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2020 26 Feb

Hartmut Hintersacher

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags: , | 3 Comments

Nachdem Hartmut Hintersacher nun endlich die vom Kulturamt vorgeschriebene Anzahl guter Bücher gelesen hatte, wobei es ja starke innerparteiliche Diskussionen gab, welche genau das seien, stellte er den Antrag auf Zuweisung einer Netflix-Serie. Nachdem das bedingungslose Grundeinkommen im Jahre 2024 endlich eingeführt worden war und den Entwicklungen der digitalen Arbeitswelt Rechnung trug, ging mit diesem Einkommen auch die Berechtigung zur grenzenlosen Teilnahme am Kulturbetrieb einher. Ein jeder Bürger der neuen Ordnung musste sich aber verpflichten, eine bestimmte Anzahl an Romanen oder Sachbüchern zu lesen, nicht zuletzt auch einer neurophysiologischen Prophylaxe wegen, denn es hatte sich gezeigt, dass ohne diese Praxis Areale des Gehirns schlichtweg verkümmerten. Der Einstieg zurück zur Literatur fiel Hartmut zunächst schwerer als gedacht, denn sowohl das Alter als auch eine dramatisch nachlassende Einbildungskraft taten ihr Übriges. Dies zählte zur Vielzahl toxischer Nebenwirkungen der Digitalität, für die noch keine hinreichende Verpackungsbeilage jemals geschrieben wurde, allenfalls annähernde Versuche stattfanden. Vor Jahren schrieb einmal Frank Schirrmacher sein Payback, lange vorher schon mahnte Dietmar Kamper ein „Verschwinden des Körpers“, und ein Herr Precht formulierte in Jäger, Hirten, Kritiker die Problemlage ganz prächtig. So folgten unausweichlich grosse Umwälzungen, in einer Welt, in der die Arbeit grösstenteils von Robotern geleistet wurde. Hartmut Hintersacher hatte nun die Erlaubnis bekommen vom Komitee zur Vermeidung sinnlos verglotzter Lebenszeit, nun doch endlich auch mal wieder eine Fernsehserie zu schauen und die Wahl fiel, hilfreichen Hinweisen folgend, auf eine Perle aus dem Jahre 2019 mit dem Titel Giri / Haji, immer noch nachhaltig sehenswert. Hintersacher rieb sich die verträumten Augen, nahm die Schlafmütze vom Kopf und schnäuzte sich damit die verschnupfte Nase. Warum nur, stellte er erneut fest, spielte sowas stets in einer völlig anderen Liga als die nationale Fernsehkost daheim? Das war ja wie ein Wechsel von Schwarzweiss zu Farbe, damals in der Urzeit medialer Technik! Überhaupt gehörte er ja noch einer Generation an, in der man sich beim Gehen nicht das Smartphone vor die Nase hielt und auch im Supermarkt an der Kasse nicht lauthals in das Handy rief, ob noch Eier fehlten und zuhause auch ausreichend Wurst im Kühlschrank war. Nun gut, es gab genügend Grund, sich aufzuregen, aber eben auch den Stoff, aus dem die Träume sind. Da Hartmut inzwischen serienmässig hochgebildet war, auch an der Abendschule schon einige Kurse besucht hatte für fachgerechte Rezensionen, die von Bloggern aller Klassen sehr beliebt waren, kamen ihm natürlich schnell Vergleiche in den Sinn. Fargo etwa oder das einst so bahnbrechende  Breaking Bad. Der in Giri / Haji zwischen Brüdern gesprochene Satz „We aren´t bad people, we only did bad things!“ – klar, der kam auch schon in Bloodline vor, jener Geschichte, die auf den Florida Keys spielte und auch von auf Abwegen wandelnden Geschwistern erzählte. Worum ging es? Zwei Brüder, der eine Cop, der andere Gangster; Familiengeschichten; kleine und grosse Liebesaffairen; vorzügliche Bilder aus den hippen Städten London und Tokio, überhaupt: Japan; vielschichtige Charaktere, wie sie auch in guten Romanen vorkommen; Comic and Comedy; grafische Effekte und geniale Spielereien; Tanzeinlagen; exquisite Soundtracks – um nur Einiges zu nennen. Ja, das alles hatte Hartmut nun den Feierabend verschönert, er hatte ja trotz Grundeinkommens immer noch seinen Fulltimejob. Beim Komitee zur Vermeidung sinnlos verglotzter Lebenszeit würde er nun bald erneut einen Antrag stellen, in ein paar Wochen, nach vorgewiesener Buchlektüre. Better Call Saul 5 etwa stand auf dem Programm, auch so eine alte Kamelle, immer noch gut. Und Bücher? Ja, da gab es Vieles, das zu lesen vielversprechend war, von Botho Strauss etwa.

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3 Comments

  1. Lajla:

    Solange Hintersacher noch unterscheiden kann, dass da gerade flying toasters über den Screen flimmern und nicht Sloterdijk durch sein philosophisches Quartett radelt, und wenn er, Hintersacher, nach „Bad Banks“ sich weigert, noch einmal eine Bank zu betreten, dann ist doch „die sinnlos verglotzte Lebenszeit“ eher eine Schule fürs Leben.

  2. Michael Engelbrecht:

    Es gab immer schon einen furchtlosen Underground, der sich zwar nicht der Zahl der zu lesenden guten Bücher widersetzte (das akzeptierte man), aber über „The Heavenly Book Corporation“, eine Versammlung humorvoller Atheisten und Humanisten, die kanonische Liste aushebelte und schliesslich sage und schreibe 2500 Bücher durchsetzte, die, murrend zwar, aber dann doch offiziell akzeptiert wurden.

    Der wilde Mix, der dabei zustande kam, lockte immer neue Interessenten an: Heinrich Spoerls „Der Maulkorb“ stand neben Ernst Augustins „Eastend“, Robert Louis Stephensons „Kidnapped“ neben Angie Kims „Miracle Creek“, Peter Hellers „Dog Stars“ neben Mark Twains „Leben auf dem Mississippi“. Übrigens, dieses 1883 in den USA und Grossbritannien veröffentlichte Werk war das erste, bei dem der Autor ein mit Schreibmaschine geschriebenes Manuskript an den Verlag sandte.

  3. Jochen:

    Nice replications.

    There also was the flow-movement – non-violent but radical ;)


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