Die Drehung der Schraube. Das Drehen der Schraube. Das Drehen an der Schraube. Hinter der Wendung steckt jedoch mehr. The Turn of the Screw ist auch ein idiom. Das Cambridge Dictionary erklärt die Bedeutung so: „an action that makes a bad situation worse, especially one that forces one to do something“. The Turn of the Screw, so heißt eine Gespenstergeschichte von Henry James. Die deutsche Übersetzung ist unter verschiedenen Titeln erschienen: Das Durchdrehen der Schraube. Der letzte Dreh der Schraube. Schraubendrehungen. Daumenschrauben. Das Geheimnis von Bly. Es ist eine Geschichte in einer Geschichte. Freunde, Bekannte sitzen um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wir schreiben das Jahr 1898, am Kamin und tun etwas Ähnliches wie das, was wir Manafonisten rund um unsere Notebooks oder ipads tun: Sie erzählen einander. An einem Donnerstag Abend liest jemand aus dem Kreis den anderen ein umfangreiches Manuskript vor: alte verblasste Tinte und mit schöner Handschrift verfasst. Geschrieben von einer Frau, die das Manuskript dem Mann, der es besitzt, vor ihrem Tod geschickt hat. Bly liegt in Essex, England. Es ist ein Landgut. Eine junge Gouvernante wird hier eingestellt, um in großzügig ausgestatteter Umgebung ein zauberhaftes Mädchen zu unterrichten. Deren Bruder wurde vom Internat verwiesen und verbringt nun auch seinen Sommer auf Bly. Die Wahrnehmung wird Stück für Stück demontiert. Es tauchen rätselhafte Personen (Geister? Gespenster?) auf, von denen man nicht weiß, wer sie sieht. Ich dachte an den Horrorfilm It Follows, den einige von uns kennen, hier aber sind die Verfolger:innen konsequent nur für die Infizierten sichtbar, für alle anderen nicht. In Bly liegt die Sache anders. Die Erzählerin entzieht uns Stück für Stück den Boden unter den Füßen, indem sie mit den in unserem Alltag angeblichen Gewissheiten von Raum, Zeit und Ich jongliert. Identitäten sind unklar, uneindeutig, verändern sich. Zeitebenen geraten durcheinander. Die Logik wird, je weiter die Erzählerin an der Schraube dreht, außer Kraft gesetzt. Die Energie von The Turn of the Screw beweist sich auch darin, dass die Arbeit vielfach in anderen künstlerischen Genres interpretiert wurde.
2021 14 Okt.
Wenn ein Cronopium Techno hört
von Michael Engelbrecht | Kategorie: Blog | | Comments off
Während eines Konzerts in Paris kam Julio Cortazar die Idee zu den «Cronopien», jenen «nassgrünen Dingerchen»: Borstig sind sie, unordentlich und lässig, verträumt und intuitiv, poetische Nonkonformisten, vertrauensvolle Optimisten, humorvolle Lebenskünstler, beste Freunde, die philosophische Nonsens-Dialoge führen können. Viele sehen in ihnen das vitale Alter Ego des Autors. Cronopien benutzen nie liniertes Papier, um zu schreiben, drücken die Zahnpastatube auch nicht von unten nach oben. Für alle Fans wurden die Cronopien zum Inbegriff Cortázars, seiner Sicht der Welt.
