Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Mai 2023

 

 

 

In der Juliausgabe von Mojo hat die Redaktion der drittbesten Musikgazette der Welt (nach Uncut und Wire) für die alte Serie HOW TO BUY… Keith Jarrett ausgewählt, und die Nummer 1 (siehe screenshot) ist die erste aller Jarrett-Kisten. Dieses unfassbar gute Album wird im Sommer Teil der neuen ECM-Analog-Remasters sein.

(Aus einer alten Deutschlandfunksendung:) Jesus hatte eine grüne Kiste dabei. Es war Sommer, im Schulhof versammelten wir uns um ihn. Abiturzeit. Jesus öffnete die dunkelgrüne Box, und sagte: „Sagenhafte Musik. Nur Klavier. Tim Buckley schwärmt von diesem Pianisten. Einer, Jungs, der auch auf dem Weg zu den Sternen ist. Hört euch Starsailor an!“ Jesus hatte gesprochen. In jeder Schule gab es einen, der wegen seiner wilden Matte mit Mittelscheitel, Jesus genannt wurde, wenn er zudem nur über ein Mindestmass von Charisma verfügte. Jesus hatte Ahnung von Musik, und eine scharfe Braut am Start. Da, im Pausenhof, waren wir aber noch schärfer darauf, diese Klaviermusik auf den Plattenteller zu legen. Wir kannten Keith Jarrett und die tollen Alben „Soundtrack“ und „Forest Flower“, bei denen er in der Band von Charles Lloyd Und seine wahnwitzige elektrische Pianomusik in Miles Davis‘ Band. Wie Miles hatte auch Lloyds Gruppe schon lange das Rockpublikum erreicht. Bald liefen Jarretts Solokonzerte aus Bremen und Lausanne endlos auf unseren Plattenspielern. Gleichberechtigt neben „Atom Heart Mother“, „Thick As A Brick“ und „Sgt. Pepper“. Es waren die frühen Jahre von ECM. In den USA wunderte man sich über die Allianz des Pianisten Keith Jarrett mit dem deutschen Produzenten Manfred Eicher. Man sollte sich bald noch viel mehr wundern.

„We People Who are Darker Than Blue“

 

Gestern an einem fast schon sommerhaften Abend im Land der Alben und Elfen unterwegs gewesen, dabei nicht ganz so nüchtern wie Michael, als er kürzlich das deutschsprachige Kino auf sich wirken ließ. Zunächst streifte ich durch einen von Bächen und kleinen Lichtungen durchzogenen Wald. Ich trug meine Kaleidoskbrille, die Bäume, Blätter, Zeit und Schwerkraft in Farben und Formen auflöste. Nach einer Unendlichkeit entdeckte ich auf einer Lichtung eine kleine von Kerzen und Glühwürmchen beleuchtete Bar. Eine Gruppe Musiker war tief in ihr Schaffen versenkt: Pino Palladino und Linda May Han Oh wechselten sich am Bass ab, Jeff Parker spielte Gitarre, Larry Goldings Tasteninstrumente, zwei Schlagzeuger und wechselnde Gastmusiker waren noch dabei. Dazu eine Stimme, die vielleicht zu dem elegant gekleideten Mann gehörte, der etwas abseits hinter der Bar saß. Stumm stellte er ein Glas Grauburgunder und einen Aschenbecher vor sich und nickte mir zu, so dass ich mich zu ihm auf einen Barhocker setzte und einen Schluck trank. Seine Musik, Aneignungen zum Teil sehr bekannter Songs, berichtete von Wut, Trauer, Hoffnung und war dabei dermaßen beseelt, dass die Glühwürmchen immer wieder etwas heller aufflackerten.

 

2023 11 Mai

„India“

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Expertise hin, Expertise her, was Musik angeht, möchte ich wie ein blutiger Anfänger über das Urfremde stolpern, das mir so vertraut ist wie der immer wieder erste, feurige Blick jener Zigeunerin aus den Serienträumen meiner Kindheit. Und so ging es mir Jahre später, wenn ich über die Strände von Ipanema wandelte, und schon mit 17 17 Monde starb, als ich die Magierin sah, die mich jederzeit hätte beschlafen können – allein ihr Gesang verrichtete den kompletten Job der Verführung. Jetzt wird das Album 50 Jahre alt, und mir leuchten alle  Sinne, wenn ich es nach all all den Wirrnissen und Wanderungen wieder höre, die Nadel sich senkt, der Körper der Stimme mich hüllt.

2023 11 Mai

early morning haiku

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Über den Wohnblocks
kreisen die Wucher-Geier
und fordern Mietzins.

 
 

[man nehme sich ein blatt papier und ziehe mittig vertikal einen trennstrich: der erste schritt zur dialektik hin. jung und alt, hip and square, links und rechts: weil ich arm bin, bist du reich. am nächsten sonntag wird in der türkei gewählt: liberal oder reaktionär. der paternale erdogan schiesst sich auf die queer-szene ein. norbert bolz bricht eine lanze für den alten weissen mann. die gentrifizierung schreitet voran. in frankreich brennt es auf den strassen. der deutsche michel fügt sich geduldig]

 

2023 10 Mai

Die Sache mit dem Flash

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Die Erde wird auch
ohne uns überleben.
Wir nicht ohne sie.

