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2023 18 Mrz

Verursacht Sex Mutationen?

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: , | 4 Comments

 

 

Dieses Pannel ist einer Graphic Novel entnommen, und es fällt nicht schwer zu erkennen, in welcher Zeit wir uns befinden. [Zur Vergrößerung die Bilder anklicken.] Die Frisuren, die Schlaghosen, der Hemdkragen. Die Lampe, die Bilder an der Wand. Und die Pilotenbrille. Alles deutet auf die 70er Jahre hin. Geht die Datierung genauer? Jugendliche trinken Bier auf einer Party und jemand erzählt, er hätte Karten für ein Konzert von Emerson, Lake and Palmer gekauft. Es klingt nach Geheimtipp. Chris, eine Ausreißerin, besucht ihre Freundin Marci. Die legt Harvest von Neil Young auf; sie hören es leise. Ein Lieblingsalbum der beiden, aus dem Jahr 1972. Chris nimmt eine Neuerscheinung in die Hand: Diamond Dogs von Bowie. Es erschien am 24. Mai 1974. It’s kind of weird stuff, sagt Marci. But I’m starting to get into it.

 

 

 

 

In der Graphic Novel Black Hole von Charles Burns erleben wir eine Apokalypse, einen Absturz in eine surreale Zwischenzone, in der die Systeme des Elternhauses und der Schule ihre Bedeutung verlieren. Die Körper erleben eine Revolution. Hierarchien und Grüppchen bilden sich aus; man grenzt sich voneinander ab. Auf Partys herumstehen, sich festhalten an der Bierdose in der Hand, fachsimpeln, rumkiffen im Wald, weiter hineingehen, auch wenn Knochen an Äste gebunden sind, ein zerrissenes Kostüm menschlicher Haut in den Zweigen hängt, und in einem Zelt auf einer Lichtung Playboyhefte und Snickers lagern. Was die Jugendlichen gravierend verändert, das ist das Virus, das sich durch ungeschützten Sex überträgt. Es wirkt sich unterschiedlich aus. Die Meisten entwickeln entstellte Gesichter, andere Symptome sind Schwimmhäute zwischen den Fingern, eine klaffende, offene Wunde entlang der Wirbelsäule, ein zweiter Mund am Halsansatz. Ein Mund, der die Wahrheit spricht. Angesiedelt ist die Geschichte im äußersten Nordwesten der USA, am Rande von Seattle, wo Charles Burns in den 70er Jahren seine Jugend erlebte. Seattle wird zwar nicht genannt, aber es gibt ein Pannel mit der Silhouette von Downtown Seattle, genannt wird auch Bremerton, eine Stadt im Bundesstaat Washington. Charles Burns hat Black Hole in den Jahren 1995 bis 2005 in zwölf Heften veröffentlicht. 2008 erschien die Graphic Novel als Buch, 2011 auch auf Deutsch (bei Reprodukt). In der Fassung des Buches ist der Schluss offener als in den Heften. Dafür hat es genügt, den letzten Absatz zu löschen, in dem eine Figur erzählt, dass die Symptome irgendwann verschwanden und sie „dann wieder mit den Scheiß-Normalos herumhing, so wie früher“. Das wirkte wie ein Plädoyer, die gewohnten Pfade lieber nicht zu verlassen, war unnötig und allzu moralisch. Warnungen vor dem Betreten fremder Sphären gibt es ohnehin. Gohwa heißt go away. Der Wald ist das Rückzugsgebiet der Infizierten. Die Natur bietet zwar kurzfristig, for a swim, Schönheit und Berauschung, aber keinen Schutz. Auch nicht die Häuser. Die Atmosphäre ist düster und intensiv. Schwarz ist der Farbton, an den man sich erinnert. Bedrohung das Grundgefühl. Nacht. Wie Paare aber dann zusammenfinden, am Rand einer Party. Das geht so leicht. Die Stimmung schwankt zwischen aufgeladener Lust, pathetischen Liebesschwüren, tiefer Einsamkeit und dem Glücksgefühl, das darin besteht, dass Erinnerungen verblassen. Es wäre zu kurz gegriffen, die Metapher des Virus einzig auf eine Aidserkrankung, die zur Zeit der Entstehung der Graphic Novel noch sehr gefährlich war, zu reduzieren. Black Hole ist auch die atmosphäre Schilderung einer inneren oder äußeren Transformation, einer Sinnsuche, einer Ohnmachtserfahrung.

 

 

This entry was posted on Samstag, 18. März 2023 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

4 Comments

  1. Anonymous:

    Klingt interessant – und erschreckend.
    Aber das ist ja der Stoff, der so ein Buch interessant werden lässt.
    Gibt es das eigentlich öfter, dass es unterschiedliche Enden gibt?

  2. Martina Weber:

    Ich habe das Buch innerhalb von zwei Tagen gelesen. Dieses Tempo war für mich wichtig; ich hätte sonst die Orientierung über die Figuren verloren. Einige Hauptfiguren sehen einander ähnlich. Ich habe die Buchfassung auf Englisch gelesen. Habe dann ein paar Rezensionen gelesen und war erstaunt darüber, dass das Ende, so wie es in einer Rezension besprochen und kritisiert wurde, anders war als in dem Buch, das ich gelesen hatte. Dann habe ich in einer Bibliothek das letzte Heft aus der Heftfassung angesehen und entdeckt, dass nur zwei Seiten am Ende anders waren. Charles Burns hat also vermutlich beschlossen, dass die Buchfassung offener enden soll. Ich finde das Ende des Buches auch sehr überzeugend. So oft kommt es wohl nicht vor, dass Graphic Novels erst als Hefte, dann als Bücher erscheinen. Wobei, mir fällt Daniel Clowes ein, zu dem ich hier auf dem Blog schon öfter geschrieben habe (dessen Werke mich absolut begeistern!). Von Daniel Clowes erschien zunächst das Fangraphic-Magazin „Eightball“, in den 90ern, meine ich; später wurden Storys daraus zu Büchern. Ich habe allerdings nicht die Enden der Geschichten verglichen. Kann also deine Frage nicht beantworten.

    „Eightball“ ist vor einiger Zeit neu herausgekommen. Olaf hatte die Hefte zu der Zeit, als sie publiziert wurden, gelesen.

  3. Uli Koch:

    Charles Burns Comic-Strips haben meist etwas beklemmend-apokalyptisches, düster und bis zu einem gewissen Grad unberechenbar und eruptiv. Dazwischen findet sich oft ganz fein Gezeichnetes und Allegorisches, Hintergründiges. Deshalb mochte ich seine Comics und Graphic Novels und empfand gleichzeitig immer etwas Beunruhigendes in ihnen …

  4. Martina Weber:

    Die Trilogie „X“, „Die Kolonie“ und „Zuckerschädel“ steht auf meiner Liste. Matthias Manthe schrieb am 22.9.2015 in der TAZ darüber:

    „Am Ende dieses Tals gelingt Burns eine der präzisesten kulturellen Darstellungen von männlicher Subjektivität und Verstrickung überhaupt.“

    Auf diese Verstrickung bin ich ja mal gespannt.😇


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