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2019 21 Apr

Gregor öffnet seinen Platten- und Bücherschrank (187)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 2 Comments

Am 16. April wurden die diesjährigen Preisträger des Pulitzer Prize bekannt gegeben. Mit großer Freude konnte ich lesen, dass Richard Powers für seinen Roman “The Overstory“ (“Die Wurzeln des Lebens“) den Preis in der Kategorie Belletristik gewonnen hat. Kürzlich erst habe ich dieses Buch gelesen und ihm viele Leser gewünscht. Wieder einmal hat Powers einen großartigen Roman geschrieben, der nicht nur der Unterhaltung dient, sondern aufrütteln soll, es ist ein Plädoyer für Bäume. Und man lernt sehr viel über Bäume in diesem Buch. Powers hat sich einmal mehr in ein weiteres Thema gründlich eingearbeitet. Stellenweise erinnert der Roman an ein Sachbuch über Bäume, was durchaus positiv gemeint ist. Im Oktober 2015 habe ich im Zusammenhang mit Olivier Messiaen seinen Roman Orfeo (Frankfurt 2014) empfohlen, auch ein ganz großer Roman, in dessen Mittelpunkt die Musik steht. Erinnert sei auch an seine Werke „Das Echo der Erinnerung“ und „Der Klang der Zeit“. Nun erschien Ende letzten Jahres “Die Wurzeln des Lebens“. Powers, geboren am 18. Juni 1957 in Evanston, Illinois, möchte in diesem Buch zeigen, dass der Mensch, der sich doch so gerne für die Krone der Schöpfung hält, gerade dabei ist, seine eigenen Existenzgrundlagen zu zerstören. Seine Profitgier macht ihn blind, sodass er den Zusammenhang von Mensch und Natur nicht mehr sieht. Er nimmt nicht mehr wahr, dass alles miteinander verwurzelt ist und wir – die Natur und der Mensch voneinander abhängig sind. Obwohl – streng genommen braucht uns die Natur nicht, aber wir sie, um atmen und leben zu können.

 
 
 

 
 
 

Wenn man den 624 Seiten umfassenden Roman aufschlägt und zu lesen beginnt, meint man zunächst einen Band mit Erzählungen vor sich zu haben oder einen zweiten “Wolkenatlas“ (David Mitchell). Powers hat seinen Roman in vier Großkapitel unterteilt, die zusammen genommen einen Baum darstellen: Beginnend mit den Wurzeln, dann der Stamm, gefolgt von der Krone und schließlich die Samen. Im Großkapitel “Wurzeln“ werden uns zunächst ganz unterschiedliche Geschichten erzählt, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, außer, dass sie alle irgendwie Bäume thematisieren. Da lesen wir etwa von Nicholas Hoel, Urururenkel von John, dessen Vater einst Norwegen verlassen hat, um in Iowa ein neues Leben zu beginnen. Auf dem Gebiet seiner Farm pflanzte er einen Kastanienbaum, der für seine Familie eine besondere Bedeutung haben sollte. Er begann die Tradition mit seiner Kamera von einem bestimmten Standpunkt aus jeden Monat ein Foto von diesem Kastanienbaum zu fotografieren. Dieses Ritual wurde von seinen Kindern und Kindeskindern fortgeführt, bis schließlich 900 Baum-Fotografien das Leben dieses einen Baumes zeigen. Nicholas Hoel wird dieses 900-Fotografie starke Daumenkino in seinen Händen halten, als er die am Ende heruntergekommene Farm seiner Vorfahren ausräumen muss. Eine andere Geschichte handelt von Neelay Mehta, der gelähmt im Rollstuhl sitzt, weil er als Junge vom Baum gefallen ist. Jetzt arbeitet er als Entwickler von Computerspielen, in denen die Natur eine wichtige Rolle spielt, die Geographie, das Klima, die Rohstoffe. Die Gegenspieler: Konquistadore, Immobilienhaie, Technokraten usw. Oder die Erzählung von Patricia Westerford, einer Biologin. Sie entwickelt eine Theorie vom Wald als einem sozial interagierenden System. Natürlich macht sich alle Welt über sie lustig, viel später allerdings sollten ihre Texte zumindest unter Umweltschutzaktivisten Anerkennung finden. Fünf weitere Geschichten werden uns in diesem ersten Teil des Romans erzählt, bevor sie sich alle im Großkapitel “Stamm“ miteinander verbinden, um sich in der Krone wieder voneinander entfernen.

