Manafonistas

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2015 16 Okt

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (101)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 14 Comments

John Cage: Organ²/ASLSP  (Teil 1)

 
 

Drei Zitate von John Cage:

 

„Ich verstehe nicht, warum Leute Angst vor neuen Ideen haben, ich habe Angst vor den alten.“

„Die Musik, mit der ich mich beschäftige, muss nicht unbedingt Musik genannt werden. In ihr gibt es nicht, woran man sich erinnern soll. Keine Themen, nur Aktivität von Ton und Stille.“

„Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, versuche es vier Minuten lang. Dann sechzehn. Dann zweiunddreißig. Schließlich entdeckt man, dass es überhaupt nicht langweilig ist.“

 

Heute ziehe ich aus der Abteilung „John Cage“ ein ganz besondere CD aus dem Plattenschrank: Organ²/ASLSP, eine Aufnahme von Christoph Bossert & Hans-Ola Ericsson aus dem Jahre 2005. Mit dieser CD wollen die Musiker auf das John-Cage-Projekt in Halberstadt aufmerksam machen. Von diesem Vorhaben in der kleinen Stadt am Harzrand hörte ich zum ersten Mal über die Beschäftigung mit der Long-Now-Foundation, das war so etwa im Jahr 2000. Die Idee hatte mich von Anfang an gepackt. Von Hans-Ola Ericsson stammt die Überlegung, was denn ASLSP, As slow as possible, überhaupt bedeuten könnte.

Da der Orgelklang theoretisch unendlich lang gehalten werden kann, würde das bedeuten, dass man das Konzert so ausdehnen könnte, so lange aufführen sollte, wie eine Orgel funktionsfähig bleibt, die Lebensdauer der Orgel wurde so zum Zeitmaß. Nun steht gerade in Halberstadt einer der ältesten noch funktionierenden Instrumente, eine 1361 erbaute Faber-Orgel. Im Jahr 2000 wurde der Plan, ASLSP so langsam als möglich zu spielen, in die Tat umgesetzt, also soll das Konzert 639 Jahre aufgeführt werden.

Die Burchardikirche in Halberstadt bot sich an. Um 1050 erbaut, diente sie über 600 Jahre als Zisterzienserkloster. Im 30-jährigen Krieg wurde sie zum Teil zerstört, 1711 wieder aufgebaut und 1810 säkularisiert. 190 Jahre wurde die Kirche als Scheune, Lagerschuppen und Schweinestall genutzt, was man der Kirche im Inneren auch durchaus ansieht.

 
 
 

 
 
 

Mit ASLSP wird nun in Halberstadt ein Orgelstück gespielt, das man gut und gerne auch in 60 bis 70 Minuten spielen, auch auf 14 Stunden ausdehnen kann, wie im Mai 2007 in Stuttgart geschehen. Auf der CD, auf die ich heute hinweisen möchte, hat man als Spielzeit die maximale Speicherkapazität einer Compact Disc gewählt.

 

Aufführungsort: Die Stadtkirche St.Wenzel in Naumburg an der Saale.

Das Instrument: Zacharias Hildebrandt, 1746.

 

„Die in vier in sich geschlossenen Aufnahmesitzungen entstandene Fassung von Bossert (Spiel auf den Tasten) und Ericsson (Spiel mit den Registerzügen) hält Klangbilder fest, in der die klanglichen und zeitlichen Dimensionen von mechanischer Orgel, von Tag und Nacht, von Wind und Wetter, von Kirchenraum und umgebender Stadt zusammenfließen.“ (aslsp.org)

 

Klaus Falka schreibt zu der Aufnahme:

 

Kurz nach Aufnahmebeginn von Version IV fällt die elektrische Windmaschine der Orgel wegen eines Defekts aus. Jetzt kommt ein Kalkant zum Einsatz: der Tonmeister. Die Aufnahme wird mit handgeschöpftem Wind fortgesetzt.“

 

Cage es hätte sicher gefallen, dass auf der Aufnahme nicht nur die Orgel, die Windmaschine und Windbälge zu hören sind, sondern auch Geräusche der Stadt (Verkehrslärm, Autohupen, Kindergeschrei) und der Natur (Regel, Hagel, Donnerschlag).

 
 
 

 

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14 Comments

  1. Olaf:

    Hört sich spannend an … hast Du (noch) eine persönliche John Cage LieblingsCD, die Du empfehlen kannst? Wie ist wohl diese neue ECM CD mit Cage, Satie und Feldman, hat da jemand hier eine Meinung zu?

    Und: lohnt sich eine Fahrt nach Halberstadt?

  2. Hans-Dieter Klinger:

    Ich bin zwar nicht gefragt, aber empfehlen würde ich schon gern. Ob es aber gefällt?
     
