Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 30 Okt

„Where do you go to …“

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 11 Comments

Bei der Stimme von Dietrich Fischer-Diskau habe ich (auch) stets die Flucht ergriffen, genauso wie bei den Gesängen und Gesänginnen von Adele, Diana, Sting und Bono. Es gibt eine Art edel verpackter Inbrünstigkeit, die bei mir allergische Reaktionen auslöst wie Übelkeit, und ich kann mir kaum Gelackteres vorstellen als das Saxofonsolo von Branford Marsalis auf Stings Song über die Fragilität unseres Daseins. Das Saxofonsolo  von „Baker Street“ kann ich seltsamerweise stets goutieren, obwohl es ja auch von der sehr einschmeichelnden Sorte ist. Dieses Lied von Peter Sarstedt aber, ein one hit wonder, wie es im Buche steht, packt mich immer, und gehört zu den Top 10 meiner „sentimental overkill charts“, in bester Nachbarschaft von einem Song der Walkabouts, einem stets anderen Song von Leonard Cohen (heute ist es das papierdünne Hotel, und morgen der berühmte blaue Regenmantel), zwei Abba-Abräumern, Leo Ferrés „Ton style“, Gary Jules’ Fassung von „Mad World“ (ein guter Grund, wieder mal „Donnie Darko“ anzuschauen), Michael Kiwanukas „Cold Little  Heart“, und zwei Chansons aus dem letzten Album von Jacques Brel. Ich weiss gar nicht, und will auch nicht wissen, wo ich Sarstedts Meisterstück zum ersten Mal gehört habe, für mich könnte es als Schmachtfetzen seinen Weg in einen französischen Spielfilm voller unüberbietbarer Liebeskümmernisse eingeflossen sein. „You got from the Sorbonne / And the painting you stole from Picasso / Your loveliness goes on and on, yes, it does…“ – wundervoll! Eine enttäuschte Sehnsucht schwingt in jeder Sekunde mit, eine Abrechnung mit einer verlorenen Liebe, zugleich die Unmöglichkeit, von ihr zu lassen. The winner takes it all. Ein klarer Fall für einen Traumatherapeuten – aber alle Therapie erledigte sich von selbst, als Peter einst dieses Lied sang, Abend für Abend, Stadt für Stadt, und ein ungebremster stiller Tränenfluss Teile des Publikums en passant flachlegte, entwaffnete (und auch die alte Tante Katharsis bereithielt).

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11 Comments

  1. Jan Reetze:

    Sarstedt — oh ja, wenn man gerade mal in so einer Stimmung ist … Gerry Rafferty, die LP habe ich in rotem Vinyl. Ihr Schicksal war wohl, dass „Baker Street“ alle anderen Songs komplett überstrahlt. Was ein bisschen ungerecht ist, die sind nämlich alle nicht schlecht … no, they aren’t …

  2. Chrissie:

    Where do you go to…
    Habe dieses Lied spontan gehasst. Ein Unterton von Neid und Missgunst in dem Suchen nach etwas das im glamourösen Leben der Verflossenen eben doch beeinträchtigend sein könnte, die erfolgreiche Frau und die Kehrseite der einsamen Nächte, der Männer die sich nur mit ihr schmücken wollen oder ihren Körper geniessen, die in Fürsorge verpackte Aggression eines Verlassenen der ihr nun klarmacht wie verarmt ihr Leben doch wirklich ist und dabei kein billiges Klischee auslässt…gutes Beispiel für genderspezifische Wahrnehmung.

  3. Michael Engelbrecht:

    @ Chrissie ( versuch es mal mit deinem richtigen Namen, du bist ja sicher nicht die Lady, die Ray Davies das Herz gebrochen hat:) – eher tippe ich auf eine Würzburger Kommilitonin aus der psychoanalytischen Ecke.)

    Das stimmt zum Teil, was du schreibst. Aber der Boden ist ein doppelter, mindestens: es schwingt auch eine hellere Seite mit, etwas, das sich aus Erstarrungen löst. Insofern ist das Lied auch Seelenfutter (und ganz sicher nicht wirkkich dazu da, Selbstmitleid und Verbitterung zu befördern). In Melodie und Klang ist es einfach ein hinreissender Lovesong, der erst durch den Text einen Schatten nach dem anderen produziert – und Schatten können durchlebt werden. Vielschichtiger Stoff.

  4. Chrissie Hartung:

    Das schöne Würzburg kenne ich , da aus Bayreuth stammend, für eine Kommilitonin ihrerseits bin ich wohl noch etwas zu jung und Psychoanalyse fand ich immer etwas out of time ohne sie gut zu kennen, daher nehme ich wohl die Vielschichtigkeit des Songs nicht wahr. Oder die Vielschichtigkeit der Männerseele.Textlich ist es wenig differenziert, reiht ein Klischee ans andere ohne eines davon weiterzuführen oder zu vertiefen und das dahinterstehende Narrativ von der Lumpenprinzessin und dem zurückgelassenen Schweinehirten schrammt für mich hart am Kitsch vorbei. Musikalisch kommt es etwas lässig – launig daher, das wäre ein Pluspunkt. Aber insgesamt platt….

  5. Michael Engelbrecht:

    Das war jetzt aber ziemlich ironisch, mit der Männerseele und so.

