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2024 14 Jan

Leben im Bardo Teil 2 – Neues iranisches Kino

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 4 Comments

 

 
 

Die Psychoanalytiker würden das tibetische Bardo als den Winnicott’schen Übergangsraum identifizieren – ein Raum zur Orientierung an Schnittstellen der Entwicklung, der sowohl Neues wie Altes in sich beherbergt, vermischt und integriert und in dem der Kompass für das Weiterleben neu justiert werden kann.

Asghar Farhadi ist ein iranischer Regisseur, bepreist mit der Goldenen Palme, zweimal mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film, dem deutschen Werner-Herzog-Preis und noch einigen anderen Meriten. Seine Filme funktionieren auf vielen Ebenen.

In der Regel beginnt es mit einer recht einfachen Geschichte, die sich im Schneeballsystem verzweigt und zu einer Lawine von beträchtlichem Vernichtungspotential ausweitet, so dass am Schluss niemand heil davonkommt, nur Gezeichnete zurückbleiben und sich Täter-Opfer-Polaritäten gnadenlos auflösen. Das macht die Filme emotional strapaziös und verbietet eine Einordnung in die polarisierenden Schwarzweiss-Schemata. Immer durchdringt eine desolate Vergangenheit unaufhaltsam die oberflächlich geordnete Gegenwart wie eine toxische Substanz, gegen die kein Gegengift gefunden werden kann.

Es beginnt zu Anfang von Salesman schon spektakulär mit dem Zusammenbruch eines baufälligen Hauses, dem Einzug in eine neue Wohnung, noch voll mit den Habseligkeiten der Vormieterin, die nie abgeholt werden. Ein Theaterstück wird geprobt, Der Tod des Handlungsreisenden, welcher sich nicht von einer erfolgreichen beruflichen Vergangenheit lösen kann und sie halluzinatorisch immer wieder heraufbeschwört, bis sein Sohn ihn mit seinem Selbstbetrug konfrontiert und ihm so die psychische Lebensgrundlage entzieht. Auch in diesem Stück dringt eine Prostituierte in das Badezimmer des Handlungsreisenden ein und stiftet Unruhe in einer scheinbar wohlsituierten Familienwelt – ein Motiv, das der Film ins Gegenteil wendet. Farhadi stellt hier auf vielfältige Weise die Konfliktkonstellationen zwischen Alt und Neu, Tradition und Moderne dar und zeigt uns die toxischen Klebkräfte archaischer Traditionen, an denen die Fliehkräfte der jüngeren Generation manchmal scheitern.

In The Salesman ist es ein alter Mann, der wie gewohnt zur Prostituierten seiner Wahl gehen möchte und zu spät bemerkt, dass inzwischen neue Mieter in deren Wohnung eingezogen sind. Er überrascht die junge Frau unter der Dusche, eine Scheibe geht zu Bruch (warum?) und beide werden durch Glassplitter verletzt. Die Frau ist traumatisiert, offenbar kam es aber zu keiner Gewalttat. Wobei die Frage offen bleibt, warum der Täter dann eine Verletzung am Fuss davongetragen hat, er müsste sich dann bei Betreten des Bades die Schuhe ausgezogen haben – warum auch immer, ein kleines Rätsel, vom Regisseur geschickt eingebaut und Verwirrung stiftend, aus der wir nicht entlassen werden. Die Situation scheint nebulös, das Kopfkino ist gestartet.

Und doch ist die Szene eine Metapher für Gewalt: Das aggressive Eindringen eines begehrlichen Mannes in den Intimraum einer jungen Frau unter Blutvergiessen erweckt Assoziationen an Kindsbräute, eheliche Vergewaltigungen, Zwangsehen, gewaltsame Deflorationen und befleckte Bettwäsche, die über den körperlichen Zustand und damit auch die moralische Integrität der Braut Auskunft gibt. Der sodann als Ehre verkauft wird aber wiederum ihre Schamgrenzen verletzt durch Zurschaustellung und Fetischisierung des hochintimen Vorganges der Defloration. Gleichzeitig ist es auch eine phallische Demonstration der Potenz des frischgebackenen Ehemannes. Die konservativ-muslimische Elterngeneration hat hier schwere Schuld auf sich geladen. Und die Frauen hatten keine Sprache für ihr Leid, das auch niemand hören wollte. So wie Rana nicht beschreiben kann, was wirklich geschehen ist und nicht zulässt, dass ihr Mann die Situation klärt und ihr hilft. Aber was sollten die jungen Frauen auch besprechen, wenn alles comme il faut ist und Allah und den Eltern wohlgefällt und der fatalistische Glaube an Kismet als internalisierte Form einer Sittenpolizei jeden Kampf um irgendeine Form von Freiheit und Selbstbestimmung verhindert? Es gibt keine Sprache für Unrecht, wenn es als Recht und Ordnung umdefiniert wird, das wissen wir auch von Trauma-Opfern, insbesondere von betroffenen Kindern. Demgemäss herrscht in der Filmhandlung überall klaustrophobische Enge, alle Szenen finden in kahlen oder umzugschaotischen Innenräumen statt, die keine Geborgenheit oder eine Form von Kulturbindung vermitteln.

Emad, ein durchaus fortschrittlicher Lehrer, fällt zurück in atavistische Muster von Rache und Vergeltung – was wiederum Rana missfällt, die darin keine Befriedigung findet – und er entlarvt den Täter der bei dieser Prozedur an einer Herzattacke verstirbt, während Rana noch versucht ihn zu schützen.

