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2022 26 Jun

Kraftwerk, New York

von: Jan Reetze Filed under: Blog | TB | Tags:  | 10 Comments

 

 

Manhattan, Radio City Music Hall, 17. Juni 2022. Seit acht Jahren nicht mehr in den USA gewesen, die für 2020 geplante Jubiläumstour wegen Covid verschoben, aber jetzt sind sie da: Kraftwerk. 1971 sah ich sie zum ersten Mal live, seinerzeit in der Hamburger „Fabrik“ vor vielleicht 50 Zuschauern, die ebensowenig wie ich oder die Band selbst eine Vorstellung davon hatten, was aus diesen Typen einmal werden würde. Damals mussten sie ihre eher bescheidene Anlage noch selbst aufbauen, heute stehen drei Trucks vor der Halle und die transportable Bühne ist speziell für die Band designt.

„Sold out“ sagt das Billboard. Das stimmt wohl nicht ganz, links und rechts sind noch freie Plätze zu sehen, wenn auch nicht viele. Die längste Schlange im fast kathedralartigen Foyer dieser wunderbaren Halle mit Zwanziger-Jahre-Touch steht interessanterweise nicht vor dem Getränke-, sondern bereits eine knappe Stunde vor Konzertbeginn vor dem Merchandise-Stand.

 

 

 

 

Ich habe Kraftwerk im Laufe der Jahre nun achtmal gesehen, mit wirklichen Überraschungen war nicht zu rechnen, und es kommen auch keine. Das Konzert beginnt mit dem üblichen elektronischen Wimmelsound, zwölf Minuten lang, dann der bekannte elektronische Spruch: „Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, heute abend die Mensch-Maschine Kraftwerk“. Nachdem vor acht Jahren der Auftritt mit „The Man Machine“ begann, hat man sich diesmal wieder für „Nummern“ entschieden, wie man es schon 1981 gemacht hat. Nur gab es damals noch nicht die 3-D-Projektion, und die heute synchron zur Musik quer durch den Saal fliegenden Ziffern packen einen dann doch. Besonders eine Viertelstunde später, als zu „Spacelab“ ein Satellit mitten im Raum zu stehen scheint und auf der Leinwand ein Raumschiff vor der Radio City Music Hall landet. Auch wenn man das alles schon gesehen hat: Es funktioniert. Der 3-D-Effekt wird teils sehr plakativ, teils aber auch recht subtil eingesetzt und trägt eine Weile, lässt dann aber nach. Kraftwerk geht es nicht anders als den vor einigen Jahren etablierten 3-D-Kinos: Der Effekt ist nett, ersetzt aber die künstlerische Substanz nicht.

Kraftwerk hat keine neuen Stücke im Programm, und ich bin sicher, dass wir auch keine mehr erleben werden. Ralf Hütter hat sich auf das 1-2-3-4-5-6-7-8-Schema festgelegt, für eine 9 ist da kein Platz mehr. Die Band spielt „Greatest Hits“, wie immer mit subtilen Veränderungen der Arrangements, Hütter greift wie immer ein paarmal die falschen Tasten, seine Stimme ist inzwischen hörbar gealtert (der Mann ist 75, dafür bewegt er sich noch sehr munter), und was die drei anderen Herren an ihren Pulten machen, bleibt wie immer ein Rätsel. Auch die mit den Armen rudernden „Roboter“ haben ihren Auftritt. Auf geheimnisvolle Weise werden sie im Strobelight aus dem Boden hochgefahren, und alle Smartphones leuchten auf:

 

 

 

 

Das gibt der Band die Gelegenheit, für ein paar Minuten von der Bühne zu verschwinden — „pee break“ nennen das die Amerikaner, schließlich sind die Jungs alle nicht mehr die Jüngsten. Das Ganze endet nach rund zwei Stunden mit dem „Taschenrechner“ als Zugabe

 

 

 

 

und der „Music Non Stop“-Routine, die man schon lange kennt: Jeder der Vier hat ein kurzes Solo, nacheinander gehen sie mit einer Verbeugung von der Bühne ab — Ralf Hütter als Letzter, für ihn erhebt sich das gesamte Publikum von den Sitzen.

