Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2023 25 Okt

Positiv überrascht

von: Alex Filed under: Gute Musik | TB | Tags: , | 27 Comments

Es ist immer das Gleiche. Wenn man viel erwartet, wird man meist bitterlich enttäuscht und wenn man nichts erwartet, ist eine positive Überraschung fast schon vorprogrammiert. So mal wieder geschehen gestern Abend in der Philharmonie in Berlin. Brian Eno was there mit dem Baltic Sea Philharmonic und sie spielten The Ship plus 5 Songs. Sie ließen das Publikum gut 20 Minuten warten, es lag wohl an der langen Gästeliste, die dafür sorgte, dass der Konzertsaal am Ende doch recht gut gefüllt war.

Die Querflötistin führte das Orchester mit hypnotischen Tönen an wie die Rattenfängerin von Hameln. Ganz langsam kamen die Musiker auf die Bühne und spielten bereits beim Einzug. Alle fanden ihren Platz und es hörte sich nun für eine lange Zeit so an, als würden sie ihre Instrumente stimmen ähnlich wie bei indischen Ragas. Es erinnerte mich auch etwas an die beiden Konzerte von Julia Holter, denen ich beiwohnen durfte. In dieser „Stimmphase“, die auch leicht ins improvisiert Freejazzige abzugleiten schien, gab es wunderbare Dissonanzen, z.B. von den Geigen, es war alles möglich zu diesem Zeitpunkt, eine völlige Freiheit lag in der Luft. Der Sprechgesang von Eno und noch mehr anschließend der vom „Chor“ war relativ stark im Hintergrund, was gut so war. Ein flirrender Klangteppich breitete sich vor uns aus. Die Musik schwoll nun dauernd an und ab, ich bin mir nicht sicher, ist das typisch für den späten Eno? Es gab ein wunderschönes Crescendo – Godspeed YBE! ließen grüßen – das in einen akustischen Orgasmus mündete, wo alle Instrumente die volle Lautstärke spielten – insbes. die Blechbläser und natürlich das Becken – und die Bühne zu lodern schien, Hut ab vor der Lichtshow. Also ich muss sagen diese orchestrale organische Live-Interpretation mit einer unglaublichen Energieintensität im Moment des Höhepunkts hat mich ziemlich gepackt. Auf Platte ist The Ship für mich ein eher langweiliges Ambientgewaber.

Dann kam I’m Set Free, für mich der Höhepunkt des Abends, da ich nicht wusste, dass es das letzte Stück von The Ship ist. Und die Orchesterversion wunderbar stimmig war. Brian sang hier mit voller Inbrunst und völlig befreit, man hörte nicht, dass er erkältet war. Zu diesem Lied vom selbstbetitelten dritten Velvet Underground-Album muss man wissen, dass Brian Eno damals einer der wenigen war, die die erste Platte von Lou Reed und Band kauften, die dann angeblich alle später eine eigene Gruppe – nämlich er mit Bryan Ferry Roxy Music – gründeten.

Es ging weiter mit By this River, wo die perlenden Klänge der Harfe das Fließen der Werra Weser heraufbeschwörten. Außerdem gab es schöne Wassereffekte bzw. Rudergeräusche, vielleicht DAS eine unsterbliche Lied von ihm. Es endete mit vier moderneren Stücken, bis auf die von Eno bei sich zuhause aufgenommenen Vogelstimmmen nicht so mein cup of tea, teilweise an der Grenze zum Kitsch (insbes. das letzte Stück There Were Bells), auch die Stimmverfremdung für meine Begriffe Kokolores, aber das waren Kleinigkeiten, insgesamt ein sehr gutes Konzert.

P.S. Auch sehr schön, ich habe endlich den ersten Manafonisten livehaftig kennengelernt! :-)

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27 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Ja, wunderbar, dann sind wir beide O mittlerweile einmal live begegnet. Düsseldorf und Berlin sind manafonistische Tummelprze. Gestern liefen in Berlin tatsächlich wohl vier aktuelle Autoren herum, und vielleicht auch der ominöse Ralf Stadler:)

  2. Michael Engelbrecht:

    Tummelorte sollte das heissen.

