Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2015 26 Mai

Das Jazzgeheimnis

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  10 Comments

Was ist der Sinn des Lebens? Wo sind meine Haustürschlüssel? Was heißt Denken? … Zu den relevanten Fragen jenseits des höheren Blödsinns und diesseits intakter Synapsen könnte sich auch folgende gesellen: „Warum höre ich überhaupt Jazz?“ Oft versteht man nämlich nicht, was genau dort vor sich geht und gespielt wird – zumindest die experimentellen Formen betreffend, bleibt es stellenweise undurchsichtig. Man würde gerne so manchen Jazzer fragen: Was sind die Tricks? Wo ist der letzte Grund in diesem sonderbaren Sansibar? Ist das jetzt noch notiert oder schon improvisiert? Hierzu ein Rückblick: An jenem Tag, als Abbey Road erscheint, wird irgendwo in Norddeutschland ein Elfjähriger nach zweimonatigem Krankenhausaufenthalt (geschienter Schiffbruch) aus der Klinik entlassen. Auf dem Rückweg in familiäre Gefilde kauft er diese heissbegehrte Scheibe. Sie euphorisiert ihn völlig und er betrachtet fortan vier Pilzköpfe, die einen Zebrastreifen überqueren, als sein Alter Ego, wenn nicht gar Höheres Selbst. Ein Nachbar tritt tagsdrauf an den Gartenzaun heran, Pfeife rauchend und vollbärtig: „Was hörst du so für Musik?“ „Die Beatles!“ ist die aus stolzer Brust tönende Antwort. „Charlie Parker musst du hören!“ Das holt den Kleinen wieder auf den Teppich. Der Name sagt dem Jungen nichts, dennoch: er merkt ihn sich. Drei Jahre später bekommt er, inzwischen Mitglied einer Rockband, vom Schlagzeuger zum Geburtstag ein Album geschenkt: „Hier haste mal was Ordentliches!“ Die Rückseite des Covers zeigt einen auf dem Hotelbettrand sitzenden schwarzen Musiker, der rehäugig schüchtern an der Kamera vorbei ins Leere blickt, auch dies ein Alter Ego. Nefertiti von Miles Davis ist fortan Kult in seiner schmalen Sammlung – allein: die Musik bleibt fremd und unzugänglich. Jetzt, Jahrzehnte später, lichtet sich das Dickicht, vieles ist vertraut und lässt sich kategorisieren. Insbesondere eine Antwort wurde gefunden auf die Frage, warum der „Jazz“ bevorzugt wird, besonders in seiner explorativen, weniger traditionellen Form: es ist auch eine Befreiungskur; ein Gegenpol zu jenen Songwelten, die mehr das einfache Gefühl, den niederen Instinkt ansprechen. Man gönnt sich gerne auch mal Grönemeyer, denn im Verbund mit Coleman, Berne und Artgenossen lässt sogar „Bochum“ sich ertragen.

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10 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Zum Glück gibt es neben j e n e n Songwelten auch noch
    d i e s e Songwelten, die komplexe Gefühle und höhere Instinkte ansprechen. Sie sind im Grunde genauso zahlreich oder selten wie die explorative Spielart des Jazz.

    Anders gesagt, und mein ganz persönliche Sichtweise: 95 % des Jazz und der Songwelten langeweilen mich erheblich. Ins Hörfeld rückt nur noch das A N D E R E. Gut.

    P.S.: Aber was für ein wundervoller Erzähltext. 200 davon, und ein Buch ist fertig, das ich sofort kaufen würde. Ich habe so ein Angebot für einen fiktiven Langtext vor kurzem bekommen. Kein Scherz, keine Geschichte. Das Angebot enthält zudem eine finanzielle Absicherung. Deshalb erprobe ich das mal. Aber wie gesagt, Joey, 200 Texte in dieser Struktur aus Reflexion und Erzählung, und fertig ist ein Buch. Manafonisten haben alle Bücher in sich, bei manchen stehen sie schon im Regal.

