ich auch den Pianisten Vijay Iyer. „Jetzt bloss nicht lyrisch werden!“ mag man rufen. Bleib dabei und sei das freie Ei. „Jetzt bloss nicht albern werden!“ ermahne ich mich selbst und kriege knapp die Kurve, das Themenfeld nicht zu verlassen. Von Melissa Aldana wollte ich nämlich noch erzählen: ich hörte nun alle ihre Alben in den letzten Tagen. Wäre es nur ihre aparte Erscheinung, die mich an eine grosse Jugendliebe erinnert, käme erneut das Vergangenheitsselige ins Spiel. Nein, ihre teilweise sehr zurückgenommenen Töne werden sanft ins Hier und Jetzt geflüstert. Sie täuschen, denn hinter diesem Understatement verbirgt sich Wunderkindcharakter. It runs in the family: Die chilenische Musikerin spielt das Tenorsaxophon ihres Grossvaters und im Alter von sechs Jahren bat sie ihren Vater, ebenfalls ein Saxofonist, ihr ein Charlie Parker Solo zu transkribieren. Das sind so die Stories am Rande, sie garnieren ein Interesse, das zentral bleibt: die Lust am Hören von neuer Musik.

 

2024 28 Mai

Die Rückkehr der Namen

von | Kategorie: Blog | | 2 Comments

 

 

 

 

Ein Eintauchen in einen dunklen Hohlraum ist immer ein Erlebnis von Regression, begleitet von wahlweise Geborgenheit oder Beklemmung und Unheimlichkeit. Die Wände weisen eine seltsame Textur auf, eine Art Landschaft, wie Städte auf Hügeln oder Dünen. Bei näherem Besehen sind es Ahnentafeln, Stammbäume, Namen – untereinander verbunden, ein Netz gegenseitiger Bezogenheit, das den Eindringling umspannt und umzingelt, plötzlich scheinen die Tafeln ihn anzublicken. Es ist ein Raum der Toten, den wir betreten – was haben wir hier zu suchen?

Es sind die Namen von Tausenden von Aborigines – in jahrelanger Kleinarbeit vom indigenen Künstler Archie Moore – mit dem eigenen Stammbaum beginnend – den Archiven entnommen und an die Wand gemalt. Nun umgeben sie den Zuschauer wie ein aufgespanntes Netz, schauen ihn ihrerseits an, ziehen sich über die Decke wie ein Sternenhimmel. In der Mitte ein Teich, stehendes Wasser, der Betrachter spiegelt sich darin, wird Teil des Systems. In der Mitte des Teichs ein Tisch mit Gerichtsurteilen, Behördenvorgängen, Dokumenten, Todesurteilen an Indigenen, systematische Ausmerzung einer 60 000 Jahre alten Kultur.

Auch wenn anhand der Fülle der Namen der Verdacht entsteht, dass der Künstler hier einiges gefaked hat (schliesslich wird’s kaum einer nachzählen), wirkt die Installation – man fühlt sich wie auf einer Anklagebank, von Tausenden von Augen beobachtet, ähnlich wie beim Herumirren zwischen den Stelen der Berliner Holocaust-Gedenkstätte. „Totemisch“ nannte es ein Rezensent – ein Wort das auf magische Praktiken und Symbolisierungen zurückweist, trotzdem seltsam fremd bleibt, so wie der Betrachter fremd bleibt in diesem Netz von Zugehörigkeiten, das für ihn nicht begehbar ist. Eine reizvolle Umkehrung des Biennale-Themas „Foreigners everywhere“.

Ein kurzer Anflug von Paranoia, dem Gefühl von Bedrohtsein durch rächende Untote, in den Stein gebannte Seelen. Man verlässt den Raum wieder, er ist schwer zu ertragen. Opfer müssen Gesichter bekommen – oder zumindest Namen – wie bei der Kundgebung „Die Rückkehr der Namen“ in München.

 

 

 

 

Ein Lehrer, der in der Schule einem Amokschützen gegenüberstand, sagte zu ihm: Erschiess mich, aber sieh mir dabei in die Augen! Er hat überlebt.

 

Quelle: Kith and Kin von Archie Moore, Biennale Venedig 2024.

 


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