  3. Martina Weber:

    Ein auf der akustischen Ebene sehr anschaulicher Konzerteindruck, sehr interessant. „I´m set free“ ist doch ein älterer Song von Brian Eno, oder nicht? Er lief vor vielen Jahren in den Klanghorizonten. Allein schon der Titel geht in die Tiefe, weil man ihn auf vielen Ebenen auf sich selbst beziehen kann. Ich haben den Song im Ohr und kann mir sehr gut vorstellen, dass er der Höhepunkt deiner Konzerterfahrung war.

    Das Stimmen der Instrumente vor einem Konzert: Es weckt Erinnerungen an die Zeit, als ich mit der Geige in Orchestern gespielt habe, nichts Großes, aber wichtige Erfahrungen.

    Godspeed YBE (= Godspeed You Black Emperor!): Hier ein Auszug aus einer Besprechung von Markus Naegele zu „Lift your skinny Fists like Antennas to Heaven“, die ich in meiner CD-Hülle fand:
    „Die Band verweigert sich auch hier allen Annnäherungen, verzichtet bewusst auf Interviews, gibt Antworten nur in Form klanglicher Gewitter. Sie gliedert ihre Kompositionen nicht in Songtitel, sondern legt sie wie Kapitel oder Filmszenen an. (…) Vielleicht liegt die Zukunft dieser Musik ja tatsächlich im Cyberspace.“

  4. Alex:

    „I’m Set Free“ ist von Lou Reed, Martina. Es ist auf dem 3. Album von Velvet Underground auf der 2. Seite direkt nach „Beginning to See the Light“. Wenn Du es noch nicht kennst, es lohnt sich. Eines der stärksten und einflussreichsten Alben der Rockgeschichte. Ich ziehe es sogar dem 1. Album mit Nico und dem Bananencover vor. Unheimlich entspannte und beseelte Musik. „Jesus“ spielt hier auch eine nicht unwichtige Rolle…

  5. Martina Weber:

    Hups? Der grandiose Text „I’m set free to find a new illusion“ ist gar nicht von Brian Eno?! Jetzt hab ich das Original gehört, erstmal nur den Song…
    Von Velvet Underground habe ich nur das Album mit Nico und dem Bananencover.

  6. Michael Engelbrecht:

    Zu I‘m Set Free, aus dem alten ManaText von Ian McCartney und mir:

    The whole beast [gemeint ist THE SHIP] is a contemporary lamento of the highest order and ends with a jukebox-song you possibly can’t resist to get lost in. Sounds strange? It does. Brian Eno often looks for a resolution, a passage of release, on the final tracks of his works and has done so since HERE COME THE WARM JETS and TAKING TIGER MOUNTAIN (BY STRATEGY).

    Not being a rule he hasn’t broken from time to time (think of ANOTHER DAY’S ON EARTH’s frightening finale „Bonebomb“, a favourite track of David Bowie), Eno offers a state of momentary bliss with his version of the old Velvet Underground-track „I’m Set Free“. Bleak existenzialism of the original turns into a gospel-tinged, future „evergreen“, with swelling strings and singing of the stone melting kind.

    After the long and immersive journey this masterpiece (yes, that it is!) has been inviting you to before (a hell of a ride, executed with passion, stoicism and sadness in equal parts, sonically adventurous throughout), one probably is easy prey for this hymn on its way to rock bottom or heaven’s saving grace, until the very last, dying note – not overhearing the undercurrent of melancolia:

    „ … Now I’m set free /
    I’m set free /
    I’m set free to find a new illusion … „

  7. Michael Engelbrecht:

    Nicht wirklich eine Abschweifung:

    I recently updated the list of my 50 alltime favourite desert island albums (for my new blog that will be installed within the next five to ten years, working title ZeroZone.com), and Eno‘s late masterpiece made it to number 15, only topped by his works ANOTHER GREEN WORLD (1) and ON LAND (3). By the way, The Beatles‘ WHITE ALBUM is number 2.

    That said, i want to tell you a little story. In his review of the Venice performance Alex Petridis was raising his eyebrow, kindly, when thinking of I m Set Free as the last piece of THE SHIP as somehow breaking the overall feel of the music.