    Apropos manafonistas.de: ich habe nirgends einen Blog gefunden, der eine ähnliche Struktur sich kreuzender Texte hat wie diesen hier. Das finde ich seltsam.

  2. Martina Weber:

    Für jede Generation stellt sich die Frage, ob man sich mit dem leicht zugänglichen zufrieden gibt oder das sperrige sucht, das andere Belohnungen mit sich bringt. Round about midnight.

    P.S. Bei einem gemeinschaftlichen Buchprojekt wären bestimmt alle Manafonisten mit Begeisterung und Engagement dabei. Vielleicht hat Michaels traumhafter rätselhafter Verleger auch dafür ein Herz.

  3. Michael Engelbrecht:

    Man muss in diesen Dingen natürlich genau sein. Mit den 95 % meine ich die Neuerscheinungen der letzten 15 Jahre aus beiden Sparten.

    Hätte ich die Wahl zwischen Nefertiti und Sgt. Pepper: adios, Nefertiti. Hätte ich die Wahl zwischen The Beatles For Sale und In A Silent Way, byebye, love for sale.

    Das Leicht-Zugängliche kann profund sein, ohne jede Spur des Sperrigen. Für The Best of Al Green gebe ich gerne The Best of Dave Brubeck ab. Jeder trifft da eigene Entscheidungen.

    Mir fiele es nicht im Traum ein, ein Genre über das andere zu erheben, selbst die Neue Klassische Musik könnte noch Geheimnisse im Köcher haben.

    Die meisten Buchprojekte geben den Geist auf in der Planungsphase. Ich habe einen sog. „Sponsor“ oder „Provocateur“, keinen Verleger, Martina. Das habe ich nie behauptet. Grosser Unterschied. Und der lockt mich ins Roman-Genre.

    Was bedeutet, dass auch dieses Vorhaben rasch scheitern kann, in der Planungsphase. Weil die Verlockung zwar da ist, aber ich mich da gar nicht zuhaus fühle. Und ich lasse mich nicht fremdbestimmen. Dies nur, um nicht in Zukunft auf ungelegte und geplatzte Eier angesprochen zu werden.

    Ich weiss, wie sich Bücher von selbst schreiben, wenn man ein originelles „pattern“ hat. Joeys Text enthält alle Merkmale einer klaren Struktur. 200 Prosatexte von der Qualität, ein gutes Lektorat, und das Buch ist fertig. Es schreibt sich fast von selbst. Es gibt allerdings immer drei Faktoren, die entscheidend sind dabei:

    1) Idee (vorhanden, sogar im Klartext)
    2) Entschlusskraft
    3) Selbstvertrauen

    Nur alle drei Aspekte bringen so ein Produkt auf den Weg. Ich kann sehr gut schreiben, und ich bin ganz sicher selbstbewusst. Bei mir liegt es an den beiden anderen Faktoren. Und, am Ende, last, but not least, an der eigenen Beurteilung der über 200 Seiten produzierten Qualität.

  4. Michael Engelbrecht:

    Mein Lieblingsjob wäre in Zukunft aber der „Life Coach“. Das habe ich ich ja selbst studiert, es nennt sich nüchtern „Klinische Psychologie“, und bietet auch intakten Seelen ein immenses Feld. Ich wäre nicht der erste Manafonista, der diesen Job hätte :) – aber es muss auch Geheimnisse geben, nicht nur im Jazz. So, jetzt ab nach Köln, die Sendung im Deutschlandfunk um 21.05 Uhr heute abend ist live.

    Dann noch eine Ausgabe JazzFacts und eine Radionacht – dann habe ich ab 20. Juni zwei Monate URLAUB.

    If anyone likes to invite me, unknown wonderful people, write me your offers: micha.engelbrecht@gmx.de – this is serious! Preferably Germany, Austria, England, Norway and the American West Coast.