    – Sonatas & Interludes for prepared piano
    – CREDO IN US (für Percussion, Klavier, Radio, Plattenspieler)
    – generell seine Werke für Schlagzeugensemble
     
    evtl. noch mehr, z.B.
     
    – Indeterminacy (Aufnahme mit John Cage und David Tudor)

  3. Gregor:

    Aber die Fahrt lohnt sich unbedingt. Ich war schon mehrfach dort, einmal mit meinem Literaturkurs (also einer Schulklasse), davon werde ich im zweiten Cage-Teil erzählen und mehrfach zu Klangwechseln, das war dann etwas ganz Besonderes. Ich fahre hoffentlich auch zum nächsten Klangwechsel wieder nach Halberstadt. Ein Besuch dort, einfach so, ist aber auch sehr beeindruckend. Die neue Cage-CD ist bestellt, kann ich noch nichts dazu sagen, weitere Platten-Tipps, über die von Hans-Dieter Klinger hinaus, bringe ich ebenfalls im nächsten Plattenschrank.

  4. Olaf:

    Schulklasse hört sich auch spannend an, ich freue mich auf den Bericht.

    Und danke für die Tips, ich werde mich umhören.

  5. Hans-Dieter Klinger:

    Sonatas No.14 & No.15 ‚Gemini‘

    und

    CREDO IN US

    sind als Klangbeispiele in meinem Beitrag „John Cage“ eingefügt. Es sind Mitschnitte von einer Schüleraufführung. Die Klangqualität dieser alten Aufnahmen ist LoFi.

  6. Lajla:

    Gregor, das hast du sehr schön zusammengestellt. Es wäre eine Freude und ganz im Sinne von Cage, auf einem Manafonista Treffen darüber zu diskutieren.

    Sorry, das erste Zitat ist doch Nonsense. Es gibt wunderbare, wichtige, erstaunliche, alte Ideen und es gibt nichtssagende, neue Ideen. Man denke nur mal an Bob Dylan, der die Gitarre einstöpselte oder an Beuys, der das Haushaltsgeld für Frauen einführen wollte :).

    Meiner Meinung nach macht Cage genau den gleichen Fehler wie Robert Rauschenberg mit seinem White painting, das Cage ja so inspirierte. Weiss ist keine Farbe, also gibt es nichts zu beweisen. Schatten gibt es auf allen Farbtableaus. Stille ist kein Klang, nur der Ton. Ich würde auch gerne zu den anderen Zitaten etwas sagen, aber ich stelle lieber eine irrationale Frage: was ist Klangfarbe?

  7. Hans-Dieter Klinger:

    gefunden bei Raymond Murray Schafer

    (Titel der original edition: „The new Soundscape“, 1969)

    Wir sind allenthalben einer wachsenden Lärmflut ausgesetzt, und es ist infolgedessen Mode geworden, über die Stille zu reden. Reden wir also über die Stille.

    Wir vermissen sie.

    In der Vergangenheit gab es heilige Stätten der Ruhe, wohin sich jeder, der unter der Lärmplage litt, zur Wiederherstellung seines seelischen Kraftpotentials zurückziehen konnte, mochte es ein Wald oder die Weite des Meeres oder eine verschneite Gebirgslandschaft im Winter sein. Man schaute zu den Sternen hinauf oder ließ den Blick den vollendet geschwungenen Bögen lautlosen Vogelflugs nachfolgen und genoß den Zustand des Friedens.

    […]

    Wenn man einen echolosen, vollkommen schalldichten Raum betritt und dort spricht, scheinen einem die Laute von den Lippen auf den Boden zu fallen. Man horcht angestrengt auf ein Zeichen dafür, daß die Welt noch lebt.
    Als John Cage einmal in einen solchen Raum eintrat, hörte er jedoch zwei Töne, einen hohen und einen tiefen.
    „Als ich sie dem zuständigen Techniker beschrieb, erklärte er mir, daß der hohe von der Tätigkeit meines Nervensystems und der tiefe von der Zirkulation meines Blutes herrühre.“
    Cage folgert daraus:
    „So etwas wie Stille gibt es nicht. Irgendetwas geschieht immer, was Schall hervorruft.“
    Cage hatte die Relativität der Stille entdeckt, und indem er seinem Buch den Titel „Silence“ gab, hob er hervor, daß er dieses Wort bei seiner weiteren Verwendung nur im ironischen Sinn verstanden oder definiert wissen wollte.

    ——-

    Vielleicht findet man bei Arnold Schönberg eine (von mehreren möglichen) Antworten auf die „irrationale Frage“:

    5 Orchesterstücke op. 16 – No. 3 Farben

  8. Lajla nizinski:

    Dem stimme ich zu. Stille wird meist in Zusammenhang gesetzt: Windstille, Grabesstille, Pause … Solange unser Herz klopft, hören wir den „Sound of Silence“.