    Even Brian himself was surprised when thinking (initially) of that song as a closer for his wartime album. But he convinced himself doing so after a visit of a Japanese theatre play of the most ascetic kind. When it ended, a famous Bossa Nova song filled the place. On the surface a feeling crasher. But, on a deeper level, an enhancement of everything that happened before. In a comparable way, I m Set Free is an enlightening and melancholic final piece of a fantastic work.

    ——————-

    Als wartime album ist THE SHIP, tragisch genug, zeitlos brisant, und als ich es letzthin hörte, gingen meine Gedanken im Nachgang zu dem derzeit tobenden Konflikt im Nahen Osten. Es gibt ja keinen Grund, Kunst und Leben zu trennen (ich stehe mit der nachfolgenden Meinung sicher nicht allein da, aber finde es bedauerlich, dass diese Perspektive leider KEIN Mainstream ist).

    Mit wird leicht schlecht, wenn der Kanzler sagt, dass wir alle Israelis seien. Und das sage ich als Antifaschist. Was die Hamas anrichtete mit den Ermordungen und Entführungen, ist zutiefst verabscheuungswürdig, durch NICHTS zu rechtfertigen, aber die nun praktizierte Politik der Rache ist genauso fatal – man denke einfach an die Zahl unschuldiger Opfer, den blood count. BEIDERSEITS.

    Es ist einfach schrecklich, dass in der Diskussion hierzulande von den Politikern und Medien viel zu selten auf die brutale Vertreibung der Palästinenser hingewiesen wird, die ja wohl auch ein Recht auf ihr Land hatten und haben.

    Gestern prallten diese Positionen aufeinander: bei der UNO wies Guiterrez (meine tiefe Verbeugung vor dem Mann) auf die zwei Seiten der blutigen Münze hin, und das wurde von einem Vertreter Israels empört zurückgewiesen.

    Israels Politik ist, von wenigen Momenten der Hoffnung abgesehen, eine brutale Kolonialpolitik, die mittlerweile die einzig sinnstiftende Zwei Staaten Lösung so gut wie unmöglich hat werden lassen.

    In der Regierung sitzen mittlerweile etliche Rechtsradikale, besonders aktive Vertreter der verachtungswürdigen aggressiven Siedlungspolitik. Wenn es nun zu einem Flächenbrand kommen sollte, dann hat die istaelische Politik seit der Katastrophe der Vertreibung der Palästinenser ihren Teil dazu beigetragen. Und sowieso das grosse Versagen der Diplomatie Richtung 2 Staaten Lösung.

    Und so kann ich nachvollziehen, dass das ekelhafte Morden der Hamas auf einem friedlichen Fest weniger analog zum 11 September zu sehen ist, sondern mehr als Gefängnisaufstand. Entsetzlich, grauenhaft war das, der reine Horror. Der Mossad hat hier komplett geschlafen, und das an einem so emotional hochgeladenen Tag 50 Jahre nach dem Ausbruch des 6 Tage Krieges (wie geht das?!). Da hätte doch präventiv – überall bei grossen Zusammenkünften – die Alarmstufe Rot gelten müssen.

    Um die Worte des Bundeskanzlers aufzugreifen, möchte ich es so ausdrücken (und damit das permanent eingeengte Narrativ erweitern): Wir sind alle Israelis, und wir sind alle Palästinenser!

    Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auf den Podcast / das Video (youtube) zur Lage im Nahen Osten von Michael Lüders. Brilliant und reflektiert und wahr, aus meiner Sicht.

    Palestine’s a country
    Or at least used to be
    Palestine’s a country
    Or at least used to be
    Felahin, refugee
    (Kurdistan similarly)
    Need something to build on

    (Robert Wyatt, Dondestan)

    Brian Eno war übrigens vor Jahren in Palästina und hat sich klar für das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat eingesetzt. Bei Robert Wyatt ist diese Parteinahme seit langem bekannt, aus politischen Songs. Und natürlich verurteilt jeder der Beiden, würden sie gefragt, den Terror der Hamas.

    Und natürlich plappere ich hier nicht die Denke zweier Lieblingsmusiker nach. Wäre ich Klangkünstler, würde ich Konzerte in Israel nicht boykottieren. Da bin ich auf der Seite von Nick Cave.

    Brian Enos THE SHIP ist ein grosses zeitgenössisches Lamento, und zeigt, wie man mit den Mitteln der Einbildungskraft, der Fantasie, tiefe Realitäten freilegen kann. Würde ich ein Fach haben für LAMENTOS \ LAMENTI / KLAGEGESÄNGE, und dieses Topos etwas weiter fassen, das Werk stünde neben Mahlers 5. Symphonie, neben JOURNEY TO SATCHIDANANDA von Alice Coltrane, neben George Crumbs BLACK ANGELS, gespielt vom Kronos Quartet (Jan wird das in Pittsburgh live erleben, wenn das Kronos 4tet dort spielen wird).

    An diesem kleinen Wort zum Mittwoch ist auch nichts Antisemitisches. Da wre man sofort in die Ecke gehauen, wenn man mal darauf hinweist, was die Machthaber dort veranstalten. Wo so massiv schwarz weiss gemalt wird, wie in unserer Medienlandschaft, muss man wohl manches gebetsmühlenartig wiederholen.

    Wie gesagt:

    https://www.youtube.com/watch?v=ONeDDZNb8Ks&t=3215s

    Ich empfehle (hier der Link) das Video von Michael Lüders und wünsche seinen Ausführungen maximale Verbreitung! So geht politische Aufklärung.

  8. Olaf Westfeld:

    Ich habe mich auch gefreut, jetzt kenne ich einen Manafonista mehr ;-) Und wenn auch nur kurz, war es ein wirklich netter & schöner ‚Schnack‘.

    Die dritte Velevet Underground ist für mich auch die beste!

    Meine Eindrücke zu dem Konzert – ganz ähnlich und ganz anders als die von Alex – folgen hoffentlich morgen.

  9. Alex:

    Da bin ich jetzt aber sehr gespannt auf Deine Eindrücke, Olaf. Mich würde interessieren wie Du die Akustik fandest. Ich war ja relativ weit oben im Block D und bestimmt 20 Meter von der Bühne entfernt. Und da oben war die Musik relativ leise, fast zu leise würde ich sagen. Jedenfalls im Vergleich zu den Konzerten, zu denen ich normalerweise gehe.

  10. Alex:

    Hier noch zwei Audiolinks. Ein Gespräch mit Kristjan Järvi, dem Dirigenten des BSP, der für mich eher etwas von einem Vortänzer bzw. Animateur hatte. Was mir auch auffiel, ich aber oben vergessen hatte zu erwähnen, die Musiker hatten keine Noten, es gab also durchaus auch ein improvisatorisches Element. Und eine Interviewbesprechung mit Joachim Hentschel.

  11. Michael Engelbrecht:

    Da bin ich aber froh, dass ich hier einige Sachen geschrieben habe habe, die eine Balance schaffen können. Ein paar Aussagen von Jaochim Hentschel zeigen mal wieder, wie schnell einem Antisemitismus und „schlimme Dinge“ unterstellt werden, wenn man sich für die Sache der Palästinenser einsetzt. Aber eben NICHT für den Terror der Hamas.

    Ach, ich wäre gerne da gewesen!

  12. Lajla:

    Danke Michael, in einem Gespräch über ihr neues Buch „ Links ist nicht woke“ sagte die amerikanische Philosophin Susan Neiman, dass sie wie Naomi Klein denken würde: ein israelisches Kind bräuchte genauso wie das palästinensische Kind WASSER. Sie sei für Menschenrechte und Gerechtigkeit. Ich auch.

  13. Michael:

    Selbstredend.

  14. Michael Engelbrecht:

    Ich will noch etwas anfügen zu dem Hentschel Interview: es reiht sich ein, mit seinen kleinen Zwischenbemerkungen, in einen propagandistischen Ton, der sich quer durch die politische und kulturelle Nachrichtenerstattung zieht, in diesen Wochen massiv zunehmend. Ich werde J Hentschel, den ich mal in Berlin kennenlernte, und der zu den eigentlich blitzgescheiten Musik etc. Journalisten im Lande zählt, das auch in einer Mail mitteilen.

