Manafonistas

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2022 5 Okt

ars moriendi

von: ijb Filed under: Blog | TB | 5 Comments


 
 
 

Bei ECM sind in diesem Sommer und Herbst nicht wenige ungewöhnliche Neuveröffentlichungen im Angebot, darunter freilich auch neue Alben und Projekte von einigen zuverlässig erstklassigen Komponisten und Interpret(inn)en, die seit langem zum kreativen Stamm des Labels gehören – wie etwa die neuen, sehr zeitgemäßen Werke von Heiner Goebbels (A House of Call) oder Valentin Silvestrov (Maidan) sowie Carolin Widmanns neues, famos zusammengestellte Solo-CD L’Aurore. Gerade habe ich ein paar der Frühjahr-Erscheinungen nachgekauft; die Suiten Return from the Stars (Mark Tuner Quartet) und Naked Truth (Avishai Cohen Quartet) kommen als Vinyl-Ausgaben ganz besonders schön – erstere 65 ausladend spannende Minuten, letztere sehr dichte 35 Minuten, die sich nicht sofort erschließen; und auch die LP-Hüllen mit den Fotografien von Thomas Wunsch und Juan Hitters gefallen mir in dieser Größe besonders gut.

Das alle anderen in den Schatten stellende Werk ist allerdings  Paul Gigers ars moriendi. Was für eine Platte! Gigers (wenige) bisherige ECM-Alben kann man ohnehin durchweg nicht hoch genug schätzen – jedes öffnet eine eigenes (Klang-)Welt; ars moriendi scheint mir vieles davon wieder aufzugreifen, kompositorische Spuren, Einflüsse aus anderen kulturellen und musikalischen Universen, Streichensembles, Gesang, seine Liebe für Bach, die Einladung in die Stille (Towards Silence) und zur inneren Einkehr – oder Meditation durch Musik, aber auch Berührungspunkte mit dem Tod, mit der Natur, mit anderen Künsten.

Der Großteil des Albums wurde bereits 2015 aufgenommen, erschien erst jetzt, anlässlich Gigers 70. Geburtstag im August 2022. Allein das eröffnende, 19 Minuten lange  „Guggisberglied“, das Giger alleine auf der Violino d’amore aufgenommen und aus mehreren Schichten bzw. Einzelstimmen zusammensetzt, ist den Preis der CD wert. Schön auch die Fotos im Beiheft, sowie zwei Gemälde des Tiroler Malers Giovanni Segantini, von denen eines sehr der verschneiten Landschaft ähnelt, die ich Anfang Februar 2019 hoch oben in den Schweizer Bergen angetroffen habe, als ich Paul Giger und Marie-Louise Dähler auf 1000 Meter Höhe für dieses Interview/Portrait besuchte. Und wenn ich schon dabei bin: Hier auch noch ein Link zu meinem Interview/Portrait mit dem Fotografen Jan Kricke; es freut mich, dass Manfred Eicher ein tolles Foto von ihm für diese CD ausgewählt hat; Jan schickte mir im Juli erfreut einen Link dazu, als er den Hinweis auf die CD bei Amazon entdeckte.

Ob ars moriendi („Die Kunst des Sterbens“) Gigers bestes Album ist…? Schwer zu sagen – bei der „Konkurrenz“. Auf jeden Fall ist es – neben Ruins and Remains – mein ECM-Highlight in diesem Jahr. Und hat seinen Platz in meiner „Top 10“ sicher.  Und was für ein unbeschreiblicher, fantastischer Klang!

This entry was posted on Mittwoch, 5. Oktober 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

5 Comments

  1. Olaf Westfeld:

    Zwei Tage offline und der ganze Blog ist vollgeschrieben. Das Avishai Cohen Album müsste dieses Wochenende auch bei mir ankommen, bin gespannt darauf.

  2. Michael Engelbrecht:

    Wunderbar, mal eine Ecm-Aufnahme hier besprochen zu finden, die ich noch nicht habe. Seinem Debut bei ECM, Chartres, verdanke ich eine Reise über den Bodensee und eines der eigenartigsten Interviews meines Lebens. Dazu gab es eine 45-minütige Studiozeit im Deutschlandfunk, in der auch die fantastische Platte Alpstein vom Giger / Garbarek / Favre vorgestellt wurde. Long time ago. Und ich lernte die wunderbaren Jungs vom Appenzeller Space Schöttel kennen!

  3. Olaf Westfeld:

    Ich bin einmal nach Chartres gereist und habe eine Woche (Montag bis Freitag) in und um die Kathedrale verbracht, jeden Tag 2 x 3 Stunden Führungen oder so. Wir haben da alles gesehen, waren unten in der Krypta, in der Zwischendecke, auf dem Dach, an allen Portalen, Skulpturen, Fenstern, … und zum Abschluss durften wir am späten Freitagabend alleine in die Kathedrale und konnten durch das Labyrinth gehen. Tolle Erfahrung. Das Giger Album habe ich noch nicht gehört, das wird sich aber irgendwann mal ändern – ohne Eile.

  4. Michael Engelbrecht:

    Avishai Cohen auf Vinyl jetzt, Olaf? Ars Moriendi kenne ich noch nicht. Neben Ruins and Remains sind momentan Avishai und Oded Tzurs Alben meine ECM Top 3. Aber, was Wunder, haben sie noch einige Konkurrenz aus dem eigenen Haus, u.a. John Scofields Soloalbum. Für mich sein bestes Album, aber wenn ich an den Jahresrückblick Jazz im DLF denke, überlasse ich Karsten gerne das Album, Scofield ist sein Terrain.

    Was da wohl meine drei Jazzalben werden im munteren Trio mit Thomas und Karsten? Ähem, eine ECM, dann momentan Alabaster dePlume (versenke mich die Tage noch hinein),- bleibt Nummer 3 … . Mhmmm?!! Womöglich David Virelles und Nuna. Klassealbum. Und Makaya ist ein Grower, eine top 10 Jazz allemal. Und im November ein Duoalbum von Tim Berne und Mat Mitchell.

  5. Lajla:

    Dass hier der Maler Segantini erwähnt wird, ist ehrenvoll. Jahrelang war ich immer wieder in Sils und wanderte auf Nietzsches Spuren hinüber nach Maloja oder zum Haus von Giacometti. Die beiden waren Freunde.

    Ich mag die Landschaftsmalerei von Ferdinand Hodler mehr als die rustikalen Schneeberge von Segantini. “Die bösen Mütter” ist ein bedrückendes, urwüchsiges Gemälde von Segantini, das lange auf meinem Schreibtisch stand.


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