Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2016 10 Mai

Die Graue Stunde

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Comments off

M. sagt, die Leute im Mittelalter schliefen anders als wir. In Kapitel drei ihres Romans streicht sich E. die Haare aus dem Gesicht, schleicht nachts in den Innersten Teil der Bibliothek seines Arbeitgebers, und malt, Buchstabe für Buchstabe, ein Buch ab, das eine geheime Botschaft enthalten soll. Dabei will er natürlich unentdeckt bleiben. Ja, wie schliefen sie denn? M. lacht. Sie gingen schon gegen acht Uhr ins Bett, um diese Zeit war es die meiste Zeit im Jahr dunkel, es gab dann nichts außer der Nacht. Und sie wachten vier Stunden später auf. Das war ein allgemeines Phänomen. Und dann? Sie standen einfach auf, trafen sich, vielleicht erstmal in der Küche, und dann redeten sie. Beginnen nicht die interessantesten Treffen einer Party in der Küche? Es ist die Unverbindlichkeit, die den Reiz ausmacht. Was mussten das für Gespräche gewesen sein, halbdokumentarisch, nah an der Trance. Im Bibliotheksraum stand ein Tisch mit einer roten Decke, darauf war eine Kristallkugel platziert. E. spielte das Medium für seinen Arbeitgeber, es war Teil seines Jobs. Wenn dieser ihn rief, kniete E. sich vor die Kugel, hielt seine Hände darüber, schloss die Augen. Die Engel flüsterten ihm etwas zu. Und er sprach es nach. Auch die Worte, die er nicht verstand. Irgendwo musste es die Sprache geben, die so stark war, dass sie etwas erschaffen konnte. Sie redeten eine Stunde, jede Nacht, und gingen dann in ihre Betten zurück. M. entschuldigte sich, sie musste los, die U-Bahn wartet nicht.

This entry was posted on Dienstag, 10. Mai 2016 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

Sorry, the comment form is closed at this time.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz