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2014 16 Nov

Das heitere Parallellesen von “Bleeding Edge” (7)

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bleeding edge
 
 
 

Auf Seite 401 lesen wir das, womit wir, seitdem wir erfahren haben, dass Pynchon seinen Roman im Jahr 2001 spielen lässt, längst gerechnet haben: Flugzeuge krachen in die beiden Türme des World-Trade-Centers. Dass von den beiden Türmen eine besondere Symbolkraft ausging und sie gerade deshalb Ziel der Angriffe werden mussten, ist längst bekannt. Pynchon stellt aber einen weiteren sehr interessanten Zusammenhang her. In einem Gespräch zwischen Maxine und Shawn erinnert letzterer an die Buddhastatuen in Afghanistan, die von den Taliban zerstört worden seien. Zwei Buddhastatuen, zwei World-Trade-Center-Türme, eine interessante Parallele. Shawn sagt: „Die Trade-Center-Türme waren auch religiöse Symbole. Sie haben das symbolisiert, was dieses Land mehr anbetet als alles andere: den Markt. Immer dieser verdammte heilige Scheißmarkt.“

Maxine fragt erstaunt, ob er ernsthaft glaube, dass es etwas Religiöses war und Shawn antwortet: „Ist es denn keine Religion? Wir reden von Leuten, die glauben, dass die unsichtbare Hand des Marktes alles lenkt. Sie führen heilige Kriege gegen Konkurrenzreligionen wie den Marxismus. Obwohl wir wissen, dass die Welt endlich ist, hängen sie dem blinden Glauben an, dass die Rohstoffe nie zur Neige gehen und die Profite immer weiter steigen werden, ebenso wie die Weltbevölkerung – noch mehr billige Arbeitskräfte, noch mehr abhängige Konsumenten.“

Später meint Shawn noch: „Wir leben von gestundeter Zeit. Wir wollen billig davonkommen. Wir denken nie darüber nach, wer dafür bezahlt, wer irgendwo anders auf engstem Raum mit anderen hausen und hungern muss, damit wir billige Lebensmittel haben, ein Haus mit Garten in einem Vorort … und das weltweit, jeden Tag mehr – unsere Schuldenlast steigt und steigt. Und alles, was die Medien uns anbieten, ist: Scha-luchz, all die unschuldigen Toten …“

„… wir denken nie darüber nach, wer dafür bezahlt …“ – ja, in diesem Zusammenhang fällt mir ein Artikel ein, den ich kürzlich in der SZ gelesen habe. Stephan Lessenich, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, schreibt in seinem Artikel Neben uns die Sintflut von der Externalisierungsgesellschaft. Der Autor erläutert, was dieser Begriff meint: in einer solchen Gesellschaft leben die Leute nicht über ihre Verhältnisse, sie leben über die Verhältnisse anderer. Eben: Neben uns die Sintflut. Lessenich beschreibt genau das, was Pynchon hier meint: die Rechnung zahlen andere.

„Doch die Tatsache all dieser positiven Nebeneffekte der kapitalistischen Kolonialisierung unserer Lebenswelten hängt unmittelbar mit der weiteren Tatsache zusammen, dass all diese positiven Nebeneffekte anderen Menschen, hier und insbesondere anderswo, strukturell und systematisch vorenthalten geblieben sind und bleiben – und dass diese anderen stattdessen mit den extranalisierten Nebeneffekten kapitalistischer Kolonialisierung leben müssen. Beziehungsweise sterben. Denn nicht hier, daheim, aber wohl da draußen sterben die Leut´ und zwar ganz real. Always look at the bright side of life: Singen Sie das doch bei Gelegenheit mal wahlweise dem gehetzt klingelden Paketauslieferer an der Haustür, einem unter freiem Himmel schlafenden Flüchting in München oder Ihrer persönlichen Näherin aus Bangladesch ins Gesicht. Sie werden sich bestimmt freuen.“

Da sag mir mal einer, bei Pynchon sei alles Comic, alles Spaß, alles würde ins Lächerliche gezogen. Eben nicht!

Gregor M.
 

 
Unmittelbar auf die Attentate folgt eine der eindringlichsten Stellen: Pynchon schildert die Ruhe, den Geruch und die Trauer – der überdrehte, hyperaufmerksame und intellektuelle Ton hält einmal für drei Seiten inne. Aber eben nur kurz, dann geht es weiter mit „Vertreibungsgeschichten“. Driscoll und Eric sind durch 9/11 obdachlos geworden und kommen bei Maxine und Horst (!) unter. Wunderbar, wie beiläufig Pynchon schildert, dass die beiden wieder ein Paar sind.