Alex Petridis hatte meine volle Zustimmung, als er sich für diese Box begeisterte. Julio hat sie leider nie gehört. Irgendjemand musste mich ja mal auf die Spur der spannenden Spielarten dieser Musik bringen. Die, die einst „Acid House“ erfanden, hatten etwas Universelles und Zeitloses freigelegt. Und wollten urprünglich nicht mehr als flüchtige Gegenwart einfangen. Rausch in strenger Taktung. „Blaue Stunden“, so nannte Julio diese Zwischenreiche. Keine Musik zuvor oder danach hat die schweisstreibende Intensität, mit der man sich in den frühen Morgenstunden auf einer Tanzfläche verliert, besser eingefangen (ausser vielleicht „Saturday Night Fever“) – man musste nicht umgeben sein von Menschen, die von Drogen und der schieren Lautstärke so wahnsinnig wurden, dass sie weinten oder in Ohnmacht fielen oder anfingen, es miteinander zu treiben, um dieses seltsame, gleichzeitig beschwingte und leicht beunruhigende jenseitige, besser, Ich-Grenzen überschreitende, Gefühl zu kennen. Ich war nie im Leben auf einer Techno-Party, habe nie Ecstasy, MDMA, oder andere Partydrogen jener Ära konsumiert. Ich besitze diese Box namens „Acid Rain“, ich habe ein paar Platten von Robert Hood, mittlerweile auch vier grossartige Alben von Underworld. Besser spät als nie. Dazu gesellen sich noch ein paar Klassiker von Kraftwerk. Diese kleine Sammlung reicht aus für meine mittlerweile berüchtigten „Techno-Parties“. Bei diesen Parties ist immer nur eine Person anwesend. Männlich oder weiblich, auf jeden Fall ein Cronopium. Der Sound ist hervorragend, und auch wenn der jeweilige Gast ab und zu wie wild durch den Raum wirbelt, sitzt er meist schweissnass im „sweet spot“ vor den Boxen. Er hat eine kleine Einführung bekommen, und nur die Alben von Underworld, Kraftwerk, Mr. Hood, und „Acid Rain“ zur Hand. Sweet dreams are made of this. Wenn ich diese „Parties for One“ veranstalte, sorge ich dafür, dass das Haus leer ist, das Nachbarhaus sowieso. Manchmal kommt dennoch die Polizei vorbei, weil Leute denken hier würden gefährliche Dinge abgehen, nur weil ab und zu das Dach zittert. Alles harmlos. Wir sind liebe Menschen, die die Stille lieben. Und genau wissen, wann „PLAY IT LOUD“ die richtige Losung ist. (Natürlich sind stets ein paar Gegenwelten zur Hand, um „runterzukommen“, sich zu erden. „Music for Airports“, „Lifestyles of the Laptop Café“, und „The Best of Al Green“.)
Bei manchen Büchern, von denen ich mich direkt angesprochen und mitgenommen fühle (und jede Seite ohne Übertreibung ihre Trance bereithält), ist es so, dass sie zwei gegensätzliche Tempi des Lesens vertragen, das Verschlingen (Durchrauschen), und die Zeitlupe. So ergeht es mir bei „The Hurdy Gurdy Man“ von Donovan: ich habe die langsame Variante gewählt, das Lesen von Kapitel zu Kapitel (und manches Kapitel über Tage nachwirken lassen, bis zur nächsten gut dosierten Reise).
Der alte Schotte kommt mir vor wie ein deutlich älterer Bruder, der mir von einem parallel verlaufenden Leben erzählt. Ohne jede blödsinnige Verehrungsgeste meinerseits, einfach so. Für Gänsehaut pur sorgten die letzten zwei Absätze des Kapitels vom „Windfänger“, und ich dachte hinterher an mein kurzes grosses Verliebtsein in Inge Urban, nein, Bertram (so hiess sie damals, ggf. auch Ingrid, Ingrid Bertram): ein Lagerfeuer im Süden von Dortmund, akustische Gitarrenklänge (vielleicht Moustaki), und wie ich mich, mehr als einen Hauch unerfüllt in meiner Sehnsucht, noch stumm, ohne Geständnis meines Gefühls, zudem ein wenig trunken vom billigen Lambrusco, in die warme Asche neben die Glut gleiten liess, hinein in einen süssen Schmerz auf warmem Waldboden.
Immer mehr geriet Don in den Bann von Alice, die zwei Jahre älter war als der Rest der „beats“ (Hippies nannten sie sich scheinbar noch nicht, Inge war auch zwei Jahre älter als ich, mit siebzehn ein himmelweiter Unterschied), die einen Sommer lang (1963) an der Küste von Devon vagabundierten. Es war wohl gegenseitig, an diesem Abend ging es mit dem kleinen Boot hinaus aufs Meer, blind für die Strömung, die ihnen die Rückkehr verwehrte. Seltsam furchtlos planten sie, ans Land zurück zu schwimmen, Alice erzählte von ihrer dünnen Haut, die es unmöglich mache zu ertrinken. Schliesslich wurden sie von einem Kutter an Bord genommen.
Donovan lässt an bestimmten Stellen seiner Lebensgeschichte Songzeilen (meist eigene) aufscheinen, die den jeweiligen Moment illuminieren (und tanzen lassen) – hier rutscht ihm, als er und Alice in der Nacht zum ersten Mal miteinander schlafen, ein Satz raus, der nicht eingerückt wird, vielmehr Teil des natürlichen Erzählflusses bleibt (also anscheinend, trotz eines Reimes, aus keinem Song stammt – ich las den Satz sofort wieder, und noch einmal, und sang ihn leise vor mich hin).
Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand, weshalb dieser letztlich schlichte (mich so berührende) Satz nicht herbeigezaubert werden kann. Auf jeden Fall unterdrückte ich den Wunsch, zu den zwei Fotoblöcken des Buches vorzublättern, denn ich war mir sicher, dass diese Liebe Jahre dauern, und ein, zwei Bilder mindestens hinterliesse.
Alice und Don zogen dann wirklich los, ins Unbekannte (jetzt wohl trampend), und wurden Tage später von der Polizei ausfindig gemacht. Die Granny von Alice hatte eine Vermisstenanzeige auf den Weg gebracht, es ging alles sehr schnell. Ein weiteres Auto hielt am Strassenrand, in dem ein sogenannter „Onkel“ von Alice war, der sich nun aber (kein Scheiss, offensichtlich ein junger Onkel, und faktisch überhaupt kein Onkel) als ihr Verlobter entpuppte. Fast wäre es noch zu einem Handgemenge gekommen, und Donovan verprügelt worden. Er sollte sie nie wiedersehen. (Tage nach dem Lagerfeuer, und nach dem Zusammenraffen von genug Mut, erklärte Inge mir, in ihrem kleinen Zimmer, nahe dem „Bunker“, dass sie meine Gefühle nicht erwidere. Fair enough.)
Es wird die Stelle kommen, in dieser allerfeinsten Autobiographie, in der erstmals ein Lied aus „Wear Your Love Like Heaven“ auftauchen wird, die vor ein paar Jahren zu meiner Donovan-Lieblingsplatte wurde: ich werde sie auflegen – ein Fest, eine erstklassige Tiefentrance. Mit 33 Umdrehungen pro Minute in eine andere, eigene Welt. Brimming with life. (Nachtrag: der angesprochene Satz findet sich auf Seite 69 der Taschenbuchausgabe: „That night love came easy and love came slow, as only lovers know.“)
Lieber Michael,ich war nun endlich in der Ausstellung „Colours of Jazz- Eberhard Weber“ im Stadtmuseum Esslingen. Eine wirklich toll gemachte Austellung, die sein gesamtes Schaffen darstellt und auch noch nach links und rechts schaut. Mit vielen alten ausgestellten Originalschallplatten, seinen Instrumenten, Originalzeichnungen aus Webers Privatbesitz und Touchscreens mit kurzen Filmausschnitten (z.B.: Manfred Eicher und Eberhard Weber sprechen über Eichers Produzententätigkeit, während im Hintergrund Tonband und Plattenspieler zu sehen sind – also schon etwas älter).
Da ich zu dem Zeitpunkt der einzige Besucher war, war es sehr schön, sich alles in Ruhe, und ohne den gebührenden Abstand zu anderen Besuchern einhalten zu wollen, anzuschauen. In einem Raum sind E-drum, Keyboard, eine E-Gitarre und ein E-Bass aufgebaut und angeschlossen. Mit einem Knopf könnte man ein Video einer Live-Aufnahme vom „Colours Quartett“ des Stücks „Sand-Glas“ aus „Yellow Fields“ starten und irgendetwas dazu spielen (Desinfektionsstationen stehen überall bereit).
Die Ausstellung läuft noch bis 24.10.2021.
Der Eintritt beträgt sage und schreibe 2,- € für Erwachsene, 1,-€ für 6-18 Jährige. Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag 14-18 Uhr, Sonn- und Feiertag 11-18 Uhr.
viele Grüße,
Lorenz aus Leinfelden!
2021 12 Okt.
october sights & sounds
von Jochen Siemer | Kategorie: Blog | Tags: Eigene Musik | | 2 Comments
2021 11 Okt.