 
 

 
 

Der Täter ist ein alter kranker Mann und normentreuer Familienvater, er und seine Frau stehen für die regelkonforme Elterngeneration, die Sympathielenkung des Regisseurs verhindert durchaus geschickt dass wir auf den Täter – von dem wir ohnehin nicht genau wissen was er getan hat – nicht wütend werden können, obwohl seine Scham und Angst offensichtlich ist – wiederum ein Zeichen für Schuldbewusstsein …

So ist der Film eine kluge Parabel – Parabeln sind meistens klug, weil sie übergreifende Wahrheiten abbilden; allerdings sind sie auch schwer verfilmbar (man denke nur an den restlos verschnarchten Fahrenheit 451) – über den Generationenkonflikt der Länder in Nahost, deren jüngere Generationen sich von den Traditionen lösen wollen und einer Elterngeneration gegenüberstehen, die noch an den alten Formen festhält und Respekt und Handküsse einfordert: „Ich könnte Dein Vater sein, wie kannst Du mich verdächtigen?“

Alter fordert Ehrerbietigkeit ein – und sei die begangene Schweinerei auch noch so gross. Emad macht da nicht mit, Allah sei gelobt, wirkt aber in seiner Situation insgesamt hilflos und getrieben. In dieser Filmfigur kristallisiert sich der Konflikt des jungen Mannes aus einem muslimisch geprägten Land: So wie meine Vorfahren will ich nicht sein – aber was für ein Mann will ich sein und wie überwinde ich die Relikte des arabischen Machotums? Sind die Männer der westlichen Welt ein Vorbild mit ihrem so ganz anderen Wertekodex, der gern im arabischen Raum als Zügellosigkeit interpretiert wird?

Emad bleibt im Detektiv- und Rachemodus und schafft es nicht, seiner Frau die nötige Ruhe und Zeit zu lassen, um das Geschehene und die dadurch ausgelöste Verwirrung zu ordnen und zu versprachlichen.

Unsere Filmgruppe bestand aus 5 Damen und einem Herrn; letzterer griff als erstes das Gefühl auf, dass der Hauptdarsteller sehr durch seine Frau, die sich nicht artikulieren konnte, in die Enge getrieben und handlungsunfähig gemacht wurde.

Eigentlich ein Gefühl, das konservativ sozialisierte Frauen empfunden haben dürften – hier gerät nun plötzlich der Mann in die Falle der induzierten Hilflosigkeit, weil er in seiner Identität der Frau gegenüber verunsichert ist, während er sich in seiner Schulklasse durchaus adäquat durchzusetzen versteht.

Das Paar im Film ist nicht weiter verortet, wir wissen nichts über ihre Herkunft und ihre familiären Beziehungen, damit auch nichts über ihr individuelles Gewordensein, Farhadi stellt sie hier als Funktionsträger dar: die traumatisierte, ihrer Sprache beraubte Frau; der rächende Mann, der sofort in die Aktivität geht. Ein guter Weg für das handling solcher Situationen scheint das nicht zu sein … am Ende geht es niemandem wirklich besser – eine filmische Warnung. So ist hier der Mann, der Recht und Gerechtigkeit schaffen will, die treibende Kraft hin zum Unglück. Der alte Weg der Geschlechter ist kein guter Pfad, wie es scheint – somit ist der Film in hohem Masse sozialkritisch.

 
 

 
 

Am Ende sitzen Rana und Emad in ihren Theaterkostümen (als das betagte Ehepaar Linda und Willy Loman) voreinander und blicken sich an – in diesem Moment scheint Einverständnis und Zusammengehörigkeit auf, die Hoffnung im Alter vielleicht noch zusammen und auch ein Stück weiter gekommen zu sein. Die letzte Einstellung zeigt zwei voreinanderstehende leere Sessel, durchaus einladend wirkend. Hier könnten zwei Menschen sitzen, sich sehen, miteinander sprechen, auf Augenhöhe sein. Noch sind sie leer. Eine Zukunftsvision? Eine Hoffnung für kommende Generationen? Eine beklemmende Zweiersituation mit zuviel bedrängender Nähe? Oder die endlich leeren Thronsessel der Alten und Betonköpfigen? Eine neue Arena für den Geschlechterkampf von gleich zu gleich? Sie sind rot … Olé, toro!

Eine Schlussszene, die gute Chancen hat, später einmal ikonisch genannt zu werden – auch wenn das Wort von Rezensenten zunehmend inflationär gebraucht wird; deshalb spreche ich hier immer so gerne von impacts, im klassischen Marketing auch branding genannt – Bilder die sich einbrennen und die Grundaussagen eines Films noch einmal visualisieren.

 

This entry was posted on Sonntag, 14. Januar 2024 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. You can leave a response here. Pinging is currently not allowed.

4 Comments

  1. Roland K.:

    Schön, dass die Filmbesprechungen auf diesem Blog geblieben sind, auch wenn er sich offenbar sehr dezimiert hat.

    Filme aus Nahost sind sehr interessant, bringen neue Thematiken und auch Auskünfte über die Auswirkungen der politischen Gegenbenheiten im Inneren der Menschen.

  2. Anonymous:

    Offenbar ein packender Film – ich habe Nader und Simin gesehen auf dem Filmfestival in München, eine ähnliche Thematik, da würde ich mich über eine Rezension freuen.

  3. Ursula Mayr:

    Immer gern zu Diensten, anonyma, aber ein bisschen Abwechslung muss sein. Jetzt steht erstmal die Replik für Martinas post zu M3gan an; da sind wir sehr unterschiedlicher Meinung.

  4. Jörg R.:

    M3gan? Huaahhhh …

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