  9. Gregor:

    Lajla, über Stille habe ich im Plattenschrank vom 9.12. und 20.12.2011 etwas geschrieben, was ich hier in Erinnerung rufen möchte. Für mich ein ganz wichtiges Thema und das nicht nur wegen meines mich plagenden Tinnitus, nein, ich meine tatsächlich „Stille in der Musik“. Bzgl. des Cage-Zitates gebe ich dir, wie du es verstehst, recht, glaube aber, dass Cage hier eher so verrückte Ideen meint wie z.B. sein Stück 4:33 – eine tolle Idee!!! Das war ja vor ein paar Jahren in der britischen Hitliste, ausgerechnet an Weihnachten. Man konnte dieses Stille-Stück kaufen. Unter dem Titel „Cage: Against The Machine“ war dann im Radio, ich habe es selbst gehört, es war 4:33 Minuten nichts zu hören. Wer weiß, was das in so einer furchtbar lauten, verbrabbelten Sendung wie Top 20 bedeutet, der kann ermessen, was Stille in diesem Zusammenhang bedeutet.

  10. Lajla:

    Du siehst Stille also auch meist in einem Zusammenhang. Als ich das erste mal 4:33 „hörte“, war ich begeistert, von der Idee und ihrer Wirkung. Heute sagt mir dieses Stück nichts mehr. Hat sich da gar nichts bei dir verändert? Wäre es zeitgemäß, an einem autofreien Sonntag auf den Champs-Elysees das Stück 4:33 aufzuführen? Oder eine Band, die so laut spielt, dass der Verkehrslärm überhört wird?

  11. Gregor:

    Klar hat sich etwas verändert. Die Idee „Cage: Against The Machine“ in die BBC-Hitparade war ja auch etwas total Neues und überhaupt nicht so, wie Cage es mit 4:33 gemeint hat. Cage wollte ja das Publikum als Akteur, hier aber haben wir Stille im Getümmele, Gewusele, in der Hektik, im Krach. Lass uns doch etwas Neues im Zusammenhang mit dem Stück überlegen!

  12. Lajla:

    Mich interessiert das Stück nicht mehr. Vielleicht lädst du es dir auf deinen PC und klickst es immer bei Stress an.

  13. Michael Engelbrecht:

    John Cage is great reading for teenagers, too. Books like „Silence“ or „Empty Mind“ encourage thnking sideways. I like his writings very much, but only tiny bits of his music, I like the stories that are told when his music becomes part of a particular environment. Or installation. I normally don’t feel any excitement or silent pleasure when listening to his music. Most of it leaves me cold. I do find pleasure in the way you are taking care about his music. It’s a bit like listening to a jukebox for wonderful aliens.

  14. Hans-Dieter Klinger:

    Ich habe heute Gregors Plattenschrank vom Dezember 2011 besucht. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich dort angekommen bin. Für alle, die seine Betrachtungen zur Stille gerne nachlesen möchten und nicht über den langen Atem eines Perlentauchers verfügen, hier die Abkürzungen:

    http://manafonistas.de/2011/12/09/gregor-offnet-seinen-plattenschrank-7-stille-1/
    http://manafonistas.de/2011/12/20/gregor-offnet-seinen-plattenschrank-8-stille-2/

    Besonders angetan bin ich von Karl Lippegaus’ Erlebnissen im Abschnitt „Natur-Stille“, sprechen sie doch Erfahrungen an, die ich bei Wanderungen in Island oft gespürt habe – einmal ganz besonders intensiv: „roaring silence“. Das habe ich am 31. Aug. 2015 auf diesen Seiten geschildert. Es würde gut hierher passen.

    Zu 4:33 möchte ich noch ein paar Vermutungen los werden.
    – es ist eine radikale Frage danach, was Musik ist
    – es geht um Aufmerksamkeit & Achtsamkeit
    – es geht um Stille und es geht auch um Klänge
    – Cage hat mit 4:33 Ideen weitergeführt, die er schon lange vorher formuliert hat
    Wo immer wir auch sein mögen, meistens hören wir Geräusche. Beachten wir sie nicht, stören sie uns. Hören wir sie uns an, finden wir sie faszinierend. Das Geräusch eines Lastkraftwagens bei 50 Stundenkilometer. Atmosphärische Störungen im Radio. Regen. Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente.
    John Cage, Die Zukunft der Musik – Credo (1937)

    – in 4:33 geht es Cage nicht mehr um das „Beherrschen“, Intentionen werden aufgegeben, der Zufall wird eingeladen

    Eine Fassung von 4:33 aus dem Jahr 1990 findet man hier:
    http://www.sonator.de/musik/4’33.mpg
    Performance von John Cage & Henning Lohner

    Empfehlung:
    THE REVENGE OF THE DEAD INDIANS
    In Memoriam John Cage (1993)
    a composed film
    directed by Henning Lohner

    DVD erschienen 2008


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