„Things In Life“ („30 Jahre Klanghorizonte“)
von Michael Engelbrecht | Kategorie: Blog | | Comments off
„Long As You Know, You’re Living Yours“. Das wäre mal ein Anfang. Ob es so kommt, ist etwas anderes, aber der Plan für meine letzten Klanghorizonte ever, am 18. 12., ist: jede Stunde nur zwei Moderationen. So der Versuchung widerstehen, noch mal ganz viel „Bedeutendes“ von sich zu geben. Also einfach basteln an perfekten Mixtapes für jede einzelne Stunde. Die Struktur „Neuland“, „Nahaufnahme“, „Zeitreise“ gilt nicht mehr, alles wird Zeitreise sein. Ich ertappe mich bei kleinen Notizen, Namen, die, ich spielen will, unbedingt: Donovan, The Incredible String Band, Lewis, Arthur Russell. Und dann: die üblichen Verdächtigen (ECM, Brian Eno, leerer Raum und volle Dröhnung), ein paar Überraschungen natürlich auch. Was spiele ich von Talk Talk, King Crimson, und XTC? Was von der „Punkt-Bande“? Und was von John Darnielle? Wie bringe ich den Free Jazz rein, und wie die Hörnumer Jukebox ans Laufen („Waterloo Sunset“ oder „Sunny Afternoon“, das ist hier die Frage)? Wer schickt mir für die Sendung eine Single (oder eine Cd) mit „Things In Life“ von Dennis Brown? Die letzten vier Stücke der letzten 25 Minuten stehen fest (da erfordern die letzten Worte ein Quantum Understatement). Und auch, dass kein Weg an dem umwerfendsten ReggaeRoots-Album aller Zeiten vorbeigeht. Norbert „Rastafari“ Ennen wird sich nicht beklagen. Love and Peace, M!
Eine Frau verliert ihre Sprache, nachdem sie ansehen muss, wie Mann und Söhne zu Tode gefoltert werden. Ein Ölfilm überzieht die karge Landschaft, bildet einen stumpfen Spiegel für die tief hängenden Wolken. Öl und Feuer spritzen aus der Erde. Rauchschwaden, enorme Rauschschwaden färben den Himmel. Wasserfontänen, Feuerwehrmänner, Bombenkrater, Folterwerkzeuge. Riesige Silos liegen zerknickt zwischen anderen Trümmern auf dem Boden. Ein Junge weint schwarze Tränen.
„Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich – wie die Schöpfung – in grandioser Schönheit vollziehen.“ Das Zitat von Blaise Pascal leitet Werner Herzogs Film „Lektionen der Finsternis“ von 1992 ein. Herzog hatte hierfür das vom zweiten Golfkrieg gezeichnete Kuwait bereist. Die Bilder sind apokalyptisch, hypnotisch, erschütternd. Der Film wurde im kleinen Saal der Elbphilharmonie gezeigt, dazu spielten das Portico Quartet, unterstützt von drei Streichern, das Album „Terrain“. Diese Musik hatte für mich immer eine flüssige, traumhafte Atmosphäre; im Zusammenspiel mit den Bildern wurde sie düster, klaustrophobisch. Die Musiker hielten sich zurück, es gab keine irgendwie geartete Performance, die Bilder standen im Vordergrund (allerdings wirkten die Herren auf mich auch nicht wie ausgeprägte Rampensäue). Die Becken tanzten, der erste Einsatz einer Trommel ging durch Mark und Bein. Langer Applaus nach einer Stunde durchgehend gespielter Musik, eine Zugabe wäre nach diesem Trip unpassend gewesen. Auf dem Rückweg schwebten die kleinen roten Lichter durch die schwarze Nacht.
Painting and giving life to places that don‘t have any, is very gratifying.
- Vor 10 Jahren brach hier vor der Küste ein Unterwasservulkan aus, die Bewohner von La Restinga mussten für Monate ihre Häuser verlassen. In Erinnerung an diese Naturgewalt hat nun die Gemeinde vier bekannte Künstler eingeladen, um das 350 Seelendorf mit Wandgemälden zum Thema ‚Vulkan’ zu schmücken. Die Einheimischen wurden natürlich nicht gefragt, sie reagierten zunächst verhalten bis unverständlich, aber jetzt sind sie erfreut.
- Diese jungen Künstler kommen aus der 3D Generation, sie sind Betrachter der Internetlandschaften, kennen aber auch ihren Picasso. Sie sind um die 40 Jahre alt, alle sind weit gereist. („Traveling and discovering different cultures is a gift.“) Sie bemalen riesige leere Wände, von denen es hier zu viele gibt. Sie stehen auf elektrischen Kränen und besprühen die Flächen mit Neonfarben, die eine leicht hypnotische Sensation auslösen. Diese Open Space Gewohnten grenzen ihre Kunst durch geometrische Formen und mathematischen Berechnungen ein. Kandinsky‘s Kompositionen und Escher‘s Raumeffekte sind erkennbar. Sicher haben sie auch C.G.Jung‘s „Träumereien“ in den talentierten Händen gehabt. Alle Vier sind Autodidakten, haben sich Graphic Design , Graffiti, Popkultur und Illustration selbst beigebracht.