Interessante Deutungsversuche: „Als hätte die Ironie (…) die Ereignisse vom 11. September eigentlich sogar herbeigeführt, indem sie das Land an hinreichendem Ernst gehindert und so sein Verständnis von der `Realität´ geschwächt hat.“ Später (fast) dazu: „Wird das eine Jetzt-kneift-mal-die-Arschbacken-zusammen-Rede? Amerikas lasche Moral lässt Al-Qaida-Leute in Flugzeuge steigen und bringt das World Trade Center zum Einsturz?“

Parallelen werden zwischen dem World Trade Center und den Buddhastatuen in Afghanistan gezogen: beides religiöse Symbole, die Zwillingstürme für den „heiligen Scheißmarkt“, den „blinden Glauben (…), dass die Rohstoffe nie zur Neige gehen und die Profite immer weiter steigen werden …“ Spannend, wie die Personen die Katastrophe unterschiedlich deuten und einordnen.

Die „Gegenwart“ wird seltsam, es scheint eine „Zeitschleife“ zu existieren: die Erwachsenen entwickeln sich zurück, die Kinder scheinen wie vorzeitig gealtert. Maxine und Shawn „fühlen sich, als wären sie hinterrücks niedergeschlagen worden: keine klare Vorstellung, wie man aufstehen und mit einem Tag weitermachen soll, der auf einmal voller Löcher ist – Angehörige, Freunde, Freunde von Freunden, Telefonnummern im Rolodex, alle einfach nicht mehr da … an manchen Morgen das düstere Gefühl, dass das Land selbst vielleicht gar nicht mehr da ist, sondern Bild für Bild lautlos durch irgendetwas anderes, irgendein Überraschungspaket, ersetzt wird, und zwar von denjenigen, die auf Draht sind und bleiben und den Finger auf der Maustaste haben.“

Ansonsten scheint Windust zu bekommen, was er verdient – es gibt eine Schießerei, in die Maxine verwickelt ist. Ice will Maxi einen Auftrag geben. Die Handlung folgt öffentlichen Ereignissen und Feiertagen: Halloween, NYC-Marathon, Thanksgiving. Schönes Zitat: „Memo an mich: Igor fragen – der muss schließlich wissen, was es zu bedeuten hat, verdammt. Unleserlich auf einen virtuellen Post-It-Zettel gekritzelt, den sie an eine wenig benutzte Gehirnwindung klebt, wo er sich sogleich wieder löst und zu Boden segelt, aber immerhin einen gewissen Erinnerungsrestwert hat.“

Olaf W.
 

 

„A bitter chemical smell of death and burning that no one in memory has ever in this city smelled before and which lingers for weeks“. Im aktuellen 100-Seiten-Brocken geht es um die Nachwirkungen des Terroranschlags vom 9. September und die Versuche, irgendwie zur Normalität zurückzukehren („Hey, it´s New York. American flags appear everywhere … on cabs driven by members of the Muslim faith.“). Igor weist Maxine auf eine versteckte Videospur auf der Stinger-DVD hin, Horst zieht in Maxines Schlafzimmer um und Fußliebhaber und 9/11-Opfer Eric im Gästezimmer ein. Die Atmosphäre in der Stadt ist angespannt („… every time a kid tries to jump a turnstile, subway services gets suspended and police vehicles of every description, surface and airborne, converge and linger.“). Merkwürdige Begebenheiten lassen Überlagerungen von DeepArchers virtueller Welt und dem „Meatspace“, der realen Welt, erahnen: Heidi hört Girlie-Talk, dreht sich um und und sieht zwei ältere Frauen sich unterhalten („11 September infantilized this country. It had a chance to grow up, instead it chose to default back to childhood.“). Maxine sieht statt der drei Kids, die jeden Morgen an der Bushaltestelle stehen, plötzlich drei grauhaarige Männer und weiß, dass dies die Kinder sind („Standing in exactly the same spot, was three middle-aged men, gray-haired, less youthfully turned out, and yet she knew, shivering a little, that these were the same kids.“). Horst wird immer mehr zum „homebody“ und Maxine steigt tief in DeepArcher ein. Dort trifft sie auf Lucas, einen der beiden Programmierer von DeepArcher, der ihr mitteilt, dass der Code von DeepArcher als Open Source frei zugänglich ist. Sie trifft auch auf Opfer des Terroranschlags, die dort weiterleben („… have been brought here by loved ones so they´ll have an afterlife, their faces scanned in from family photos …“), und erkundet die Grenzregionen von DeepArcher. Zurück im „Meatspace“ gesteht Vyrva ihr, dass sie ein Verhältnis mit Gabriel Ice hat. Hallowe´en findet für Maxine und ihre Kinder im Deseret statt, wo sie auf Misha und Grish trifft, die als OBL, Osama bin Laden, verkleidet sind („`We were going to go as World Trade Center, but decided OBL would be even more offensive.´“). Maxine macht Misha und Grischa mit Justin bekannt, dem anderen Entwickler von DeepArcher („You are the Justin McElmo?“). Die „Torpedos“ wissen, das auch Maxine DeepArcher kennt und dort gewesen ist, und stellen fest: „… with what could be either naive faith or raving insanity, `it´s real place!´“. Beim NYC Marathon hat Maxine eine kurze Begegnung mit Windust, der während des Terroranschlags Tacitus gelesen hat (“ `Who makes a case that Nero didn´t set fire to Rome so he could blame it on the Christians.´“).