Was kann man sagen? Die Musik von Kraftwerk ist zeitlos, nicht zuletzt, weil sie immer wieder aktualisiert wurde, ohne dass die Substanz verloren gegangen wäre. Lediglich „Trans Europa Express“ und „Neon Lights“, früher zwei ihrer stärksten Stücke, hängen heute ein bisschen flach in den Seilen, „Autobahn“ ist mehr als nötig gekürzt worden. Ein erstaunlich diszipliniertes Publikum, die meisten Zuschauer 40+, einige hatten ihre Kinder mitgebracht. Ein wunderbarer Abend, schönster Retrofuturismus mit leichtem Augenzwinkern, einzig der Sound war nicht ideal, obwohl Kraftwerk eigentlich gerade dafür bekannt ist — der Bass glich einer Herzmassage und überlagerte etwas unbalanciert die latent verwaschenen Mitten. In der zweiten Hälfte des Konzertes besserte sich dies ein wenig. Einige eingestreute Quadro-Effekte waren wahrnehmbar, gingen aber irgendwie unter, ebenso hatten einige Teile der Projektion Doppelkonturen, die sicher nicht beabsichtigt waren, aber das mag meinem Platz zuzuschreiben sein.

Wer weiß, ob es ein neuntes Mal geben wird.

 

 

 

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10 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wenn ich nur dran denke, dass sie einmal, ganz früh, in ihrer Laufbahn, im Westfalenpark in Dortmund spielten, und ich hin wollte, und es dann doch verpasst habe… ich traue der Magie der ersten Male mehr als dem Perfektionismus der späten Zeit…

  2. Uli Koch:

    Hier gibt auch der scheinbar erhebliche Kontrast zum Ambiente ein interessantes Spannungsfeld ab. Aber wahrscheinlich hast Du recht, Jan, diese Musik ist nicht mehr steigerungsfähig, höchstens mit einer VR-Brille im „Kraftwerk-Paradies“. Dafür ist aber die Experimentierfreude früherer Bandmitglieder noch lange nicht erloschen, wenn ich an die Alben von Wolfgang Flühr und Kalr Bartos denke, die es teilweise echt gut hinkriegen den Kraftwerk-Sound ins Heute zu holen.

  3. Lajla:

    Cool Jan, danke. Bist du als Robot hingegangen? Zumindest mit schmaler, langer Krawatte? Die Jungs geben einige Konzerte in Europa. Ich weiß nicht, auf wie vielen Bob Dylan Konzerten ich war. Der Wiedererkennungseffekt eines Songs machte immer viel Freude, leider aber auch Kopfschütteln, wie beim letzten Konzert in Bonn.

  4. Jan Reetze:

    Nein, Lajla, schlicht in schwarz. Krawatten besitze ich gar nicht mehr, und aus dem Fanboy-Alter bin ich auch langsam raus …

  5. Michael Engelbrecht:

    Na, immerhin schwarz, Jan:)

    Nie sah ich mehr Schwarzgekleidete als bei einem David Sylvian Konzert in Köln.

  6. Jan Reetze:

    Zu Gelegenheiten wie dieser bin ich noch konsequent, ansonsten sehe ich das heute nicht mehr so verbissen. Aber auf seniorenhell umgestiegen bin ich noch nicht.

  7. Michael Engelbrecht:

    Oh, ertappt. Wie das wohl ankommt, wenn ich Montag in Köln mit einem Sombrero bei Nick Cave auftauche!:)

  8. Jan Reetze:

    Als kleine Zugabe hat uns New York dann gleich noch Covid mitgegeben. Bisschen spät eigentlich bereits — die wirklichen Avantgardisten entscheiden sich jetzt für die Affenpocken, aber dafür sind wir nicht modern genug.

  9. Michael Engelbrecht:

    Erstmals grippig seit drei Jahren, bad timing. Ich habe seit gestern Abend kleinen Covidverdacht, Hals, Nase, schlapp – oder nur ein doofer Kurz-Infekt. Heute Test, dann schauen, ob wir zu Nick Cave fahren. Ich glaube, wenn ich es nicht schon habe (Gefühl: 30:70), könnte ich es mir in der vollen Lanxness Arena holen. Konzerte als Spreader. Latebloomer. grhhh. gute Besserung!

  10. Michael Engelbrecht:

    Unten, die Stehplätze vor der Bühne, bis zum Mischpult, voll gedrängt, und normalerweise mein sweet spot in Konzerten, aber gestern schien mir das doch sehr covidinfektionsanfällig. Also waren wir froh mit Sitzplätzen auf dem Unterrang, teuer genug:) – aber es lohnte die Reise.

    Kurz überlegt, neben Nick Cave Tickets auch welche zu besorgen für Father John Misty, momentan mein Album des Jahres, aber, nö, mir reicht das audiophile Doppelvinyl:)

    Bei euch – milder Verlauf? Ich habe einen grippalen Infekt, Test negativ, gestern mit Paracetamol durch den Abend…


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