Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2013 25 Aug

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (50)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 6 Comments

Es ist schon ein paar Jahre her, dass Abendland von Michael Köhlmeier veröffentlicht wurde, ich bin erst jetzt dazu gekommen, diesen fast 800-Seiten-Wälzer zu lesen.
 
 
 

 
 
 
Der Erzähler, Sebastian Lukasser, Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt, nach Krebsbefund hat er gerade eine Prostata-OP hinter sich gebracht, wird von seinem fünfundneunzig-jährigem Patenonkel Carl Jacob Candoris gebeten, ihn zu besuchen und sein Leben nachzuerzählen. Sebastian, noch von der OP geschwächt, willigt in das Vorhaben seines engen Freundes ein. Candoris, einst Professor für Mathematik, hatte sich schon in jungen Jahren für Jazz interessiert. Die Musik war es denn auch, die Candoris zum Vater des Erzählers Georg Lukasser führte. Georg Lukasser galt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als das Genie auf der Gitarre. Carl Jacob Candoris wird, nachdem er ihn in Wien während eines Konzertes gehört hatte, zum großen Förderer des Gitarren-Genius. Jetzt spätestens sollte der Leser einen gut sortierten Plattenschrank zur Verfügung haben, denn auf vielen Seiten dieses Buches geht es um nichts anderes als Musik Wir begleiten etwa Carl nach New York, wo er am 19.April 1935 im Apollo Theatre ein legendäres Konzert von Billy Holiday miterleben darf, das sein Leben verändert: „Zweitausend Menschen waren im Saal. Die eine Hälfte hatte Tabak geraucht, die andere Hälfte Marihuana. Ich hätte die Luft anhalten müssen um nicht high zu werden. Duke Ellington dirigierte vom Klavier aus sein Orchester, und Billy Holiday sang. Die beiden wirkten zu dieser Zeit gemeinsam in einem Film draußen für die Paramount Studios in Long Island mit. Mir war nicht im entferntesten klar, was für eine Sensation es war, sie gemeinsam auf einer Bühne zu sehen. Duke Ellington kannte ich natürlich, von Billy Holiday hatte ich noch nie etwas gehört, sie stand ja erst am Beginn ihrer Karriere. Sie trat auf die Bühne, und die Scheinwerfer wurden grün. So ein langsamer Gesang! Sie schleppte sich hinter dem Beat her, jede Betonung verzögerte sie, wurde sogar immer langsamer dabei, sie geriet für mein im Jazz ungeschultes Gehör völlig aus dem Rhythmus, und erst wenn sie den letzten Ton einer Phrase sang, den lange und ohne jede Modulation aushielt, bevor sie ihn in Schwingungen versetzte, erst dann fing sie den Schlag auf und war wieder im Rhythmus angekommen. Mit ihrem letzten Atemzug holte sie sich den Takt zurück. Jedesmal ein Sieg gegen die Verzweiflung, die ja bekanntlich eine Hydra ist.- Und weg war mein Trübsinn! Weg meine Langeweile. Hier wurde mir ein neues Elexier angeboten: Jazz…“… „Eines wurde mir klar, während vorne ein Mensch mit Gesang vorführte, wie der Mensch ist,- nicht, wie er sein soll, und auch nicht, wie er nicht sein soll – , sondern: Wie er ist. Nämlich dieses wurde mir klar: Meine Träume sind abgelaufen. Die Zeit nach dem dreißigsten Lebensjahr verbringt der Mathematiker damit zu beweisen, was ihm davor zugefallen ist. Mit war nichts zugefallen….“
 
 
 

 
 
 
Übrigens auf der liebevoll gestalteten 10CD-Box Lady Day: The Complete Billy Holiday on Columbia 1933-1944 findet sich ein Movie Soundtrack aus dem Astoria, New York vom 12.März 1935 in der Besetzung mit Duke Ellington & His Orchestra.