    Es ist die reflexhafte Unterstellung von Antisemitismus, wenn man sich als Deutscher kritisch zur Israelpolitik äussert und auf die brutale kolonialistische Politik Israels gegenüber den Palästinensern verweist.

    Zum Glück denken nicht alle so. Und ich freue mich über Texte zum Beispiel in der SZ, die nicht in den Chor dieser einseitigen Berichterstattung einstimmen.

    Hier ein Text von Brian Eno, aus dem Guardian anno 2019:

    https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/feb/04/artists-censored-germany-palestinian-rights

    Der Anfang: „I am just one of many artists who have been affected by a new McCarthyism that has taken hold amid a rising climate of intolerance in Germany. Novelist Kamila Shamsie, poet Kae Tempest, musicians Young Fathers and rapper Talib Kwelli, visual artist Walid Raad and the philosopher Achille Mbembe are among the artists, academics, curators and others who have been caught up in a system of political interrogation, blacklisting and exclusion that is now widespread in Germany thanks to the passing of a 2019 parliamentary resolution. Ultimately this is about targeting critics of Israeli policy towards Palestinians.“

  15. Alex:

    Ich sehe das so ähnlich wie Du, Michael. Aber und das ist ein sehr großes ABER. Es ist gerade nicht der Moment für Kritik an Israel. Und zwar nicht nur deswegen, weil es sich ziemlich zurückhält und ganz genau überlegt, ob eine Bodenoffensive in Gaza jetzt wirklich die richtige Antwort ist. Sondern weil Israel gerade den schlimmsten Moment seiner Geschichte erlebt hat. Zum ersten Mal hat es sich gezeigt, dass die zivile Bevölkerung auch in Israel nicht sicher ist vor Antisemiten, die Israel vom Erdboden vertilgen möchten. Es hat mich sehr bestürzt gemacht, was die Hamas in den Kibbuz angerichtet hat und ehrlich gesagt ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten. Fast noch mehr schockiert hat mich die Reaktion großer Teile der arabischen Welt bzw. der israelkritischen Bevölkerungsgruppen in Europa. Jeder, der das barbarische Massaker der Hamas nicht scharf verurteilt, stellt sich meiner Ansicht nach außerhalb der Zivilisation.

  16. Michael Engelbrecht:

    Natürlich, jeder stellt sich bloss, und verliert jede Glaubwürdigkeit, der dieses Massaker nicht verurteilt. Das ist ja wohl klar geworden an meinen Sätzen.

    Aber, und das ist auch ein grosses ABER, wenn dieses unsägliche Verbrechen jetzt hergenommen würde, um unsägliches Leid über die Menschen Im Gazastreifen zu bringen (das elende Wort heisst dann wohl mal wieder Kollateralschaden), wäre das ein sehr vergleichbares Verbrechen! Tausende von unschuldigen Toten die nicht den Terror der Hamas teilen…

    Schon jetzt befinden sich die im Gazastreifen von Israel zur Flucht gedrängten Menschen in einer katastrophalen Situation. Da scheinen mir Ausdrücke wie „humanitäre Fenster“ wie schöne Umschreibungen von etwas schier Unerträglichem.

    Die Zurückhaltung Israels im Moment beruht nicht auf Augenmass oder weiser Reflektion, sondern ist weitestgehend bedingt durch die verschleppten Geisel. Natürlich ist jetzt Kritik an Israels konkreten Plänen des Zurückschlagens sehr, sehr angemessen!

    An der Reaktion israelischer Politiker auf die Rede von Guiterez vor zwei Tagen sieht man doch, dass es gefährlich ist, aus Solidarität mit den Opfern des Anschlags alles durchzuwinken, was da nun an militärischer Gewalt von Israels Führung in Position gebracht wird.

  17. Alex:

    Ich glaube, dass Israel jetzt selber entscheiden muss und soll, wie sie die Hamas am besten und effektivsten und mit den geringsten Kollateralschäden schwächen und sie keine Ratschläge von uns oder irgendjemandem hierzu benötigen. Allerdings fände ich es auch gut und angemessen, wenn Netanjahu jetzt sofort Verantwortung übernähme und sofort zurückträte und einem neuen das Ruder übergeben würde, der dann hoffentlich sobald wie möglich mit Friedensverhandlungen beginnen würde. Aber ich glaube nicht, dass es so kommen wird. P.S: Noch eine indiskrete Frage. Warst Du schon einmal in Israel, Michael? Oder im Gazastreifen?

  18. Michael Engelbrecht:

    Israel hat sich seit dem Tag, als die Palästinenser vertrieben wurden, tief im letzten Jahrhundert, als beratungsresistent erwiesen, was die Zwei Staaten Lösung anging. Das Völkerrecht wurde seit damals wieder und wieder von Israel gebrochen und es wurde dabei auch Gewalt angewendet. Es wurde eine üble kolonialistische Politik betrieben, die natürlich (!!) eine historische Mitverantwortung für die sich dann bildenden Terrormilizen miteinschliesst. (An dieser Stelle muss ich jetzt – eigentlich – nicht gebetsmühlenartig wiederholen, wie unendlich widerlich die feigen Attentate palöstinensicher Terroreinheiten zwischen München und heute sind, oder?!)

    Israel hat letztich immer allein entschieden, denn alle Diplomatie, die die Palästinenser mit ins Boot holen wollte, erwies sich als schwach. Wenn Israel nun also die Bodenoffensive starten sollte, ist es eine fromme Vorstellung, Alex, sie würden den „Kollaterlalschaden“ besonders überschaubar halten können.

    Wenn Israel losschlägt, könnte sich eine zweite Front bilden, mit den Hisbollah und dem Iran. Wenn dann die USA… usw. Dass hier ein Szenario, das Weltkrieg 3 heisst, nicht hysterischer Angst entspringt, ist wohl auch klar: worst case scenario.

    Und es erscheint mir, auch vor diesem Hintergrund, etwas blauäugig, den Israelis nun am besten alles allein zu überlassen. Wir beide schlagen ihnen gar nichts vor, aber die Diplomatie läuft heiss, und ich hoffe (glaube es aber nicht), dass da etwas Gutes bei rauskommt. Diplomatie ist übrigens nichts anderes als intensive Beratungsarbeit.

    Der letzte Ausweg vor einer Eskalation mit unabsehbaren Folgen.

    Auf deine „indiskrete“ Frage, ähem, aber nur unter uns: ja, ich war dort, öfter, via Dokumentationen (TV) und Reportagen (SZ, Spiegel, The Guardian). Seit 1973 ungefähr. Ich habe sogar mal zwei Bücher gelesen, die sich mit diesem Konflikt befasst haben. Übrigens erinnert mich deine Frage an einen Fussballtalk vor Wochen, wo Lothar Matthäus (wer von uns schätzt nicht seine Expertise, ich erinnere an seinen genialen Spruch, als er sich einst der amerikanischen Öffentlichkeit präsentiertr: „I‘m A German record player!“) einen Journalisten in der Runde fragte, ob er jemals auf dem Fussballplatz gestanden hätte. 😅

    Szenenwechsel, fast: eine Radiosendung von mir in naher Zukunft: Der grösste Elektronikmusiker mit palästinensicher Herkunft, Robert Wyatts zwei Palästinasongs, Brian Enos „Bone Bomb“ – und wunderbare Musik israelischer Improvisationskünstler aus dem Hause ECM. Alles in stetem Wechsel. Dazwischen nur von mir verlesene Fakten (FAKTEN) aus der Geschichte Israels und der Palästinenser. Wahre Stories. Nahaufnahmen. Was gäbe es das dann: einen shitstorm, oder keinen shitstorm? Diese Frage ist nicht indiskret, sondern rhetorisch.

  19. Michael Engelbrecht:

    Und an dieser Stelle mal eine Aussage von S. Wagenknecht, mit der ich nun in etlichen Dingen nicht übereinstimmte in letzten Jahren… aber, zugegeben, wenn man ihr aktuelles Interview im SPIEGEL liest, sind da einige kluge Sachen dabei. ZB:

    „Der Konflikt ist nicht im luftleeren Raum entstanden, da hat Uno-Generalsekretär António Guterres recht. Es geht darum, endlich auch die Interessen der Palästinenser zu berücksichtigen. Wenn die israelische Regierung eine Zweistaatenlösung und ein Ende der Besatzung anbieten würde, wäre das der Weg, der Hamas den Rückhalt zu entziehen. Hamas ist groß geworden, weil die Rechte der Palästinenser über viele Jahre mit Füßen getreten wurden.“

  20. Olaf O:

    Man sollte tunlichst überdenken, Israel eine Mitschuld am Geschehen des 7. Okt. abzusprechen. Michael E hat das ausführlich dargelegt. Olaf S und Annalena B dürfen gern fest an der Seite der israelischen Kriegsführer stehen. (So etwas scheinen sie überhaupt gern zu tun.) Für mich sprechen sie nicht. Auch 2001 habe ich mir imperiale Terrorpolitik nicht schönreden lassen.

  21. Alex:

    Man sollte tunlichst überdenken, Israel eine Mitschuld am Geschehen des 7. Okt. abzusprechen.

    Dieser Satz ist monströs. Am Vortag des 7.10. hat Israel nach den Worten des israelischen Botschafters in Berlin tausenden von Palästinensern aus Gaza Arbeitserlaubnisse für Israel gegeben. Diese wurden dazu genutzt, die Kibbuze auszukundschaften und genaue Pläne zu machen von den örtlichen Gegebenheiten wie vom Schutzraum. Diese haben am nächsten Tag die Massenabschlachtung erst möglich gemacht. Der Fehler Netanjahus bzw. der Geheimdienste war, dass sie zu gutgläubig waren und daher überhaupt nicht auf den Angriff aus Gaza vorbereitet waren. Wenn jemand den israelischen Einmarsch nach Gaza provoziert hat, ist es die Hamas. Der im übrigen Menschenleben, auch eigene, nichts wert sind. Die israelischen Streitkräfte versuchen, so wenige Zivilisten wie möglich im Gazastreifen zu töten. Was die Siedler machen, ist absolut zu verurteilen, Netanjahu hat sie großwerden lassen und ist für diese Eskalation in der Westbank mit verantwortlich. In diesem Konflikt gibt es keine einfachen Antworten, aber die einzige Lösung, die die Hamas anzubieten hat, ist keine, das wäre nämlich der zweite Holocaust. Und dagegen muss und wird sich Israel wehren.

  22. Anonymous:

    Dieser Anfangssatz ist nicht monströs.

    Sie haben, ich wiederhole mich gerne, durch ihre Jahrzehnte lang währende Unterdrückungs-, Kolonial-, Apartheidpolitik gegenüber den Palästinensern erst den Boden bereitet für die Existenz der Hamas.

  23. Alex:

    Das ist ganz großer Bullshit. Ein Zivilisationsbruch bleibt ein Zivilisationsbruch. Durch absolut nichts entschuldbar. Ich bin mir sicher, dass die Palästinenser im Gazastreifen die Hamas heute nicht wählen würden, wenn sie könnten.

  24. Michael:

    Nein, kein bullshit
    Außerdem vergreifst du dich hier im Ton

    Das was Israel gerade veranstaltet ist rücksichtsloses töten Unschuldiger

  25. Michael:

    Abu Seif ist Schriftsteller und seit 2019 Kulturminister der palästinensischen Autonomiebehörde. Ein bekannter Kritiker der Hamas.

    Er besuchte eine verletzte Verwandte im Krankenhaus, als eine Explosion Dashabalia, das Flüchtlingslager, heimsucht. Auf kleinem Raum leben da enorm viele Menschen, zusammengepfercht.

    Als er nach Hause kommt, steht sein Haus noch, das Nachbarhaus ist verschwunden. Dort, wo zuvor noch standen: ein Loch. Dutzende Helfer aidn dabei, nach Überlebenden zu suchen. Abi Seif hilft und zieht den zerfetzten Körper eines Mädchens aus den Trümmern.

    Man lese doch hierzu den Artikel ZEITEN DES HASSES in der aktuellen Ausgabe des SPIEGELS.

    Was Israel hier ausführt, sind brutale Kriegsverbrechen.

    Ich empfinde genauso tiefe Verachtung für das Vorgehen der Israelis im Gazastreifen, und das willkürliche, hasserfüllte Morden Sieder an Palästinensern in diesen Tagen wie für das Massaker der Hamas.