 
 

[Das war eines meiner ersten Haikus, #40. Es kam mir morgens beim Joggen in den Streuobstwiesen zwischen Niederhöchstadt und Kronberg. Es ist eher untypisch, weil keine direkte Beobachtung. Aber es war schon so eine ganz kleine Erleuchtung und die Tatsache, dass es irgendwie in die 17 Silben passte, hat mir große Freude gemacht. Im größeren Stil angefangen habe ich übrigens mit dem Schreiben von Haikus während meiner ersten Fastenwanderung auf dem Jakobsweg von Beelitz (südlich Berlin) nach Leipzig im Februar 2020, als noch nicht ganz klar war, was Corona genau bedeuten würde. Seitdem bin ich von den Dingern nicht mehr losgekommen. Sie sind Tagebuch, Wahrnehmungsschärfung, Silbenrätsel, Sprachkonzentrat, Sprachübung, Erinnerungshilfe, Poesie in einem. Und dieser 5-7-5 Silbenaufbau hat auch was Rhythmisches, Musikalisches. Ich spüre, ob die Silben stimmen, ohne nachzuzählen. Ein Tag ohne Haiku ist für mich seitdem ein bisschen ein verlorener Tag. Ein gutes Haiku ist wie ein Flash, direkt ins Gesicht, ohne Umschweife, ohne Filter.]

 

 

 


We sit in Vienna Bar / 
behind the Plattenbauten: the red vermouth is ace. (…) Taiko Saito was mailing me the other day. Would like to meet her, but so busy with the Bundestag journey, the time schedule knows no mercy. I am dreaming of a tea ceremony, a marimba piece in the afternoon (…) 

 

2023 10 Mai

Nothing Else

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Repeatedly I used the term Hördramaturgie er*in / dramaturgy of listening/listeners here as a dynamic view on musical ‚taste‘. Here are two quotes from my liner notes for the new album of the longstanding trio of cellist Vincent Courtois, saxophonist Daniel Erdmann and saxophonist/clarinetist Robin Fincker.

 
 

Music has no denotational meaning. Music has effects on listeners’ mind and soul, mood and imagination instead in a more holistic sense. Those effects can converge or diverge among listeners. Listeners can feel attracted, more or less, by certain tonalities, moods, energies, rhythms, orchestrations, dynamics or specific combinations of those characteristics, and, of course, also by certain musician’s personality as such. These characteristics can evoke specific inner streams, e-motions, mood-states and desire to immerse into the sounds, which can result in a more or less deep impact of the music on listeners’ senses and soul. We are used to speak of a matter of taste then, which is a relevant but a quite static view on the referred process of taking music in. I prefer to say that listeners have their own (inner) dramaturgy when listening to music, be it at different gradations of consciousness. It determines how listeners filter musical input, how they deal with it, how their inner time connects to ongoing musical time, what and how they synthesise and integrate the flow of the music (or not), how hungry or thirsty they get from its magics. 

 

When listeners talk about music they were/are experiencing traces of their inner listening dramaturgy appear (explicitly or implicitly). I started to pay attention to these signs of inner processes and get insight into its varieties. In the liner notes I then tried to formulate something about ingredients of my presumed own dramaturgy.

 

My/your own listening dramaturgy Because I know and appreciate this unit’s music and character I expect music beyond peristaltic progress, beyond a floating iridescent mode or beyond a minimalistic repetitive approach to name a few possibilities. I am eager to hear something with a strong melodic substance emerging from the hidden or undiscovered evidency, balancing on the verge of the expressible and something that gains sense, drive, moving impact and unity by manoeuvres from different angles – all executed with passion, playfulness, economy as well as joy and humour. When listening to “Nothing Else” I felt that all my needs were met, that everything spurred my imagination and deepened my immersion in the music. Also the lightness of these improvisations and at the same time their sharpness and decidedness was something that attracted me. There is something in the music that responds to my desires and offers me something freshly created and new to me. 

 

 

„When an explosion does come along (and there are a couple), it’s a shock and is either brief or carefully resolved: an example of the sort of tactical astuteness characteristic of what will undoubtedly be one of the albums of the year.“

(Richard Williams)

 

 

 

2023 8 Mai

Treasures, indeed

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It’s very interesting that nearly no writer of reviews complaints about RLJ as being someone who choses the comfort zone when doing the American Songbook. i think they feel that there is something else going on than nostalgia. Wrapped up in a book of canonical songs, Rickie Lee Jones offers nothing more or less than existenzial stuff. Jon Dale wrote a perfect last sentence in his Wire review. We have to know when to set knowledge aside!

