Man sieht den Erscheinungsjahren an, wann ich Gedichte als vorrangige Seelennahrung betrachtete. Ist schon eine Weile her. In der Zeit, als ich bei „Bücher Krüger“ Lyrikbände kaufte, waren die Beatles schon Geschichte, Borussia Dortmund hatte die erste und zweite grosse Zeit hinter sich, und die ersten hundert Langspielplatten von ECM drehten sich auf meinem Dual-Plattenspieler.
Man schleppt, der Jugend sei es geschuldet, noch eine Menge Naivität mit sich herum, und versucht sich gegen die Blödheit zu wappnen, die andere einem noch zusätzlich andienen wollen. Man ist eine kleine springlebendige, verletztliche Hormonmaschine und träumt von Sex mit erfahrenen, unerrreichbaren Frauen. Wie sollte ich mit Diana Rigg im Bett landen? Wie mit Stephanie Audran? Wie mit Monika Peitsch? Wie mit Hannelore Elsner? Und als ich mich mit „sweet sixteen“ in die schönste Frau von Dortmund-Bittermark verliebte, eine evangelische Pfarrerstochter (sie wohnte einen Steinwurf vom Teufelsgeiger Zbignew Seifert entfernt!), war ein Jahr Unglück die Mindestgarantie, da nutzte es auch nichts, dass ich Räucherstäbchen mitbrachte und „Foxtrot“ von Genesis auflegte.
Gedichte waren etwas pflegeleichter. Sie steckten zwischen zwei Buchrücken, sprangen nie aus den Seiten heraus, und man konnte sie so tief einatmen, dass sie einem in die Träume folgten. Sie beflügelten tollkühne Empfindungen, schufen Räume reiner Faszination, man konnte sich innerlich sammeln, die Assoziationen fliegen lassen, und sich zwischendurch einen runterholen. „… und wenn, vor der vergeblichkeit von allem, mich grauen packt, so bin ich doch, zum glück, Intakt wie eh und je.“ Unvergessliche Zeilen aus dem Büchlein „Der gelbe Hund“, in dem es viel strenger zuging als in Jandls frühen sprachspielerischen Bänden a la „Laut und Luise“. Ein Buch, um auch mal das Sterben etwas näher kennenzulernen.
Rolf Dieter Brinkmann war einer von uns, nur wilder, und etwas älter, und früh tot. Durch ihn habe ich Frank O’Hara kennengelernt. „Westwärts 1&2“ erschien bei Rowohlt und hatte auf dem Cover diese gefährlich roten Ränder. Er war ein Getriebener und hörte gute Rockmusik. Die Gedichte von Jürgen Becker las ich besonders langsam, eine „ambient music“ der Wörter, spezialisiert auf deutsches Niemandsland: wie in Nichtigkeiten und Verlusten und zerstörter Natur noch der Nachhall eines alten Zaubers wirkte, lehrten mich Beckers nur auf den ersten Blick spröde Texte, und einmal stieg der ehemalige Hörspielchef des Deutschlandfunks zu mir in den Fahrstuhl, mein einziges Interview ohne Worte!
Peter Rühmkorfs Buch mit dem überquellenden Aschenbecher kaufte ich mir in der Inselbuchhandlung von Langeoog, und es wurde, zwei Wochen lang, mein Buch für die nicht wirklich einsame Insel. Wie schön, dass er zweimal mit Michael Naura, Manfred Eicher und Co. ins Tonstudio ging. Ich hörte seine Stimme gerne. Er fand immer wieder einen zweiten Weg ums Gehirn herum. Und wenn es abseits des selbsterfahrungserprobten Befindlichkeitsgesäusels der Siebziger und Achtziger eine lyrische Stimme gab, die aus einem Liebesdrama ungeheuerliche Gedichte schöpfte, mit der Wucht von John Cales rabenschwärzestem Rockalbum, dann war es Christoph Meckel mit „Souterrain“ und „Säure“. „Nummer Sechs“ auf meiner Liste wäre ein Buch von Robert Gernhardt. Und lassen Sie mich bitte mit Erich Fried in Ruhe!
Günter Becker: Das Ende der Landschafsmalerei (1974)
Christoph Meckel: Souterrain (1984)
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2 (1975)
Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999 (1979)
Ernst Jandl: Der gelbe Hund (1980)