Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2024 29 Mai

Das Leben ist neu

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 2 Comments

 


 
 
 

Voller Erwartung lege ich die für zweihundert Euro günstig erworbene Edelvinylscheibe eines bekannten Jazzpianisten auf meinen Plattenteller, öffne dazu einen Jahrzehnte alten Vino Tintoretto und „fresse dazu Marzipan“ (Wilhelm Genazino). Okay, ganz so stilvoll ist es nicht und der Pianoplayer kommt per Streaming rüber: willkommen in den Niederungen der Alltagsbanalitäten. Erstaunlicherweise stelle ich da fest, dass das virtuose Spieluhrgeklimpere mir ein Gefühl von Langeweile und Gefangensein vermittelt. Ich suche nach frischen Impulsen, die aufmunternd sind. Bei der Gelegenheit ein Loblied auf das Streaming generell: es gibt ja mittlerweile hochauflösende Streamer, die sich mit der Hifi-Anlage koppeln lassen und sogenannte Smartphone-Qualität bei weitem übertreffen. Der Pilgergeist vergangener Tage beim Durchstöbern der Plattenläden hatte seinen Reiz, doch diese technisch-digitale Möglichkeit unmittelbarer Verfügbarkeit bietet neue Muster der Rezeption, die sich durch Rituale zudem gut strukturieren lassen. Beispielsweise kann man den Werdegang eines Künstlers sich stückweise erschliessen. Sind es beim Wandern die Ortskenntnisse, so sind hier Namenskenntnisse erforderlich. Was will ich hören, welche Spur verfolgen? Gebe ich etwa „Tyshawn Sorey“ in die Suchleiste ein, werde ich eigentlich immer fündig. Solche Musiker haben mein Urvertrauen: wo sie dabei sind, ist es gut. Erstmals auffällig wurde mir der Schlagzeuger und Pianist auf einem Album von Steve Coleman, wo er im Zusammenspiel mit dem Bassisten Thomas Morgan einen enorm kraftvollen Grundbeat hinzauberte. Auf dem Album Archaisms II nun findet sich eine wunderbare Melange aus Jazz, Weltmusikschnipseln, Zen-Geist, Perkussion (Reminiszenzen an Nana Vasconcelos), Neuer Musik, die in ihrem eruptiven Gestus an Wolfgang Rihm erinnert, ohne jenes elitäre Milieu der Klassik zu evozieren, das mir gehörig auf den Geist geht (hab’s nicht so mit Wagner, Bruckner läuft auch eher nebenher). Eine Entdeckung auch: die italienische Pianistin Simona Premazzi. Sparsam lyrische und liedhafte Elemente verweben sich mit einer gehörigen Portion aus kinetischem, freiem Spiel. Die tonnenschwere Wucht des Flügels, man darf sie spüren. Deshalb mag ich auch den Pianisten Vijay Iyer. „Jetzt bloss nicht lyrisch werden!“ mag man rufen. Bleib dabei und sei das freie Ei. „Jetzt bloss nicht albern werden!“ ermahne ich mich selbst und kriege knapp die Kurve, das Themenfeld nicht zu verlassen. Von Melissa Aldana wollte ich nämlich noch erzählen: ich hörte nun alle ihre Alben in den letzten Tagen. Wäre es nur ihre aparte Erscheinung, die mich an eine grosse Jugendliebe erinnert, käme erneut das Vergangenheitsselige ins Spiel. Nein, ihre teilweise sehr zurückgenommenen Töne werden sanft ins Hier und Jetzt geflüstert. Sie täuschen, denn hinter diesem Understatement verbirgt sich Wunderkindcharakter. It runs in the family: Die chilenische Musikerin spielt das Tenorsaxophon ihres Grossvaters und im Alter von sechs Jahren bat sie ihren Vater, ebenfalls ein Saxofonist, ihr ein Charlie Parker Solo zu transkribieren. Das sind so die Stories am Rande, sie garnieren ein Interesse, das zentral bleibt: die Lust am Hören von neuer Musik.

 

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2 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Manchmal beneide ich Euch Musiker schon … es entgeht einem viel Genuss, wenn man wenig Draht dazu hat … ich reagiere stärker auf die Texte als auf die Melodien oder das Orchestrale. Für mich ist Musik eher Lyrik – das Malen von Bildern mit Worten und Musik als Begleitung … und schon fällt mir wieder „Waterloo Sunset“ ein … ein starker Eindruck … oder Sunny Afternoon … Early Morning Rain …

  2. Uli Koch:

    Danke, Jochen, für die Tipps. Tyshawn Sorey ist wirklich fast immer eine Empfehlung wert und Archaisms II wird ihrem Namen auf höchstem Niveau gerecht, greift uralte Muster und Klangstrukturen auf und reicht doch weit in die Zukunft hinein. Jeder neue Takt ein offener Raum …

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