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2018 5 Mai

Auf der Suche nach den fehlenden Sechstausend. Das „Jahrbuch der Lyrik 2018“ ist da!

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Comments off

Vor ein paar Tagen hat Schöffling & Co. die Belegexemplare verschickt, Honorare gibt´s keine, aber das macht nichts, denn im Jahrbuch der Lyrik vertreten zu sein, hat immer noch etwas von einer Adelung und ich erinnere mich an T., mit dem ich viele Jahre lang im Austausch stand und der mir einmal – er tendierte gern zum Pathos – schrieb: „erst jetzt, wo ich im Jahrbuch bin, kann ich mich wirklich als Dichter bezeichnen.“ Seit 1979 ist Christoph Buchwald ständiger Herausgeber des Jahrbuchs (das eine Zeitlang nur alle zwei Jahre erschien) und lässt sich bei jeder Ausgabe auf Diskussionen mit einem anderen Copiloten ein, in diesem Jahr Nico Bleutge. Und das sind die Regeln: Einreichen darf jede und jeder maximal zehn Gedichte, die (noch) nicht in einem eigenen Gedichtband veröffentlicht sind. Nachdem die Herz-Schmerz-Texter mit dem Einsenden aufgehört haben, sind es, so Christoph Buchwald, pro Jahr 600 bis 900 Einsendungen, also bis zu 9000 Gedichte, von denen in diesem Jahr 119 Lyrikerinnen und Lyriker ausgewählt wurden, die meisten mit einem, wenige mit mehreren Gedichten. Der Auswahlprozess ist von Offenheit und Unbefangenheit geprägt („keine Rücksichtnahme auf Freunde, Verwandte, Verlagsangehörige, Geliebte oder bestimmte lyrische Schulen“) und dies sei, so Christoph Buchwald in einem seiner beliebten Selbstinterviews im Nachwort, einer der Gründe dafür, dass das Jahrbuch überlebt habe. Da die Lyrikszene klein ist, hat das Jahrbuch etwas von einem virtuellen Klassentreffen. Ich habe das Buch schon fast durch und gerate immer wieder ins Staunen, wie einzelne Bekannte, die sich seit Jahren auf eine bestimmte Poetologie festgelegt zu haben schienen, diese ändern, Haken schlagen, oder wie andere, mit deren Texten ich bisher nichts anfangen konnte, mir gerade jetzt in einem anderen Licht erscheinen und für meine eigene Arbeit plötzlich absolut notwendig werden. Musiktipps gibt´s auch, bei Ulf Stolterfoth werden die throbbing gristle erwähnt, und die bow bells. Die Themen? Nun, in Gedichten geht es eher weniger um benennbare Themen, eher geht es um alles oder jedenfalls um etwas, was man nicht direkt benennen könnte,  – das macht die Magie ja aus. Und Trends? Nico Bleutge schreibt in seinem Nachwort, ein großer Impulsgeber seien innere und äußere Landschaften. Liebesgedichte fand ich eher wenige; das Thema scheint durch (kleiner Witz). Unter die Haut ging mir die Anschaulichkeit in der Abstraktheit im Liebesgedicht von Nadja Küchenmeister („es beginnt mit einer hand, die um einen schlüssel wächst./ es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür.“). Ja, und Grenzen werden ausgelotet, zur Prosa, zum Essay und bis in die Wortlosigkeit hinein, mit der Oswald Egger die inhaltliche Spannung seines „insichdichteste(n) Gedicht(s)“ mittels Klammern und kleinen Häkchen wie mit einem selbstgeschaffenen musikalischen System veranschaulicht. „Die Poesie riecht zu sehr nach Poesie. Die Philosophie zu sehr nach Philosophie. Die eine wie die andere leiden an einer schrecklichen Redundanz. Geziertheit des Verbs, Geziertheit in der Tiefe. Beide langweilen uns gleichermaßen.“ Dies schreibt Jean Baudrillard in seinem poetischsten Buch, den Cool memories 1980-1985, einer Sammlung meist kürzerer Statements mit alltäglichen Beobachtungen und Gedanken, geschrieben im Stil der Freiheit eines Blogeintrags, dem die Zahl der clicks egal ist. Der Vorwurf Baudrillards trifft das aktuelle Jahrbuch eher nicht. Nach der Auswahl der Gedichte steht für das Herausgabeteam die Frage nach der Anordnung der Texte im Buch an. Die Anordnung in sieben Kapitel und die Korrespondenzen zwischen Gedichten, die nebeneinander stehen – das ist sehr fein austariert. In einem achten Kapitel findet sich eine Auswahl an übersetzten Gedichten, fast alle aus dem Englischen. Dass schon immer mehr Gedichte geschrieben als gelesen werden, ist bekannt. In Buchhandlungen gibt es immer weniger Gedichtbände und selbst nach Lesungen, die größeres Publikum anziehen, werden kaum Gedichtbände verkauft. Die Auflage des ersten Jahrbuchs der Lyrik (1979) betrug 8000. Vom aktuellen Jahrbuch wurden 2000 Exemplare gedruckt. Christoph Buchwald schreibt dazu in seinem Nachwort: „Was ist an vermutetem gleichbleibenden Interesse an Gedichten an die Stelle des stillen Lesens eines Gedichtbandes gekommen (und sei´s auf dem E-Reader oder Tablet)? Und warum?“

 

 

 

 

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