  26. Michael Engelbrecht:

    Israels blutige Rachepolitik in Gaza kennt keine Grenzen von Schuld und Unschuld. Man kann in diesen Wochen reihenweise Schicksale erzählen, Unschuldige, die auf dem Weg in den Süden von Gaza getötet wurden (obwohl der Weg von Netanjahu als sichere Route propagiert wurde).

    Ärzte ohne Grenzen:

    This is a new low in an endless stream of unconscionable violence.

    The repeated strikes on hospitals, ambulances, densely populated areas and refugee camps are disgraceful.

    Fakten: Die Zahl der Todesopfer in Israels verheerendem Feldzug gegen die islamistische Gruppe Hamas im Gazastreifen steigt weiter an. Mehr als zwei Wochen nach dem entsetzlichen Angriff der Hamas-Kämpfer auf den Süden Israels, bei dem mehr als 1.400 Menschen in einem in der Geschichte Israels beispiellosen Gemetzel getötet wurden, sind nach Angaben der örtlichen Behörden bei israelischen Bombenangriffen und Razzien mindestens 5.087 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden, darunter mehr als 2.000 Kinder. Diese Zahlen werden mit der Verstärkung der israelischen Offensive zwangsläufig steigen.

    Aus Opfern werden Täter: es ist abscheulich.

    Es ist die demagogische Falle, als antisemitisch bezeichnet zu werden, wenn man die Rachepolitik und ethnische Säuberung Israels kritisiert.

    Ich muss das anscheinend immer betonen in manchen Gesprächen: ich verabscheue Antisemitisches, die AfD, die Hamas. Ich befürworte zugleich jede propalästinensiche Demonstration, die sich Waffenruhe, und Verurteilung der Gewalt auf beiden Seiten, ein befriedetes Palästina (resp. eine Zwei Staaten Lösung) auf die Fahnen schreibt. (Dass da immer auch Idioten auftreten, ist klar, das ist bei proisraelischen Demos mit den genauso.)

    In den kommenden Tagen werde ich (das ist der Plan, und hier gehts zurück zum Themenfeld THE SHIP / BRIAN ENO) meditative Tage auf Sylt verbringen, in einem Appartment – und bei dem lieben Klavierdoktor in einem abgelegenen Haus in der Bräderuper Heide den einen und und anderen launigen Abend verbringen (er hat sich zwei Kompositionen von Roger Eno beigebracht von der aktuellen Platte THE SKIES THEY SHIFT LIKE CHORDS)… Peter B. hat einen fantastischen Plattenspieler (ein Flagschiff von Rega), und sich die neue Vinylfassung von THE SHIP besorgt. Die Musik werden wir hören, und ich halte, vor Teilen der alten Westerländer Lesegruppe, eine kleine Einführung mit politischem Unterton. Auf keine Nordseeinsel hatte ich in letzten Jahren so viele Hörer meiner Radiosendungen wie auf Sylt.

  27. Michael Engelbrecht:

    Der Geschäftsführer des Web Summit, Paddy Cosgrave, hatte mit Äußerungen zum Gazakrieg im Oktober eine Kontroverse ausgelöst und war daraufhin zurückgetreten. Cosgrave hatte auf dem Kurzmitteilungsdienst X (vormals Twitter) den Kurs der israelischen Regierung kritisiert und unter anderem geschrieben: »Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen, selbst wenn sie von Verbündeten begangen werden.«

    Unser Minister Habeck, den ich in vielen Aspekten seines Denkens beeindruckend finde, hatte nach den Äusserungen von Paddy Cosgrave von dem Besuch des Web Summit Abstand genommen.

    Schade. Cosgrave hat einfach Recht. Ich habe null Zweifel daran, dass im Gazastreifen von den Israeli Kriegsverbrechen begangen wurden und begangen werden. Ich habe das mehrfach an Beispielen ausgeführt. Auch der gerechte Zorn verzerrt die Züge, hat Brecht einmal geschrieben, und mit der Tötung von Kinder und Unschuldigen praktizieren die Israelis genau das niederträchtige Verhalten, das die Hamas an den Tag legten bei dem Massaker.


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