Manafonistas

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2019 7 Nov

so lange mond in wein tunken, bis

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 3 Comments

 
 
 

Das Cover in Signalfarben, irreal. Als würde man ein tanzendes Paar durch ein seltsam geformtes Schlüsselloch in einer Traumwelt betrachten – oder in einer Vergangenheit, in einer Zukunft, als Ideal oder als Horrorbild. Alles ist möglich. Kill-your-darlinge ist das Lyrikdebüt von Julia Grinberg, das Anfang September im Frankfurter Gutleut Verlag erschien. In Grinbergs Vita finden sich Namen von Staaten, die es nicht mehr gibt: Geboren in der UDSSR, aufgewachsen in der DDR, lebt in der BRD. Es gibt einen russischen Touch in ihrer Aussprache, ich habe die Autorin lesen gehört und ich kann mir ihre Stimme vorstellen, während ich ihren Gedichtband lese. Es gab, in den Siebzigern ff., die Diskussion, ob anhand eines Textes das Geschlecht des Schreibenden erkennbar ist. Grinbergs Gedichte sind existenziell, kraftvoll, frisch, stark, lässig, authentisch, mutig, klug, cool, verspielt, selbstbewusst und humorvoll; das lyrische Ich ist ausgeprägt, oft dezidiert weiblich, und es steht in heftiger Auseinandersetzung mit dem, was man die Realität nennt, also mit allem, was so ansteht. Dichtung ist hier spürbar Notwendigkeit. Von Text zu Text verwandelt das lyrische Ich zwar vielleicht nicht seine Umgebung, aber ganz sicher sich selbst. Oder, wie es in dem sehr gelungenen Zyklus in der Mitte des Buches heißt: so lange mond in wein tunken, bis / eine lieblose welt sich galvanisiert. Wie die in einem Gedicht genannten literarischen Referenzen (Bukowski, Houellebecq, Jelinek) nimmt Grinberg in ihren Gedichten kein Blatt vor den Mund.

 
 
 

los, verzieh dich

 

für mich bist du endlich gestorben. gebe dir ein paar tage, bis

deine reste an meinen beinen entlang triefen. es ist zeit, sich

der arbeit zu widmen.

 

wäre gut, einen job aufzunehmen, wo meine marotten nicht

sofort sichtbar sind. die polizei zum beispiel ist ausgeschlossen.

da, wo ergebnisse vorzuweisen sind, darf ich nicht dran. eine

krähe balanciert auf dem zypressezweig, dafür habe ich wörter.

ich stelle mir die autorin eines engelsbuches als rundäugige

engelin vor. ich kann unwichtiges, unnötiges. ich kann nachgeben:

aus güte oder gleichgültigkeit.

 

ein radfahrer traut sich nicht, auf einem engen pfad mich zu

überholen. irgendwann wagt er es. ich bin an der reihe, seinen

hübschen hintern zu betrachten. nun sind wir gegenseitig zufrieden.

 
 
 

Die kleine grammatikalische Unkorrektheit im letzten Satz („gegenseitig zufrieden“ statt „beide zufrieden“) gibt der Aussage einen ungewohnten Nebeneffekt. Ich mag die Stellen, in denen der poetische Mehrwert durch Widersprüchlichkeit einer Aussage hergestellt wird: es ist traurig oder auch nicht / nacht zu begehen wie einen kleiderschrank. Oder das Spiel an der Bar mit Wörtern: sich an der bar präsentieren, schön, lächelnd. / kristall, vasen, vasektomie. Und etwas später, wir befinden uns immer noch im Zyklus mond in wein tunken, ein  ganzes Gedicht, das nur aus Subtext besteht und so beginnt: silberne nadel spießt schläfen auf.

Das tanzende Paar. Eine ausgebleichte oder eine bearbeitete Fotografie. ich prüfe meine kraft, spüre ihren willen, schreibt Grinberg. Das Bild auf dem Cover taucht noch mehrmals im Innern des Buches auf, Schwarz-weiß. Die Silhouette der Frau ist dunkelgrau und kleiner als die des Mannes. Auf einem der Bilder scheint etwas anders zu sein, ich kann nur noch eine Person darauf erkennen. Vielleicht hat das Paar auch nur aufgehört zu tanzen.

This entry was posted on Donnerstag, 7. November 2019 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

3 Comments

  1. Jochen:

    Herrlich, die Szene mit dem Radfahrer.

    „Look at all the peaches, how do you celebrate?“ (Aldous Harding)

  2. alke stachler:

    oh, das freut mich gerade sehr, deine rezension zu lesen, martina! ich habe den band hier neben mir auf dem bett liegen, mag ihn sehr, in all seiner liebevollen, kratzigen, trotzigen sanftheit …

  3. Michael Engelbrecht:

    An einem Buch von Jelinek oder Houellebecq bin ich nie dran geblieben, aber ich hatte in Scheveningen am holländischen Meer einen leicht betrunkenen Nachmittag verbracht, mit Bukowski und der Frage, wieso mir seine Gedichte damals besser gefielen als die Vorstellung eines Dreiers mit einer späteren Kabarettistin und einer noch späteren Bildenden Künstlerin. Es war natürlich eine Frage der Chemie, und deshalb rettete mich an jenem Nachmittag, neben dem Lyrikbändchen, der Abstecher in eine Imbissbude, in der Paul McCartney und seine Frau Linda, die ich immer gerne sah auf Fotos, ihren Hund Jed besangen. Ich war keine 20.
    Und jetzt denke ich, das wird wohl das erste Jahr seit Ewigkeiten und einem Buch von Jürgen Becker aus der alten BRD sein, an dem ich mich wieder auf mehr als einen Gedichtband in zwölf Monden freue – nach Martinas Buch nämlich dieses hier. Nicht die grossen Namen punkten, sondern die Besprechung und Beflüsterung, das Cover, seine angedeuteten Variationen, und die Kostproben, die im Kopf rumgehen könnten, wie damals der Song von Paul.


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