Die Lebensbeichte des Mathematik-Professors ist natürlich eng verbunden mit der Lebensgeschichte des Jazzgitarristen Georg Lukasser, der wiederum, als der Vater des Erzählers, mit dessen Lebensgeschichte eng verknüpft ist. Und so setzt sich der Roman aus Erzählungen unterschiedlichster Art zusammen, die als ganzes betrachtet, eine kleine Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ergeben. So lesen wir, dass Carl bereits als Achtjähriger bei seinen Tanten in Göttingen Edith Stein kennengelernt hat und erfahren in diesem Buch viel über ihr Schicksal bis hin zu ihrer Ermordung in Auschwitz. So wird uns über die Lebensgeschichte von C.J.Candoris nicht nur viel Interessantes aus dessen Göttinger Studentenzeit und damit viel über Mathematik erzählt, sondern lesen auch darüber, welch entscheidende Rolle Mathematiker und Physiker während des Dritten Reiches bei der Entwicklung der Atomwaffe gespielt haben; begleiten Candoris nach Japan, wo er nach den verheerenden Bombenabwurf der Amerikaner für eben diese gearbeitet hat. Sein Lebensweg mit all seinen Umwegen, Irrtümern, Fehlentscheidungen, aber auch Erfolgen und Höhepunkten erlebt der Leser mit und begleitet den Sterbenden bis zu seiner letzten großen Erzählung: seiner ersten, seiner frühesten Erinnerung als zweijähriges Kind.-
Über den Vater des Erzählers, Georg Lukasser, erfährt der Leser vieles aus der Geschichte des Jazz in Europa und den USA zwischen Nachkriegszeit in Österreich ( Produktion der ersten Platte One Night in Vienna), den fünfziger und sechziger Jahren in den Staaten (z.B. Lukassers Tournee mit Chet Baker), seinem Abschied vom Jazz und seiner Hinwendung zur Neuen Musik bis hin zu seinem Selbstmord 1974.- Schließlich ist es die Lebensgeschichte des Erzählers, über den besonders die siebziger Jahre des vergangen Jahrhunderts wieder lebendig werden. Allen Erzählfäden ist aber eines gemein, hier geht es um etwas, um die Suche nach gelungenem, wahrem Leben…., auch und gerade, wenn man über solche Sätze stolpert, wie sie Abe Fields in den Mund gelegt werden: „….meine Erfahrung legt leider die Vermutung nahe, daß die menschliche Seele nur ein Prinzip kennt, nämlich die Gier, und daß Gerechtigkeit, Milde und Maß mühsam gegen die Seelennatur errichtete Bastionen des Verstandes sind, weswegen der Ratschlag, man solle auch jenseits von rein privaten Angelegenheiten auf sein Herz hören, in meinen Ohren nicht zart und verschwärmt, sondern immer wie eine Kriegserklärung gegen alles Menschliche geklungen hat.“
Oder die, die Carl am Ende seines Lebens spricht, wenn er von den ersten Atombombenversuchen erzählt: „Als Trinity – man beachte den Namen der Bombe – auf der jornada del muerto in der Wüste von New Mexico gezündet wurde – übrigens mitten hinein in das Gequake von Tausenden Wüstenfröschen, die nach dieser stürmischen Regennacht aus ihren Löchern geschlüpft waren, um sich zu paaren – , da gehörte ich zu den zweihundertsechzig Auserwählten, die niederknieten wie Moses vor dem brennenden Dornbusch und den Kopf in den Sand steckten, damit sie nicht vom Blitz geblendet würden.“
 
 
 

 

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6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Dann hast du dieses Werk an der Küste mit den hohen Wellen gelesen? Es steht bei mir im Regal in der Liste der „Bücher, die ich irgendwann mal gerne in Angriff neben möchte“. In einer Reihe mit „Anna Karenina“, „Schweigen über Madrid“, etc. Jetzt wird es weiter vorrücken … diese Zeitreisen locken …

    Alles deutet darauf hin, dass „EINE AMERIKANISCHE NACHT“ von Marisha Pessl mein Buch des Jahres wird. Und endlich wird hierzulande Christopher Brookmyre entdeckt. Die Übersetzung von THE SACRED ART OF STEALING ist wunderbar. Ein wunderbarer, im wahren Sinne des Wortes, wunderbarer Roman, ist Thomas Glavinic gelungen, mit seinem jüngsten Werk.