Richard Powers hat in seinem Buch durchaus reale Ereignisse aus den Neunzigerjahren verarbeitet, damals gab es in den USA tatsächlich hartnäckige Baumbesetzungen, großangelegte Aktionen gegen Kahlschläge, gegen Holzfirmen und riesige Demonstrationen. Mich erinnert all das an ein Ereignis, das erst vor ein paar Monaten die Nation bewegte: Der Kampf um den Hambacher Wald. Und, vor ein paar Jahren gab es mitten in Stuttgart eine Menge Menschen die um den Erhalt Bäumen kämpfte, es ging im Zusammenhang von Stuttgart 21 um mehr als 280 alte Bäume, mit bis zu fünf Metern Stammumfang, die gefällt werden sollten und nun auch längst umgehauen worden sind. Johannes Kaiser besprach für DeutschlandRadio-Kultur das Buch und kam zu dem Schluss: „Powers ist erneut das Kunststück gelungen, Forschungsergebnisse in aufregende und faszinierende Literatur zu verwandeln. Und er stellt dabei die grundsätzliche Fragen nach unserer Verantwortung für die Natur, nach Solidarität, Opferbereitschaft, Freundschaft und Empathie. „Wurzeln des Lebens“ ist ein poetischer Roman, der berührt, fasziniert, erschreckt und staunen macht.“

Musik spielt in diesem Roman übrigens keine Rolle, jedenfalls nicht Musik im engeren Sinne verstanden, John Cage würde natürlich überall Musik entdecken: im Rauschen des Waldes, im Klang der Kettensäge, im Pfeifen des Windes und im Trommeln des Regens. Mich erinnert all das an eine Sendung von Michael, als er vor zwölf Jahren, am 8.Januar 2007, in seinen Klanghorizonten eine geniale Zusammenstellung zweier Platten präsentierte, diese Komposition ist für mich der Soundtrack zum Buch Zunächst wurde von “Chris Watson – BJ Nilsen“ aus der CD “Storm“ das über fünfzehnminütige Stück “Austrvegr“ gespielt und im Anschluss daran legte Michael die damals gerade erschienene Platte “Fly High Brave Dreamer“ von Chris und Carla auf.

 
 
 

 
 
 

Ein Zitat aus dem Buch zum Schluss:

„ … ich schlage eine Faustregel vor: Wenn Sie einen Baum fällen, dann muss das, was Sie daraus machen, mindestens so großartig sein wie das, was Sie zerstören“ (S.559)

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2 Comments

  1. Jochen:

    Sehr interessanter Buchtipp, danke.

    I love (brilliant) trees :)

  2. Gregor:

     
    Ein Text aus dem Buch:
     

    „Stellen wir uns vor, der Planet wird um Mitternacht geboren, und seine Lebensspanne beträgt genau ein Tag.

    Zuerst ist da nichts. Zwei Stunden vergehen allein mit Lava und Meteoren. Leben zeigt sich erst gegen drei oder vier Uhr morgens. Und auch da sind es nur die einfachsten selbstreplizierenden Bausteine. Von der Morgendämmerung bis zum späten Vormittag – eine Million Millionen Jahre Verzweigungen – nichts als simple, schlichte Zellen.

    Dann ist da alles. Etwas Unglaubliches geschieht, kurz nach Mittag. Eine Variante dieser einfachen Zellen versklavt einige andere. Zellkerne bekommen Membranen. Zellen entwickeln Organellen. Was anfangs ein Zeltplatz für einen war, entwickelt sich nun zur Stadt.

    Der Tag ist zu zwei Dritteln um, als die Wege von Pflanzen und Tieren sich trennen. Und trotzdem besteht das Leben immer noch nur aus Einzellern. Es wird schon dunkel, als sich die ersten komplexeren Zellgebilde zeigen. Alle größeren Lebensformen und Spätankömmlinge, stellen sich erst nach Einbruch der Dunkelheit ein. Neun Uhr abends beschert der Welt Quallen und Würmer. Später in derselben Stunde beginnt das Gewimmel – Rückgrat, Knorpelgewebe, eine Explosion der Körperformen. Von einem Augenblick auf den anderen sprießen überall in der sich immer weiter ausbreitenden Krone neue Äste und Zweige und wachsen in rasendem Tempo.

    Um kurz vor zehn ziehen die ersten Pflanzen an Land. Dann Insekten, die sich sogleich in die Lüfte erheben. Augenblicke später kommen Landwirbeltiere aus dem Schlamm am Gezeitensaum gekrochen und bringen auf ihrer Haut und in ihren Eingeweiden ganze Welten aus älteren Geschöpfen mit. Als es elf schlägt, ist die Zeit der Dinosaurier schon vorbei und sie übergeben das Kommando für eine Stunde an die Säuger und Vögel.

    Irgendwo in diesen letzten sechzig Minuten, hoch oben, fast am oberen Rand des stammesgeschichtlichen Blätterdachs, entwickelt das Leben Bewusstsein. Die Geschöpfe fangen an zu spekulieren. Tiere bringen ihren Kindern bei, was Vergangenheit und Zukunft sind. Tiere lernen, wie sie Rituale abhalten.

    Der im anatomischen Sinne moderne Mensch taucht vier Sekunden vor Mitternacht auf. Erste Höhlenmalereien gibt es drei Sekunden darauf. Und im Tausendstel eines Klicks des Minuten-zeigers löst das Leben das Geheimnis der DNA und macht sich erstmals ein Bild vom Baum des Lebens.

    Als die Mitternacht kommt, besteht fast der gesamte Erdball aus Monokulturfeldern, zur Erhaltung und Ernährung einer einzigen Spezies. Und das ist der Moment, in dem sich der Baum des Lebens von neuem verwandelt. Der Augenblick, in dem der mächtige Stamm ins Wanken gerät.“

     

    Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens / Frankfurt 2018 S. 585f


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