Wieder viele Details, viele Personen, viel Lesearbeit! Viele Momentaufnahmen von der Bewältigung des 9/11-Traumas und den atmosphärischen Veränderungen, die sich daraus ergeben. Handlungsstränge scheinen aufeinander zuzulaufen, ob sie sich allerdings tatsächlich treffen, bleibt abzuwarten. Was mir zunehmend fehlt, ist ein Spannungsbogen, der mich auf der Handlungebene weiter fesselt. Das Buch wird immer mehr zu einer Herausforderung, der ich mich nicht ungern stelle, auf deren baldiges Ende ich mich inzwischen aber sehr freue.

Thomas S.
 

 
Es wäre vielleicht ein noch erfolgreicheres Buch geworden, wenn es rechtzeitig einem guten Lektor in die Hände gefallen wäre. Der hätte erst mal dafür gesorgt, dass es kürzer geworden wäre; er hätte alle Figuren, die nicht in den ersten Kapiteln mindestens 20 Seiten für sich bekommen hätten, rausgeschmissen. Dasselbe hätte er mit einem Großteil der Assoziationen getan, was vielen Gelegenheitslesern das Verständnis erleichtert hätte. Die echten Pynchon-Leser aber wären enttäuscht gewesen!

Die meisten Witze, Scherze, Wortspiele usw. hätte der gute Lektor nur dann im Text stehen lassen, wenn der Autor bereit gewesen wäre, das Wechseln zwischen Joke und Realität zu kennzeichnen. So etwa wie Rolf Miller, der Meister der in der Luft hängen bleibenden Sätze, Witze ankündigt: „Pass amol uff: Witz!“ Sicherlich wäre es auch Aufgabe des Lektorates gewesen, zumindest die Witze zu streichen, die selbst im Kindergarten nur ein müdes Lächeln hervorgerufen hätten. Dazu gehören alle Witze, die aus Wortspielen mit den Worten Pimmel oder Möse bestehen. Zum Vergleich hier ein Witz, der schon für einen Grundschulhof geeignet wäre. Also: „Pass amol uff: Witz! Kommt ein Junge in einen Spielzeugladen. Sehnsüchtig schaut er hinauf ins oberste Regal, wo die Schlümpfe stehen. Die Verkäuferin fragt: „Soll ich dir einen runter holen?“ „Von mir aus, wenn ich dann so einen Schlumpf kriege.“

Eine weitere Aufgabe des guten Lektors wäre es gewesen, darauf zu achten, dass das Gefühlsleben der Personen nachvollziehbar bleibt, und dass sie dem Leser immer mehr vertraut werden. Warum Maxine in dem Moment, als sie vom Anschlag auf die TwinTowers erfährt, lediglich ein 0-oh von sich gibt, ist nicht klar zu verstehen. Vielleicht liegt es an der beschriebenen Computer-, Medien-, Internet-Szene und ihren coolen aber kühlen Beziehungsmustern? Dann würde ich als Leser sozusagen in dieses Muster hineingezogen: kein Wunder, dass ich zu Maxine keine Lese-Beziehung aufbauen kann. Es findet ein klassischer Übertragungs- / Gegenübertragungsprozess statt (mehr dazu im letzten Teil des Berichtes vom Parallellesen).

In anderen Szenen spürt man Lebendigkeit viel intensiver. Besonders gelungen ist die Schilderung der Halloween-Nacht, die von Jung und Alt gefeiert wird. Das um Süßigkeiten bettelnde Herumziehen von Haus zu Haus, bei dem die Kids seltsamerweise von ihren Müttern begleitet werden, ist ebenso vergnüglich beschrieben wie das Treiben der gruselig verkleideten Erwachsenen.

Pass amol uff: Witz zu Halloween! Es klingelt an der Haustür. Der Bewohner macht auf und sieht sich einem winzig kleinen Skelett gegenüber, so etwa 30 cm groß; es sagt mit unheimlicher Stimme: „Ich bin der Tod!“ Der Bewohner ist wenig beeindruckt: „Sie habe ich mir viel größer vorgestellt.“ – „Ich komme ja auch bloß wegen des Kanarienvogels“.

Ob der Lektor die Witze stehen lassen würde? Mir sind sie halt gerade eingefallen; und wahrscheinlich ist auch Bleeding Edge durch unaufhaltsames Einfallen bzw. Einfallenlassen entstanden, und daran hätte wohl ein Lektor, besonders ein guter, nichts geändert.

Wolfram G.
 

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