- Irene Lopez Leon (Barcelona)
- Iker Muro (Bilbao)
- Ruben Sanchez (Berlin)
- Louis Lambert (3ttt man/Frankreich)
- Ihr Motto ist: Mach es selbst UND Es ist gesund, andere Orte kennenzulernen.
- Ihre Inspirationen holen sie sich auf Reisen. Ihre großen Murials finden sich auf der ganzen Welt. Eins von Irene Lopez Leon auch in Hannover. ;)
Manas, die Jeb Loy Nichols und JJ Cale mögen, dürften mit grosser Freude diesem Song lauschen, „Love Farewell“ von Jake Xerxes Fussell (das ist doch mal ein Name), und wir reden hier nicht von einem Abklatsch, sondern von „some deep digging country folk vibe“, oder?! Übrigens, der Titel des Albums, keine politische Platitüde, eher ein Leitmotiv der ganzen Cd – Verlust und Neuanfang.
Stefan Aust nennt sich „so ’ne Art Journalist“, findet sich „überdurchschnittlich durchschnittlich“ und gehört damit spätestens seit den späten 1960er Jahren zu den wenigen deutschen Journalisten, die ich als wichtig bezeichnen würde. Seine Reise führte ihn von der Schülerzeitung Wir über die St.-Pauli-Nachrichten zu konkret, von dort zur „Panorama“-Redaktion des NDR, zur Spiegel-Chefredaktion, er brachte mit Alexander Kluge Spiegel-TV und dessen diverse dctp-Derivate zum Laufen, er gründete XXP und übernahm damit Vox TV, war Mitgründer von n-tv, und heute ist er Herausgeber der Welt. Dass er dort mal landen würde, hätte er zu Beginn seiner Karriere sicher nicht gedacht — obwohl: Damals war die Welt noch ein liberales Blatt. Freier Filmemacher und Buchautor ist er noch dazu. Und — nicht zu vergessen — Pferdenarr.
Dankenswerterweise verzichtet Aust auf lange persönliche Geschichten, er hält sich als Privatperson sympathisch zurück und nimmt uns statt dessen mit auf eine 650 Seiten lange Reise, die wahrlich den Namen „Zeitreise“ verdient. Austs kritische Begeisterung für die USA macht Lust, seine Reisen nachzureisen; er hat den richtigen Blick für das Wesentliche. Von Station zu Station fallen einem die Ereignisse wieder ein — die meisten davon hat man ja mitbekommen, nur hatte man längst vergessen, wer der Berichterstatter war: Der Besuch des Schah von Persien, der mit dem Tod Benno Ohnesorgs endete. Die Baader-Meinhof-Zeit, der Bestseller und der daraus resultierende Film (den er für sehr gelungen hält, ich bin da etwas weniger überzeugt). Die Anti-Atom-Bewegung. Die Hitler-Tagebücher. Tschernobyl. Der Mauerfall. Und, und, und; ich will es nicht alles aufzählen. Manches interessiert mehr, manches weniger. Die Story um den Agenten Mauss etwa hat mich schon damals nicht interessiert, und auch hier im Buch habe ich sie nur quergelesen. Um so interessanter aber Austs durch konkret entstandene Kontakte zu Ulrike Meinhof, bis hin zu der Geschichte, wie er ihre Kinder aus Italien nach Deutschland holte. Auch wenn Austs Erzählstil eher cool ist, so merkt man ihm doch an, dass manche Ereignisse nicht ganz so cool waren, als sie passierten. Und auch heute noch darf man pointierte, aber stets begründete Ansichten von ihm erwarten; etwa zu Fridays for Future und der heiligen Greta — und gerade aus der Perspektive über den Atlantik ist das interessant.
Ein bisschen verblüffend ist die scheinbare Geradlinigkeit von Austs Karriere. Jede Station scheint sich aus der davor zu ergeben; man hat das Gefühl, da gab es kaum mal Zweifel oder Entscheidungen, die im Nachhinein bedauert wurden. Aber das ist eine Eigenart vieler Autobiografien. Sie resultiert aus der Rückschau, vielleicht ist das nicht zu vermeiden. Lesenswert, alles in allem. Mit Fotostrecke und einem schönen roten Lesebändchen.