  5. Wolfram Gekeler:

    Schwierige Fragen, über die ich länger nachdenken muss. Warum lernt man manches zu lieben, anderes nicht? Wie wird man Fan von irgendwas und nicht von irgendwas anderem? Die Debatte wurde hier schon mal über den Einstieg Jugendliche und Jazz begonnen.

    Das Buchprojekt wäre natürlich ein Traum. Auf der Site sind solche Schätze versteckt. Ich blättere gern drin rum und finde jedesmal etwas Spannendes oder Witziges.

    Und der Verlag ist eh schon klar: Merve, da passt es zu Rhizom und Dilettanten und Cage und Biographien.

    Und es täte dann 2 Bände geben, damit Michael seine 200 Seiten am Stück schreiben kann, und die anderen täten sich die Seiten von Band 2 teilen, und alle wären glücklich, besonders die Leser.

  6. Martina Weber:

    Oder Matthes & Seitz … oder der Passagen Verlag. In diesen Verlagen erschienen auch die „Cool Memories“ von Jean Baudrillard. Die haben auch etwas von einem Blog. Besonders mochte ich den ersten Band mit Texten von 1980-1985.

    Passend zu Michaels Sendung, die hier gerade läuft, und speziell zu Sidsel Endresen, hier ein Zitat aus diesem Buch: „Lacan hat recht: die Sprache vermittelt nicht den Sinn, sie ist da an der Stelle des Sinns. Daraus ergeben sich nicht die Struktureffekte, es sind solche der Verführung.“ (S. 10)

    Wir können aber nicht einfach Michael aus dem Manafonistas Gemeinschaftsbuch draußen lassen, Wolfram. Ich habe es so verstanden, dass Michael einen Roman schreiben möchte, und dieses Buch wird vermutlich ein anderes sein als eine Zusammenstellung der Best of seiner Blogeinträge seit 10 Jahren.

    Unter einem solchen Aspekt könnte ein nächstes Treffen ein ganz anderes Vorzeichen bekommen. Muss ja nicht in diesem Julihaus auf Sylt sein.

  7. Wolfram Gekeler:

    Martina, ich hab wieder die :) vergessen, bin ohne :) deiner Meinung …

  8. Michael Engelbrecht:

    O Gott, nein, ich möchte keinen Roman schreiben – ich habe ein, wie heisst es so schön, lukratives Angebot gekriegt, einen zu schreiben. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Im Gemeinschaftsprojekt für Merve sähe ich mich weitaus eher :)

    Ich würde einsteigen mit dem „Jugendbuchautor F. Nietzsche“ und dem völlig überschätzten, reaktionären wie verklemmten Roman Der Fänger im Roggen – und Gregs verfasst die tobenden Fussnoten dazu :)

  9. Martina Weber:

    Wunderbar, Wolfram :)

  10. Lajla Nizinski:

    Das sind kunstvolle Fragen, warum man das eine mag und das andere draußen vor bleibt. In den 70iger Jahren fuhren wir drei aus der Roten Zelle Germanistik (Friedrich Kittler und Erich Brinkmann) von Freiburg nach Berlin zu den Antijazztagen. Die fanden parallel zu dem Berliner Jazzfest statt. Wir waren die Wilden, die es zu dieser Zeit auch in der Malerei gab ( Immendorff …). Wir waren linksradikal und das drückten wir auch in unserem Musikkonsum aus. „I’m free, I do what I want.“ Fachlich waren wir hervorragend, aber total antiakademisch.

    Als ich Henning kennenlernte, der auch aus dieser Richtung kam, aber Jazz begeistert war, hörte ich zu und die vielen CD’s, die er für mich aussuchte, auch an. Die Assoziation ist ganz entscheidend für die Neigung. Hier war also einer, der ebenfalls antiakademisch war, vor Fabrikgebäuden Flyer verteilt hatte, das war das Gemeinsame. Als „Befreiungskur“ würde ich das nicht bezeichnen. Dafür lasse ich mich sehr gerne bis heute und einmalig von den Allman Brothers befreien.


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