Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2023 10 Okt.

Weniger ist mehr

von: Alex Filed under: Blog,Gute Musik | TB | Tags:  | 4 Comments

 

Gestern ist mir mal wieder etwas aufgefallen, was ich schon wusste, aber etwas verdrängt hatte. Wenn ich in einem Gespräch bin bzw. andere sprechen höre und es läuft gleichzeitig im Hintergrund Musik, die mich in den Bann zieht, dann gewinnt diese Musik noch einmal mehr an Attraktivität. Das hat zwei Gründe. Zum einen bin ich gezwungen genauer hinzuhören, weil der Geräuschpegel die Musik überlagert, ihr also eigentlich einen Teil wegnimmt, den ich nicht zu 100% durchs intensive Hören zurückkriege. Aber gleichzeitig bekommt die Musik dadurch auch eine mystische Komponente, einen Freiheitsgrad, weil mein Gehirn gezwungen ist, sich den Teil der Musik, den ich nicht genau hören kann, selbst nachzubilden. Das hört sich dann besser an, als wenn ich das Stück ganz ohne Störung hören könnte. Das könnte übrigens auch ein Grund sein für die Attraktivität von rauschenden Schallplatten. Außerdem finde ich es unglaublich faszinierend, wenn die anderen Personen bzw. die andere Person im Raum die Außergewöhnlichkeit der Musik nicht hören bzw. hört. Ich sie also quasi in gewisser Weise ganz für mich alleine habe. Gestern der Fall beim Hören von dem Pale Saints-Song Shell aus dem letzten Haikupost. Das nächste Lied in der Playlist, das ich ebenso liebe, war Gun Club’s Idiot Waltz und das wiederum führte dann zu einer Unterbrechung im Gespräch, weil die andere Person ebenfalls die Schönheit des Liedes empfand und es ihr ebenfalls die Sprache verschlug. Ich sollte eventuell noch erwähnen, dass eine Flasche Spätburgunder aus Rheinhessen auch mit von der Partie war.

 

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4 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Man wähnt sich leicht im Mystischen, wenn Alkohol das Hirn einnebelt. Aber mit der Pointe am Ende fragt dich niemand, was du denn geraucht hast… Eine skurrile Story aus dem Bereich der Psychoakustik, mit Gestaltergänzung etc.

    Einmal, im alten Jahrhundert, hockte ich mit Brian in seinem Studio in Kilburn, und wir sprachen über Neroli, sein damals aktuelles Ambient-Album. Anfangs liess er im Hintergrund einen instrumentalen Basis Track aus Laurie Andersons Briht Red laufen, an dem er just arbeitete.

    Nach zwei Minuten stoppte er den Track, und sagte, er könne sich nicht konzentrieren, wenn diese Klänge liefen – too fascinating. Da konnte ich nur zustimmen. Später in dem Jahr erschien das Album, und es wurde mein zweitliebstes von Laurie Anderson. Nach Big Science.

  2. Alex:

    Das hätte mich jetzt aber auch gewundert, wenn Du zu dem Thema nicht eine feine Anekdote gehabt hättest, Michael…

    Aber dass es ausgerechnet ein Instrumentaltrack ist und dann auch noch eigens bearbeitet, dem er nicht widerstehen kann, spricht ja auch Bände. Egal welches Lied auch immer von Laurie Anderson ich höre, es ist IHRE STIMME, die mich immer in ihren Bann ziehen wird.

    Bright Red war in der Tat ein klasse Comeback. Allerdings hatte mich vorher schon Strange Angels ziemlich geflasht. Fast noch lieber als Big Science war mir am Anfang übrigens Mr. Heartbreak.

    Ein typisches Setting für die Erfahrung über die ich hier spreche, waren früher übrigens Parties. Da war die Musik oft viel interessanter als die Gäste und man hörte durch den small talk durch zur Musik.

    Ich frage mich, ob ein großer Teil des Appeals von My Bloody Valentine nicht einem ähnlichen Umstand geschuldet ist. Hinter dem Lärm, auf I Love Music sagte mal jemand sie hörten sich an wie ein Staubsauger im Rückwärtsgang, verbergen sich himmlische Melodien, die man aber erst einmal hinter dem ganzen akustischen Schutt freilegen muss. Auch hier ist die Unvollkommenheit des Sounds das Element, was die Musik so unwiderstehlich macht. Wobei Kevin Shields darf man so etwas nicht sagen…

    Neroli versuche ich gerade mal wieder zu hören. Es ist besser, als meine Erinnerung daran.

  3. Anonym:

    Ein etwas älterer Text:

    THE DEEPNESS OF THE DISCREET

    On that hot and sunny afternoon I met Brian Eno in Kilburn, in the year of „Neroli“, we at some point spoke about the two „ambient works“ he did with Harold Budd, and he explained how he worked on the sound of „The Plateaux Of Mirror“. All very technical, I responded, but, being a convinced agnostic by heart meeting an atheist by confession, I asked him about the deep impact this music often had, and for example, on me.

