Mark Smotroff beschreibt in seiner feinen Rezension von „The Futuristic Worlds of Sun Ra“ (Savoy, 1962, s. Audiophile Review), wie er auf Umwegen zu der Musik des Jazz-Exzentrikers kam, und anfangs von einem Bekannten, für den das Wort „stoned“ erfunden schien, erstmal abgeschreckt wurde. Ich hatte da etwas mehr Glück, und fand mit 21 Lenzen mein erstes Sun Ra-Paradies in einem sozialistischen Plattenladen in Perugia. Die surrealen Cover sprachen mich an, die Platten, die ich dort anspielte, besorgten den Rest. Es waren Alben, die sich bald als Raritäten herausstellen würden. Und es war wohl das einzige Mal, dass ich, an der Leine eines Kopfhörerkabel, in aller Öffentlichkeit zu tanzen begann, so sehr ergriffen mich die Schwingungen der Musik (natürlich war mein Tanz „free-style“). Das passierte auf meiner Verlobungsreise Mitte der Siebziger Jahre, auf dem Weg nach Venedig.
Leider war die Reise von einigen melancholischen Schatten begleitet. Alle paar Tage musste mir von wildfremden Ärzten eine mächtige Dosis Penicillin verabreicht werden, weil mir in Würzburg eine Hautärztin eine Syphilis diagnostiziert wurde – ein doppelter Test habe Gewissheit geschaffen, und wie soll das gehen, fragte ich, ich hätte noch nie ein Bordell betreten oder sonstwie fragwürdige Begegnungen gehabt. Sie glaubte wahrscheinlich keine meiner Beteuerungen, diese dumme Kuh, und ich höre ihre Stimme noch nachhallen: „man kann sich das auch auf einer Bahnhofstoilette in Frankfurt holen.“
Wie sich nach meiner Italienreise rausstellte, hatte ich gar nichts, und kam mit dem Schrecken, und etlich eingetrübten Wochen davon: das triste Venedig damals mit seinen vielen Giftschildern schien mir der Vorbote eines nahenden Todes zu sein. Kurz bevor ein Arzt die komplette Fehldiagnose nachwies, sah ich auf der Kampstrasse in Dortmund, wie eine in der Blüte ihrer Jahre stehende Frau (ich bildete mir ein, ihr schreckenstarres Gesicht zu sehen) von einem Auto erfasst wurde, und hoch in die Luft geschleudert wurde. Sie wird das kaum überlebt haben – ich schloss die Augen und zitterte kurz.
Das Schreckliche, das Absurde, und das Wunderbare bilden in unseren Leben ein eigenartiges Knäuel, kaum zu entwirren, ausser, man neigt mit Pater Brown zu dem Glaubenssatz, die Wege des Herrn seien unerforschlich. Einige Momente jener Italienreise werde ich nie vergessen, und dazu zu zählte, neben Christianas zauberischem Wesen, meine tollkühne Übersetzung einer langen italienischen Plattenbesprechung von Brian Enos „Another Green World“ (ich hatte damals noch keinen Ton von dem Album gehört, aber wozu hat man das doofe grosse Latinum?), und meinen Tanz mit Sun Ra.
(in Erinnerung an Hartmut Geerken)