  2. Michael Engelbrecht:

    So ähnlich wie auf dem Cover des Romans habe ich Scott Walker auch fotografiert, eben abgewendet, mit Blick aufs Meer, nicht auf die Kamera …

  3. Jochen:

    Im Fluchtpunkt des Fotos führt die Allee auf den Botanischen Garten zu. Dort sitzt er manchmal auf den Stufen vor der Eingangstür des Bibliotheksgebäudes und schaut geradewegs die andere Richtung runter. Touristen, die das Schlossareal besuchen, Fahrradfahrer, Kinder, Strassenbahn … – im Sommer bietet sich ein buntes Treiben. An einem Sommersonntag auch hielt er dort kurze Rast. Eine Joggerin rannte die Stufen von der Strasse hinauf direkt auf ihn zu, tippte mit ihrer linken Hand kurz auf die Türklinke neben seinem rechten Ohr, drehte dann postwendend, wortlos und mit leicht keuchendem Atem wieder ab. Das Ziel war ihr Weg gewesen (vielleicht in neuer Bestzeit?) – doch der war selten so an der Schnur gezogen wie in Herrenhausen.

  4. Michael Engelbrecht:

    Uwe Meilchen schickte mir einen Text über die Dinge, die ein andererer Grosser des Jazz heute so macht: Sonny Rollins. Und dabei geht der Blick zurück einmal nach Jamaica, und einmal auch zu Lady Day.

    „To me, jazz has always been about politics,“ Sonny said. „You can read philosophy – and, believe me, I have – but no matter what you do, you can’t take the music out of life in the street.“ This was why Harlem in the 1930s and ’40s was such a special place, Sonny said, fondly recalling when his grandmother used to take him on marches down Lenox Avenue. „She was from the islands and was a Garveyite,“ Sonny said, alluding to Jamaican-born Pan-Africanist and prophet of the Rastafarian movement Marcus Garvey, who envisioned the „Black Star Line,“ a flotilla of ships that would take the stranded Negro multitudes back to the motherland where they belonged. „I’d walk down the street holding my granny’s hand, chanting, ‚Free Tom Mooney and the Scottsboro Boys!‘ I couldn’t have been more than eight,“ Sonny recalled. A couple years later, like a number of Harlem youths, he was sent to the leftist Camp Unity in Wingdale, New York, which billed itself as America’s „first proletarian summer colony.“ One of Sonny’s camp counselors was Abel Meeropol, who would later adopt the orphaned children of the executed Rosenbergs and write the lyrics for the wrenching anti-lynching song „Strange Fruit.“

    „Later on, when I first heard Billie Holiday sing that song, it really tore me up,“ said Sonny, adding that he and Lady Day „were close, you know.“

  5. Gregor:

    “To me, jazz has always been about politics,” Sonny said. “You can read philosophy – and, believe me, I have – but no matter what you do, you can’t take the music out of life in the street.” Dem ist nichts hinzuzufügen. Danke für dieses Zitat, lieber Michael. Und Jochen: Naja, das war ja klar, dass du mit scharfem Blick gleich den Ort des Bildes erkannt hast: Die Herrenhäuser Gärten! Das Bild entstand im April dieses Jahres.

  6. Michael Engelbrecht:

    Ich kenne diese Gärten ja gar nicht, denke aber beim Lesen (Herrenhäuser) gleich an Herrndorf, einen meiner „Lieblinge“, der sich nach dieser endlosen Tortur, die er mit seinem Gehirn erlebte, diesem mörderischen Trip, das Leben nahm.


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