    I hesitated to use the word but then dropped it: spiritual. Can agnostics attest music a spiritual, or, as I added, strangely otherworldly quality? He, the atheist, doesn‘t even think in these words. At least in that summer „Neroli“ was released, inspired by the experience of an orange garden.

    Already in early years, he spoke about his lust to put systems in motion and become an observer of the results. There is something about this that resembles a paradoxon. How can music go so deep when being regarded as „pure system music“ with not too much input from the creator, like „Discreet Music“? Or „Music for Airports“? Well, it can. But how?

    At times, and quite often, I have to say, Brian Eno stumbles, by chance and genius, into areas of sound that can have a variety of impacts on the listeners, and one of them being a profound, unsurpassable deepness. „The Plateaux Of Mirror“ or „Discreet Music“ or „Music For Airports“ contain and create, with all their surface shimmer and unspeakable magic, the same deepness as „A Love Supreme“ or Mahlers „6th Symphony“.

    This is my experience. And Eno knows to leave (forever and a day) the landscapes he has once created. Would be much more easy to write about deepness when putting „On Land“ on the record player. No one doubts deepness when roaming through the wilderness. But when confronted with a tape loop running mistakenly half-speed!? I can listen to „Discreet Music“ a thousand times without being bored. And I always feel it is moving as deep as deep can go.

    The ungraspable, next paragraph: on another sunny afternoon, with (as I remember) Alan Bangs waiting slightly impatiently with his TV team for an interview, I came to speak with Laurie Anderson on „Music For Airports“, and how Bang On A Can delivered their version. She said something like this:

    „Isn‘t it incredible that Brian‘s original, as a piece regarded „functional music“, has so much deep melancholia engraved in the four parts of the work, that a group of classical violinists and violas have to come to bring these deeply hidden emotions more to the surface – and even tears to the eyes? But this deepness was there, from the very start …“

    The hushed notes on the piano, only these few notes, played by Robert Wyatt on „1/1“, the first part of „Music For Airports“ – their return on loops, the sparse surroundings, the breath of machines in between, the hiss, the space near emptiness, and that road to silence not taken before, the hand at the machines rolling, the careful deleting of everything that has not to be, all that and much more is happening when nothing really happens.

  4. Michael Engelbrecht:

    In meinem imaginären Manabuch wäre dieses Text über THE DEEPNESS OF THE DISCREET tatsächlich und leicht redigiert in den Top 100.

    @ Alex: manchmal lockt auch das, was anscheinend „Bände spricht“, in die Wahrnehmungsfalle. Brian war nicht berauscht von den eigenen Klängen, sondern suchte zu dem Zeitpunkt nach den pefekteN Einsätzen für die Stimme, exakt auf den Beat, oder versetzt – oder beides. Er machte also genau das, was du in deiner spätburgunderigen Story beschreibst: er imaginierte Lauries Stimme auf die passenden Momente.

    Wenn ich NEROLI höre, vorzugsweise im Dunkeln, erweitert sich meine Höhle, mein Atemvolumen, mein Empfinden für das Unsagbare, meine Fähigkeit, Gedichte aus dem Hut zu zaubern, mein Verstehen bestimmter Sätze von Heraklit, meine Wertschätzung für die Vorsokratik überhaupt, meine Lust auf Klänge der Bansuriflöte von Hariprasad Chaurasia. Zuweilen sind die Abschweifungen beim Hören so lohnend wie das Versinken im Klang.

    Als ich heute, nach meinem Bonner Abenteuer, zurückkehrte, und eigentlich, wunderbar ermattet, Neroli zum zweiten Mal in dieser Woche hören wollte, lag Post auf meinem Tisch.

    Ich legte die CD, auf, die im Januar auch als Schallplatte rauskommt, und am 13. November als CD, und veileicht waren meine Sinne noch so geschärft durch die Reise zum afghanischen Konsulat und die Nachwirkungen der Orangenblütenmusik, dass ich unmittelbar in die Musik vordrang und gleichzeitig mich fallen liess.

    Obwohl dieses Solopianoalbum mir den Atem raubte (und genau das natürlich nicht tat), war die Magie vollkommen (and put a spell on me). CALL ON THE OLD WISE. Nita Hershkovits. Bekannt auch als Pianist von Oded Tzurs ISABELLA.

    Da ich gerade 500 tolle Schallplatten verkaufe, und 1000 Cds, und nur noch die Inselplatten und manch aufregende Neuheit mein eigen nennen möchte, ist eines gewiss: CALL ON THE OLD WISE bleibt perfekte Höhlen- und Inselmusik. Der Leser dieser Zeilen freue sich auf den 13. November!


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