Es begann damit, dass sie mich an einem Nachmittag im Herbst auf der Straße in Budapest ansprach und mich nach dem Weg zur schwedischen Botschaft fragte. Sie hielt mich für eine Ungarin (was ich tatsächlich auch hätte werden können), und sie sprach fließend deutsch. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt. Ich wusste natürlich nicht, wo sich die schwedische Botschaft befand, aber ich hatte einen Stadtplan dabei. So fing es an. Eigentlich war ich mit einer Gruppe unterwegs, die ich mir nicht ausgesucht hatte, zu Bildungszwecken, aber ich fühlte mich in der Gruppe nicht besonders wohl, und so traf ich, wann immer ich Zeit hatte, fortan Adrienne. Sie schlug vor, ins Blindenmuseum zu gehen. Es war naturgemäß so dunkel, dass man bei geöffneten Augen nur Schwärze sah, bis über den Horizont hinaus. Da wurden Straßenszenerien simuliert. Plötzlich stieß man mit dem Kopf an irgendeinen Gegenstand oder man stolperte über einen Bordstein. Ein Auto hupte, ein Hund bellte und jemand rief etwas nicht verständliches. Am bedrohlichsten war jedoch die Gruppe französischer Jugendlicher. Dann saßen wir einfach im Gras und blickten in die Stadt mit ihren alten Häusern. Adrienne mochte auch die düsteren Romane von Thomas Bernhard, diesen untergründigen Humor, mit dem all diese an ihrem Leben verhinderten Figuren ausgestattet waren. Das Kalkwerk, und all die Geistesprodukte, die hätten entstehen können. Beton. Adrienne führte mich in Cafés, die nur die Einheimischen kannten. Mit farbigem Zuckerguss überzogene eckige Kuchenstückchen. Es war eine große Armut in der Stadt. Menschen mit einem Gesichtsausdruck, den ich gut kannte, saßen am Straßenrand hinter ein paar auf dem Boden ausgebreiteten Gemüse- oder Obststücken. Dennoch war das Land damals im Aufbruch. Auf der Suche nach Zugehörigkeit zu Europa, im wirtschaftlichen Sinn. Adrienne und ich gingen in einen Plattenladen und ich fragte sie, welche Musik man hier hören würde. Sie zog ein Album heraus und ich kaufte es. Dieses Album präsentierte die Stimmung im Land. Ich verstehe kein Wort davon. (Ich weiß nur, was auf ungarisch „Guten Tag“, “Guten Abend“ und „danke“ heißt.) Und trotzdem habe ich ein vages Gefühl darum, worum es geht. Ich könnte es nicht in Worte fassen. Einige Songs erinnern an die Dire Straits. Worüber verhandeln die Dire Straits? Andere Stücke sind härter, rockiger. Manchmal muss man sich selbst Mut machen. Das Cover (hier nicht abgebildet) hat etwas Gemeinschaftsfixiertes an sich. So ganz geheuer ist mir das nicht.
Ich habe versucht, den Titel des ersten Songs mit Hilfe eines Internetwörterbuchs zu übersetzen: Napliget. Doch ohne Ergebnis. Entweder greifen die Songschreiber zu Worten außerhalb der Kanons, oder es lag an einem Übertragungsfehler. Eigentlich hätte ich gern einen Song mit Hilfe eines dieser Internetübersetzungsprogramme übersetzt.
Adrienne verließ Ungarn. Sie zog zu ihrem Freund nach Schweden. Die Spur hat sich längst verloren. Nur ein Stück in meinem Plattenschrank erinnert mich an sie.