Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2014 19 Jan

Noch ein Ex-Surrealist

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 5 Comments

Im Zettelkasten des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Iiang findet sich zu Aki Kaurismäki wahrscheinlich der Vermerk: zu geschwätzig, zu viel glücklicher Sex. Ming-Iiangs Arbeit „What Time Is It There?“ aus dem Jahr 2001 dürfte einer der sprachlosesten und stillsten Filme der Welt sein. Es geht um eine flüchtige Begegnung und das, was sie auslösen kann, wie sie rätselhafte Synchronizitäten über Zeitzonen hinweg produziert, gestohlene und geschenkte Momente, Magie. Ein Koffer treibt im Gewässer dahin. Und der Blick der Figuren ist immer nach innen gerichtet. Alles beginnt mit einem alten Mann in einer düsteren Wohnung, und bevor wir uns an ihn gewöhnen, finden wir in der nächsten Einstellung schon seine Überreste in einer Urne. Der Sohn des Verstorbenen verkauft auf den Straßen Taiwans billige Uhren, die Frau sucht eine Uhr mit zwei Zeitzonen, sie ist auf dem Weg nach Paris. Und weil ihr die Uhr, die der Verkäufer am Handgelenk trägt, so gut gefällt, drängt sie so lang, bis er ihr die Uhr verkauft. Er hatte gezögert, weil er in Trauer ist und sich dies ungünstig auf die neue Eigentümerin auswirken könnte. Eine sehr asiatische Einstellung, übrigens. Die Frage, die dem Film seinen Titel gibt, what time is it there?, stellt der Uhrenverkäufer bei der Auskunft, und sie bezieht sich auf die Uhrzeit in Paris. Der Mann beginnt damit, alle Uhren auf die mitteleuropäische Zeitzone einzustellen, seine Mutter deutet die Manipulationen der Uhren als bevorstehende Re-Inkarnation ihres verstorbenen Mannes und sie stellt ihr Leben auf die veränderte Uhrzeit ein. Trauer in Taiwan, da sind Verbeugungen, drei Mal, da wird ein Gedeck hingestellt, eine Schale mit geweihtem Wasser, Rituale. Und wer sie nicht mehr aushält, wird, wie überall auf der Welt, aggressiv. Wir wissen nie, in welcher Gestalt die Verlorenen wieder auftauchen. Eine Kakerlake könnte jetzt der zurückgekehrte Vater sein. Oder ist es der einzige Fisch im grotesk beleuchteten Aquarium? Was die Frau in Paris sucht, das können wir nur ahnen. Es gibt keine feste Rollenverteilung. Sie sitzt in Cafés und trinkt Cappuccino, sie trägt ihr Haar jetzt kurz und während der Uhrenverkäufer damit beginnt, nachts französische Filme zu sehen, sitzt schon die Hauptfigur eines der bekanntesten Vertreters der Nouvelle Vague auf einer Parkbank neben der Frau in Paris. Sind wir irgendwann angekommen? Im Zettelkasten von Tsai Ming-Iiang findet sich sicherlich einiges über Truffaut.

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5 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Das dürfte ein spannendes Filmerlebnis werden. Gibt es in der Arthaus-Collection als DVD, sehr preisgünstig.

  2. Henning:

    Da kommt mir gleich die Schwebegestalt von Jean Pierre Léaud in den Sinn, eine Mischung von Flaneur und Traumtänzer. Cinema und Leben, Leben und Cinema. Zum Eintauchen bräucht ich mehr Zeit oder müsste anderes, was mir lieb(er) ist, lassen. Freu ich aber schon jetzt auf Wiedersehen von JP Melvilles LE SAMURAI in zwei Wochen im Filmmuseum hier. Es gibt offensichtlich Rechtestreit um den Film und deswegen ist er selten zu sehen. Was ja nicht schlecht sein muss. Steigernde Verknappung.

  3. Martina:

    Solche Filme gibt es massenhaft in der Videothek meines Vertrauens im Sandweg.

  4. Henning:

    Sehe richtige Filme im richtigen Kino, Martina. Geht auch nicht anders, weil ich kein Heimkino habe. Selbst dvd auf grossem Mac
    ist noch nicht mein Ding.

  5. Martina:

    Ich gehe auch gern ins Kino, aber möglichst nur ins Programmkino oder ins Filmmuseum. Für das Kino gibt es viele gute Argumente: Es ist ein Event, das man auch mal mit anderen teilen kann, und an das man sich wegen allem, was damit zusammenhängt, auch leichter erinnert. Ich gehe aber auch gern allein hin, ist oft sogar intensiver.

    Wichtiges Argument fürs Kino im Unterschied zur DVD: Der Filmstreifen besteht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus schwarzer Farbe, den Leerstellen zwischen den Bildern, die in uns, den Betrachtern, so viel freisetzen können. Die Kraft der nicht gezeigten Bilder.

    Aber ich möchte oft auch Filme sehen, die nicht im Kino laufen oder die ich verpasst habe. Da ist die Videothek meines Vertrauens schon eine hervorragende Inspirationsquelle.
    http://video-city.de/

    Ich habe auch kein Heimkino, sondern schaue dann über den Fernseher. Finde ich absolut ok. Filme im PC zu sehen finde ich auch problematisch.


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