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2023 24 Jul

Fluch oder Zauber: Präsenz des Unsichtbaren

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: , 2 Comments

In Das große Rauschen ist der Hype um das Berlin der Nachwendezeit noch deutlich spürbar, auch wenn das Buch im Jahr 2012 erschienen ist. Vor allem die Twenty- und Thirtysomethings bevölkern die Kürzestgeschichten von Verena Postweiler, die durch jeweils vier Comiczeichungen von Dieter Jüdt illustriert werden. Fahrradkuriere, Drogenhändler, die ihre Ware bei der ahnungslosen Freundin verstecken, Jungs, die Besuch von ihrer kleinen Schwester bekommen, Schlaflosigkeit und wie die Stadt dabei spricht, der Moment vor dem Weggehen am Abend, die Erinnerung an ein Gesicht, „glänzend russisch irgendwie und helle Augen“. Ein intensiver Moment an der Ampel, die Betrachtung der Stadt und wie der Sommer immer mit dem Geräusch der Flipflops in die Wohnung kam. Meist sind es kleine Augenblicke, Episoden, die im besten Fall etwas anderes, eigenes beim Betrachtenden auslösen. Die Texte sind knapp und auf Pointe geschrieben, die Grundstimmung ist melancholisch. Die Zeichnungen wirken mit ihren fast holzschnittartigen Strichen kühl, auch wenn sie als einzige Farbe einen Orangeton verwenden. Wie die Zeichnungen dem Text eine weitere Ebene hinzufügen und ihn interpretieren, zeigt die short short Story „Frau aus Glas“: Über dem ersten Pannel heißt es lapidar: „Sie wurde durchsichtig, über Nacht.“ Passanten sind in der Stadt unterwegs und unter ihnen eine Frau, die innehält. Sie ist schwächer gezeichnet, also ist sie sichtbar und nicht sichtbar. Im zweiten Pannel wird die Präsenz dieser Frau für eine Gruppe von Freunden beschrieben. Und dies ist der dritte Pannel:

 
 

 
 

Bemerkenswert an dieser Zeichnung ist, dass die Frau zweifach zu sehen ist, einmal sichtbar-unsichtbar, wie sie ein Getränk hält, und dann im Hintergrund in einem Top, was bedeuten würde, dass die Frau eine Doppelexistenz führt. Oder sieht die Frau im Hintergrund der Frau, die über Nacht durchsichtig wurde, nur auffällig ähnlich? Im vierten Pannel heißt es: „Wenn sie durch die Küche lief, konnten wir ihre Schritte nicht hören, nur die Gläser im Schrank, die leise klirrten.“ Die unsichtbar gewordene Frau, die eine Metapher darstellt, für vieles, sie wirkt weiter.

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2 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Das Unsichtbare ist in jedem Fall präsenter als das Sichtbare, weil unkontrollierbar, beängstigend und die Atmosphäre bestimmend – viele Menschen werden krank an der kognitiven Dissonanz, die die unsichtbare Präsenz einer Figur in einem Menschenverband auslöst. Ich habe mich ja einmal über das Unheimliche ausgelassen, das immer durch das Erfühlen einer nicht sichtbaren Präsenz – oder sei es nur eine Kraft, die ja wiederum durch eine Präsenz bedingt ist – zustande kommt. Es unterläuft unsere Abwehrmechanismen. Die Frage ist natürlich, was es metaphorisch bedeutet, wenn ein Mensch plötzlich unsichtbar ist. Erinnert etwas an Kafkas „Verwandlung“.

  2. Martina Weber:

    Die kognitive Dissonanz ist das entscheidende Stichwort. Ich habe vor vielen Jahren einen Artikel für die Autorenzeitschrift „Federwelt“ über die Schreibtechnik der Kürzestgeschichte geschrieben und habe bei meinen Recherchen eine Dissertation gefunden – hier in der Bibliothek gibt es alles! -, von Susanne Schubert, die folgende These aufgestellt hat: Der Leser einer Kürzestgeschichte kann an dem kreativen Akt, dem Text eine Bedeutung zu geben, teilhaben. Dies basiere auf der Wirkung kognitiver Dissonanzen. Die Unstimmigkeiten im Text aktivieren beim Lesen eigene Erfahrungen. Von allen Kürzestgeschichten des Buches fand ich „Die Frau aus Glas“ gerade wegen ihrer Rätselhaftigkeit und Interpretierbarkeit am stärksten. Für weitere Dissonanzen und Spielräume sorgt noch die zeichnerische Umsetzung: Meine Überlegung, dass auf dem Pannel, den ich in meinen Text gesetzt habe, die Frau im Hintergrund mit der (durchsichtigen) Frau im Vordergrund identisch ist, ist ja auch nur eine mögliche Interpretation, die zusätzlich für Verwirrung sorgt. Kann ein Mensch da sein und doch abwesend?

    Wenn die gläserne Frau symbolisch für etwas anderes steht, dann müsste es nicht zwingend ein Mensch sein. Ein anderer Lebensabschnitt. Etwas Verdrängtes.

    Ich weiß auch nicht, was diese kleine Geschichte bedeutet. Deshalb empfinde ich sie als so reizvoll. Ja, und wie du schreibst: unheimlich. Warum verschwindet eine Person über Nacht und warum ist diese Person dennoch so stark präsent in der Gruppe? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Verschwinden der Frau und der Gruppe? Hat sich die Gruppe schuldhaft in etwas verwickelt? Nach außen wirkt die Gruppe ausgelassen. Ist die Frau freiwillig durchsichtig geworden? Wofür steht die Durchsichtigkeit? Ist es eine Unsichtbarkeit?

    Und, what a coincidence, passt die Geschichte auch zur Situation hier auf dem Blog rund um den jüngsten und finalen Austritt von Michael. Da mein Blogeintrag mit dem Link zu Michaels Blogbeiträgen gelöscht wurde, setze ich hier zur Erinnerung einen Link zu Michaels Blogbeiträgen: https://www.manafonistas.de/author/song-x/


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