    Wie interessant, unsere verschiedenen Wahrnehmungen! Dabei ist das natürlich dieser Song ein launiges Spiel mit Kitsch und Klischees, aber eben mit einem souveränen Sieg für die Seite der Kunst.

    Wie einst der Film Casablanca: das war auch ein Festival des Kitsches (fast jedes einzelne Thema betreffend), und doch ein unvergessliches Meisterwerk. Umberto Eco schrieb mal einen interessanten Essay dazu.

    Immerhin lag ich mit Bayern richtig, hatte ich doch ein Münchner Mädl aus alten Studienzeiten im Hinterkopf. Um Bayreuth machte ich schon allein wegen der Wagner-Aufführungen einen weiten Bogen. Richard W. war mir erst spontan ein Greuel, und später ein reflektiertes.

    Zwei wunderbare Menschen aus Bayreuth kennen ich allerdings doch, die arbeiten bei der Kriminalpolizei.

    Der Peter Sarstedt Song bleibt mir hingegen erhalten, bis heute, als ein wundervoll sich schlängelnder Lovesong, mit Abgründen, Tiefe, und schönem Kitsch. Let‘s call it guilty pleasure. Stell ich gleich neben Ralph McTell …

    …. und seine Streets of London😉

  6. Chrissie Hartung:

    Ja, so mancher hat da schon erfolgreich den Kopf aus der Kitschschlinge gezogen indem er es nachträglich als Satire deklarierte oder als Spiel mit den Abgründen des Kitschs. Nee, nee, der Trick ist zu alt….

  7. Michael Engelbrecht:

    Also, ich glaube, weder Peter S. noch ich ich haben den Kopf aus der K-Schlinge gezogen. Und es ist auch kein alter Trick im Spiel. Songs sind ja immer auch Projektionsflächen: ganz viel legt man da an eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen hinein (bevor man auf die Details eines Songtextes achtet).

    Also: ich kenne auch Frauen, klug, und feministisch unterwegs wie du, Chrissie, die den Song einfach sehr mögen.

    Und: der gute Peter Sarstedt ist ja nicht unbedingt identisch mit dem lyrischen / singenden Ich des Songs. Was hat Randy Newman auf die Fresse gekriegt, als er einst den Songs über kleinwüchsige Menschen sang. Als Sänger kannst du nun mal in diverse Rollen schlüpfen.

    Und: So viele Frauen wie Männer lieben den Song EVERY BREATH YOU TAKE von Sting, und projizieren da eigene positive, dahinschmelzende Empfindungen hinein, ohne zu realisieren, dass es sich bei dem singenden Ich eigentlich um einen knallharten Psycho / Stalker handelt.

    ….

    Aber mit wem führe ich hier eigentlich dieses Gespräch? Da du also nicht jene Kommiltonin / Psychoananalytikerin bist, in deren Bett ich einst, in noch recht frischem Liebeskummer, gelandet bin (und die hier mal eine Zeitlang postete), während ein Stockwerk höher „meine Marie Claire“ mit einem Rechtsanwalt namens Clarence vögelte und dann tatsächlich in der JetSetSchickeria abtauchte, eine Weile… wie kommst du eigentlich zu diesem Blog, der absichtlich weit unter dem Radar seine Kreise zieht?

    Da bin ich neugierig, Chrissie, oder Christiane, oder soll ich Frau Hartung sagen. Heisst der Mann an deiner Seite übrigens Sven? Einen Sven Hartung hatten wir hier schon mal.

    Also, meine Fantasie: du bist irgendwann über Google auf diesem Blog gelandet, weil es da vielleicht um einen Jazzmusiker ging, der dich interessierte.

    Ansonsten unterrichtest du an einem Gymnasium in Bayreuth, treibst regelmässig Sport für die Fitness (Joggerin), hast die Grünen gewählt, machst am liebsten Urlaub in der Toskana, Sternzeichen Zwilling, Aszendent Widder.

    Wieviel Wahreheit steckt nun in diesen gesammelten Klischees?!😂

  8. Chrissie:

    Ein Hang zum Sentiment steckt wohl auch im Mann, wie ich sehe. Gut wenn ers zugibt und nicht hinter Wortgeklingel versteckt. Zudem denke ich dass das Schlüpfen in andere Rollen bei jedwedem Kunstschaffenden immer nur unvollständig gelingt – ein Stück Eigenes ist immer zu finden, meist sogar das Hauptthema des jeweiligen Lebens. Und je mehr mans verbergen will umso mehr bricht sichs Bahn…
    Mein Mann liest hier mit ( heisst aber nicht Sven), interessiert sich für Musik und neue Literatur und bloggt gerne, wahrscheinlich ist er über jemand Schreibenden unter Euch auf die Manafonistas gestossen.
    Ansonsten: Lehrerin, Grüne, Bayreuth, Joggen…🤮

  9. Chrissie:

    Der kleine gelbe Punkt am Ende meiner Ausführungen ist ein Würg – Smilie!

  10. Michael Engelbrecht:

    Und beim Sternzeichen lag ich auch falsch?!

    https://www.youtube.com/watch?v=8bfyS-S-IJs

  11. Chrissie:

    Yepp!
    Steinbock mit Aszendent Weissderteufel!
    Aber die Gesamteinschätzung war zumindest in sich stimmig, chapeau!


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