 

2023 8 Mai

Lankum Live

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Lankum gibt meines Wissens nur ein Konzert in Germany, im Herbst, in Köln. Am 23. November. Das wird in Kürze ausverkauft sein. Wer kann, sollte in den Stadtgarten kommen. Da hat es unser ehemaliger Mitarbeiter Ian McCartney leichter. Früher war ich so oft in Great Britain, seit dem Brexit kommt es mir vor wie eine Weltreise. The Lifelong Day und False Lankum sind zwei Klassealben. Und was einen live erwartet, bitteschön… (m.e.)


YOUR NEW ALBUM IS FUCKING DEADLY!“ schreit eine Stimme aus den Tiefen eines vollen Hauses im Barbican am Donnerstagabend, dem ersten Termin der UK-Tour der Band aus dem Norden Dublins für ihr atemberaubendes neues Album False Lankum.

Wenn Sie das Album anhören, werden Sie in eine Klangwelt eintauchen, die von den organischen Drones der vier Musiker aufgewirbelt wird, die in einer Echokammer epischen Ausmaßes gefangen zu sein scheinen, mit gespenstischen Trommelschlägen und der Stimme von Sängerin Radie Peat in ihrer gespenstischsten und körperlosesten Form, die mehr an Throbbing Gristle aus der Heathen Earth-Ära erinnert als an irgendetwas anderes in der Folkmusik.

False Lankum ist auch das Album ihrer bisherigen Karriere, das von allen Seiten gelobt wird – der ehemalige Pogue Spider Stacey ist ein großer Fan („die beste Irish-Folk-Band, die es seit langem gibt“), und ihr Auftritt im Barbican war dementsprechend aufregend, mitreißend und überwältigend, mit epischen Tracks von False Lankum neben Ausschnitten aus dem ähnlich dröhnenden The Livelong Day von 2019 und dem früheren Old Cold Fire.

Nach einem faszinierenden Eröffnungsset mit Loops, Live-Musik und Dub-Einflüssen des Tara Clerkin Trios eröffnete Radie Peat eine epische Darbietung von „The Wild Rover“. Die Band reihte sich auf einer dunklen Bühnenplattform auf, die Brüder Lynch flankierten die beiden Enden, die alten Schulfreunde Peat und Cormac MacDiarmada standen in der Mitte, und hinter ihnen beugte sich der Schlagzeuger John Dermody über die wohl größte Trommel, die je auf einem Schlagzeug zu sehen war.

Peats Stimme ist ein Wunder, das bei „The Wild Rover“ von einer dünnen, zerbrechlichen Geige und Daragh Lynchs exquisit gespielter Gitarrenbegleitung unterstützt wird, bevor sich die Schlange in der Musik zu erheben beginnt und die Klanglandschaft zu einer tiefen, aufwühlenden Tonlage verdichtet, die so dunkel wie Teer ist. Und das Publikum bricht in wilden Applaus aus, als Dermody zum ersten Mal die große Trommel anschlägt.

Ian Lynch übernimmt die Führung bei „The New York Trader“, einer treibenden, eindringlichen, unaufhaltsamen Geschichte über einen Mörder, übernatürliche Kräfte und eine Reise der Verdammten, die am Ende durch die exzellente Soloarbeit von Ian Lynch und MacDiarmada an Pipes und Fiddle sowie Peat an der Konzertina besiegelt wird.

An einer Stelle ergänzt Peat ihren Gesang und ihre Akkordeonarbeit, indem sie mit ihren Zehen ein paar Töne auf dem Harmonium zu ihren Füßen spielt, während Ian Lynch Pfeifen, Whistle, Drehleier, Konzertina und Keyboards sowie den Gesang bedient und MacDiarmada bei der exquisiten und eindringlichen Kinderballade „Lord Abore and Mary Flynn“ von der Geige und Bratsche zur Gitarre und zum Leadgesang (mit Peat) wechselt.

Es ist ein weiterer epischer Höhepunkt des Sets, ebenso wie die wilde Instrumentalattacke von „The Pride of Petrovore“. Hier gleicht Lankums Musik einem verkohlten, zerfledderten Marsch unruhiger Seelen durch eine Klanglandschaft, die von den Gespenstern von Goyas „Disasters of War“ gezeichnet ist, und während die sanfteren Gruppenharmonien auf Cyril Tawneys Klassiker „On a Monday Morning“ dazu beitragen, die Temperatur der musikalischen Spannungen im Spiel zu senken, schließt das Set mit einer der größten und intensivsten Gesangsdarbietungen, die jemals diesen Konzertsaal zierten – Radi Peat führt unbegleitet durch False Lankums gewaltigen Opener „Go Dig My Grave“.

Wie kann man darauf reagieren? Nun, wie wäre es mit einer stehenden Ovation des lautesten und wildesten Publikums, das ich je im Barbican erlebt habe, und einer dreistimmigen Zugabe, die mit „Bear Creek“ endet, einem wilden Melodienreigen, der einem Großteil des Publikums unter die Haut geht, das aufsteht, wild tanzt, mit den Armen um sich wirft und generell durchdreht. Ich glaube nicht, dass es ein Barbican-Publikum wie dieses gegeben hat. Aber es gibt auch keine andere Band wie Lankum.

 

(Tim Cumming, übersetzt von Manafonistas )


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